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Der Grundkonsens ist bereits zerbrochen

Herrschaftsstrukturen und die gegenwärtige Staatskrise im Iran*

Said Hosseini

Seit dem 12. Juni des letzten Jahres, dem Tag der manipulierten Präsidentschaftswahl, kommen die iranischen Straßen nicht zur Ruhe. Orientiert an offiziellen Fest- und Feiertagen historischen oder religiösen Ursprungs nutzen demonstrierende Frauen und Männer die Möglichkeit, im Windschatten offizieller Massenveranstaltungen gegen das Regime zu protestieren. Am 26. und 27. Dezember des letzten Jahres gingen wieder mal Zehntausende auf die Straße. So waren Teheran und einige andere Städte erneut Zeugen der blutigen Zusammenstöße zwischen den Protestierenden und den Spezialeinheiten der »Wächterarmee« (sepah) und der »Milizen« (basidsch). Es gab zahlreiche Verhaftungen und nach offiziellen Angaben acht tote Demonstranten.

Die Proteste am 26. und 27. Dezember zeigten deutlicher als zuvor, dass die Konfrontation immer radikalere Züge annimmt. Das bisherige Gebot, gewaltfrei zu protestieren und sich nicht vom brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte provozieren zu lassen, schlug in Gegenangriffe von Seiten vieler Demonstranten um. Sicherheitskräfte wurden direkt angegriffen, entwaffnet und ihre Motorräder in Brand gesetzt. Auf den Demonstrationen waren häufiger als zuvor auch die Parolen »Tod dem Chamenei«, »Nieder mit dem tyrannischen Staat« zu hören. Die Proteste an diesen beiden Tagen waren aber auch aus einem anderen Grund symbolträchtig und bedeutungsvoll. Denn sie fanden an den heiligsten Festtagen der Schiiten statt, dem »Neunten« (tasua) und dem »Zehnten« (aschura) Tag des Moharrams, des ersten Monats des islamischen Jahres. An diesen Tagen im Jahr 680 n.u.Z. zog Hussein, der Enkelsohn des Propheten, mit einem kleinen Schar von Anhängern von Medina in Richtung der Stadt Kufa, um dort zusammen mit den Aufständischen gegen die Herrschaft des Omayyadenkalifen Yazid zu kämpfen, eine Herrschaft, die sich längst in eine Monarchie verwandelt hatte. Hussein wollte damit auch den Machtanspruch seiner Familie als Nachkommen des Propheten zur Geltung bringen. Mit Husseins Tod am Aschura-Tag in Kerbla (im heutigen Irak) nahm dieser Kampf schließlich ein tragisches Ende an. Für Schiiten symbolisiert der »Märtyrertod« Husseins bzw. die Aschura-Tragödie den ewigen und berechtigten Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Der schiitische Islam verdankt seine Konstitution der Formalisierung dieser Tragödie. Im 20. Jahrhundert lieferte sie »dem politischen Islam« die historische und theologische Grundlage. Die islamische Republik sieht sich ideologisch in der freiheitlichen und gerechten Tradition von »Imam Hussein«. Die Proteste am 26. und 27. Dezember kamen daher einer Entlarvung des Regimes als freiheits- und gerechtigkeitsfeindlich gleich.

Das islamische Regime steckt in einer tiefen Krise. Längst geben es einige ehemalige und gegenwärtige Repräsentanten des Regimes zu. Rafsandschani, der Vorsitzende des »Schlichterrats« und der »Expertenversammlung« bezeichnete die gegenwärtige Situation als krisenhaft und warnte die Machthaber vor der immer tiefer werden Kluft zwischen dem Volk und dem islamischen System. Der am 20. Dezember 2009 gestorbene Großayatollah Montazeri hat in seinem letzten »Rechtsgutachten« (fetwa) vom 10. Juli erklärt, dass eine Herrschaft, die ihre Macht durch Unterdrückung, Freiheitsberaubung und Manipulation ausübe, sowohl nach islamischem Recht als auch aus Gründen der Vernunft »wertlos« und damit illegitim sei.1 Der Riss im bestehenden System war noch nie so tief und die Worte noch nie so deutlich.

Die gegenwärtige Krise ist die Krise der bestehenden Strukturen. Ein Großteil der Analysen beschäftigt sich aber immer noch mit den unmittelbaren Ereignissen in Iran und bleibt folglich auf der Oberfläche des gegenwärtigen Konflikts. Oft wird dabei die Herrschaftsorganisation in Iran und ihre strukturellen Grundlagen vernachlässigt.

I.

Der iranische Staat ist ein Rentierstaat. Die jährlichen Einkünfte in Milliardenhöhe aus dem Erdöl- und Erdgasexport bilden hier zwar nicht die einzige, aber die wohl wichtigste ökonomische wie auch strategische Einnahmequelle des Staates. Die Aneignung dieser monopolistischen Renditen macht ihn ökonomisch relativ autonom. Die Renditen geben ihm weitgehende materielle Möglichkeiten für die Gründung sozialstaatlicher Institutionen an die Hand, um dadurch über Jahrzehnte klientelistische Patronageverhältnisse aufzubauen. Dies ermöglicht es, ein autoritäres, diktatorisches System auszubauen und aufrechtzuerhalten.

An diesen Grundstrukturen, worauf die Bestands- und Reproduktionsfähigkeiten des Rentierstaates zurückgehen, hat sich auch nach der iranischen Revolution 1979 nichts Wesentliches geändert. Nach wie vor bestimmt der Zugang zu und die Aneignung von staatlichen Ressourcen die Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Machteliten. Die Trennung von Politik und Ökonomie ist hier nicht voll entfaltet. Nach wie vor leidet der Staat im Iran unter einem strukturellen Widerspruch: Einerseits berücksichtigt er die Sonderinteressen der konkurrierenden Machteliten, indem er ihnen vielfältige Reproduktionsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, und zugleich erklärt der Staat auch die Allgemeininteressen seiner BürgerInnen zu vertreten.

Trotz der Kontinuität dieser Grundstrukturen unterscheidet sich der nachrevolutionäre Staat im Hinblick darauf, wie er organisiert ist, wie er agiert, von jenem der Schah-Zeit:

Erstens wurde der alte Staat zwar von der islamischen Anti-Schah-Opposition beerbt, aber die neuen Machthaber waren damals wie heute kein monolithischer Block. Gegenüber den Staats- und Machteliten unter dem Schah-Regime sind diese heute weitaus heterogener; sowohl hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft, der Stärke ihres sozialen Rückhalts und des Einflusses auf die neuen Funktionseliten, als auch in Bezug auf ihre materiellen Interessen und ihre ideologischen wie politischen Gesellschaftsvorstellungen. Einig waren und sind sich die konkurrierenden Machteliten auch heute darüber, dass sie die einzigen legitimen Erben der »islamischen Revolution« seien. Sie hielten an der Aufrichtung eines »islamischen Staates« und an der Herstellung »einer gerechten islamischen Gesellschaft« nach dem politischen Islam chomeinischer Prägung als ihr »heiligstes Ziel« fest. Jedoch an der Frage, wie es zu verwirklichen sei, welche konkrete Gestalt ein islamischer Staat und eine islamische Gesellschaft haben oder annehmen dürfe, schieden sich auch damals die Geister.

Zweitens ging aus dieser historischen Konstellation und dem damit verbundenen Aushandlungsprozess zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen nach der iranischen Revolution eine politische und ökonomische Ordnung hervor, die zwei unterschiedliche, ja unversöhnliche Prinzipien bis zum heutigen Tag miteinander zu versöhnen sucht, nämlich das hierokratisch-theokratische mit dem republikanischen Prinzip, sowie Elemente des staatsozialistischen mit dem kapitalistischen Prinzip.

Das hierokratisch-theokratische Prinzip der islamischen Republik drückt sich in der »Herrschaft des religiösen Rechtsgelehrten« (welayat-e faqih) aus. Ein Konstrukt des politischen Islams Ayatollah Chomeinis. Die Herrschaft des religiösen Rechtsgelehrten gründet ihre Legitimation auf den Grundsätzen des schiitischen Islams (osuol-e din), besonders auf dessen »Führerprinzip« (assl-e emamat). Der religiöse Führer – damals Chomeini, heute Chamenei – als der oberste religiöse Rechtsgelehrte fungiert in dieser Staatsform als Stellvertreter beziehungsweise Statthalter des verborgenen Imam Mahdi, des zwölften Imams der Schiiten. Laut Artikel 57 und 110 kontrolliert er alle drei Gewalten und bestimmt die Richtlinien der Politik des Landes. Als Oberbefehlshaber aller Streitkräfte des Landes entscheidet er über Krieg und Frieden, unter anderem über die Besetzung der Posten des Generalstabschefs, des Oberkommandierenden und der Führungsposten der militärischen und geheimdienstlichen Organe. Er ernennt den Chef der Justiz, sechs Mitglieder des zwölfköpfigen »Wächterrats« und alle ständigen Mitglieder des »Schlichterrats« – beide Gremien gelten als die mächtigsten Entscheidungsorgane der islamischen Republik. Der religiöse Führer ist auch befugt, den gewählten Staatspräsidenten zu entlassen. Er kann sich über die Verfassung und sogar über die Bestimmungen des islamischen Rechtes (feqh) und der islamischen Gesetze (scharia) hinwegsetzen, insofern deren Anwendung unter bestimmten Umständen dem Interesse des islamischen Staates widerspricht. Die enorme Machtfülle des religiösen Führers und der durch ihn ernannten Institutionen steht den Gremien, die direkt vom Volk gewählt werden, entgegen: der Regierung, dem Parlament und der »Expertenversammlung«. Der letzteren kommt formal die Aufgabe zu, den religiösen Führer unter bestimmten Bedingungen aus- oder gar abzuwählen. In der Realität sieht dies oft anders aus.

Wie die politische Ordnung der islamischen Republik stellt auch deren ökonomische ein Mischsystem dar. Laut Verfassungsartikel 44 besteht dieses System aus drei Sektoren: aus dem staatlichen, dem privaten und dem genossenschaftlichen Sektor. Damit werden in diesem ökonomischen System auch drei entsprechende Eigentumsformen anerkannt. Das Verhältnis der drei Sektoren zueinander wird in der iranischen Verfassung zwar definiert, ist aber, wie übrigens viele Artikel, vieldeutig und ungenau. Bis heute hat dieses Mischsystem den Anspruch, zwei Ziele zu erreichen, nämlich die »ökonomische Eigenständigkeit« und den »sozialen Wohlstand«. Letzterer soll durch eine gerechte Umverteilung realisiert werden, ohne die bestehenden Produktionsverhältnisse als deren materielle Grundlage anzutasten.

Die strukturellen Widersprüche im politischen und ökonomischen System der islamischen Republik sind weder äußerliche noch nur von ideologischer Natur. Sie gehen historisch aus den gesellschaftlichen Verhältnissen Irans vor der Revolution hervor. Sie implizieren somit auch die gegensätzlichen Interessen und Gesellschaftsvorstellungen eines großen Teils der an der iranischen Revolution beteiligten sozialen Gruppen sowie der politischen wie ideologischen Strömungen. Sie spielen bis heute in den machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Strömungen innerhalb der Machteliten ebenso eine bestimmende Rolle, wie in den Kämpfen der benachteiligten sozialen Schichten gegen jene Strukturen. Zentral ist für diese Auseinandersetzungen, auch nach dreißig Jahren, die Frage nach dem Verhältnis der gegensätzlichen Prinzipien im politischen und ökonomischen System der islamischen Republik, oder noch genauer ausgedrückt, die Frage nach dem Verhältnis der damit verbundenen Institutionen und Eigentumsformen zueinander. In diesen Kämpfen wird, je nach Interessenlagen und Kräfteverhältnissen, je nach sozialem und politischem Druck von Unten und je nach Stand der politischen Konstellationen eine Seite des Widerspruchs hervorgehoben und gegen die andere Seite gestellt. So berufen sich zum Beispiel beim jetzigen Konflikt Mussawi und Karrubi – übrigens im Einklang mit den Protestierenden – auf das republikanische Prinzip der islamischen Republik und klagen die Machtfülle des religiösen Führers Chamenei an.

Drittens wurde vom nachrevolutionären Staat, im direkten Zusammenhang mit dem sozial-islamischen Anspruch jenes ökonomischen Systems eine vierte Eigentumsform, nämlich das sogenannte »öffentliche Eigentum« (beitol-mal), eingeführt und ein Großteil der enteigneten Fabriken, Immobilen, Banken, Ländereien, Firmen und Handelsgesellschaften zu solchem erklärt. Gemäß des »islamischen Rechtes« (feqh) gehört das öffentliche Eigentum weder dem Staat, selbst wenn er ein islamischer ist, noch Privatpersonen, sondern allein der islamischen Gemeinschaft (ommat). Das öffentliche Eigentum darf hauptsächlich für die Erhaltung der religiösen Institutionen und für karitative Zwecke verwendet, sowie allein durch Stiftungen (Bonyad-ha) verwaltet werden. Das Stiftungswesen hat im Iran eine lange Tradition. Die neuen Stiftungen sind allerdings eher eine säkularisierte Form der alten religiösen Stiftungen (oqaaf). Es ist z.B. nicht mehr nötig, an ihre Spitze unbedingt einen religiösen Würdenträger oder einen Geistlichen zu stellen. Ihr Vermögen ist auch nicht mehr einem Heiligen – das heißt einem Imamen und dessen Nachfahren – gewidmet. Damit sind sie auch nicht mehr nur der Region in der dieser bestattet wurde verpflichtet. Die Stiftungen unterliegen keiner staatlichen Aufsicht, keiner Rechenschaftsverpflichtung oder sonstigen Regelungen. Sie sind von Zollabgaben und staatlichen Steuern befreit und durch zinsgünstige Kredite und den privilegierten Zugang zu staatlichen Ressourcen begünstigt.

Die Einführung des sogenannten öffentlichen Eigentums und die Erklärung der enteigneten Güter zu solchem sind insofern wichtig, weil damit eine zweite Einkunftsquelle und folglich auch eine weitere materielle Reproduktionsmöglichkeit für die konkurrierenden Strömungen entstanden ist. Denn, wenn diese konkurrierenden Machteliten ihre Stellung in den bestehenden Machtverhältnissen festigen, ihre materielle Reproduktion sichern, ihre auch sozialen wie ideologischen Einflussmöglichkeiten ausweiten wollen, gilt es für sie als dringend notwendig, auch einen Großteil der sogenannten öffentlichen Einnahmequellen unter ihre Kontrolle zu bringen. Auf diese Bestrebungen, die nichts anderes als Verteilungskämpfe zwischen den konkurrierenden Machtleiten darstellen, geht ebenso die Entstehung zahlreicher Institutionen, Einrichtungen, Gremien und Verbände im staatlichen Apparat und in seinem Umfeld in den letzten drei Jahrzehnten zurück, wie die Gründung von Stiftungen, halbstaatlichen Firmen und Gesellschaften. Über die Anzahl solcher Einrichtungen, die im Iran zu Recht »Parallelinstitutionen« (nahad-hye mowasie) genannt werden, gibt es keine genauen Angaben. Geschätzt wird die Anzahl der Stiftungen inzwischen etwa auf 130 bis 140 und sie eignen sich vermutlich 30 bis 40 Prozent des jährlich erwirtschafteten Gewinns der iranischen Volkswirtschaft an.2

II.

Strukturelle Widersprüche dieser Art, die das Wesen der islamischen Republik ausmachen, haben über die drei Jahrzehnte ein System etabliert, das sich trotz vieler struktureller Gemeinsamkeiten, dennoch von einem »klassischen« Rentierstaat unterscheidet.

Zum einen entscheidet in der islamischen Republik real nicht nur ein einziges Machtzentrum über die Politik des Landes, sondern gleich mehrere. Gleichgültig, wer gerade die Regierungsmacht innehat, ist der Staat auf Zustimmung und Kooperation angewiesen, will er sein Gewaltmonopol ausüben und von seiner Entscheidungsmacht Gebrauch machen. Die Machtzentren fungieren als Staat im Staate. Zum anderen ist der Staat nicht mehr der einzige Akteur, der in der iranischen Ökonomie autonom agiert, und ferner ist er auch nicht mehr der einzige Patron und soziale Wohltäter im Lande. Denn die Machtzentren sind, dank der gelungenen Kontrolle über den Großteil der staatlichen Ressourcen und über das sogenannte öffentliche Eigentum, zugleich die ökonomischen Mächte des Landes. Mit ihren zahlreichen Stiftungen, Firmen, Verbänden und ihrer Monopolstellung in der iranischen Ökonomie können sie jenseits der staatlichen und privaten Sektoren ziemlich autonom agieren. Sie sind ökonomisch in der Lage u.a. auch über Verwandtschaften, regionale Gefolgschaften und Gesinnungsgenossen, eine eigene Klientel aus den mittleren wie auch unteren sozialen Schichten zu gewinnen. Diese ist zwar zahlenmäßig nicht so groß, wie die klassische Staatsklientel, aber ein Großteil von ihnen ist für politische Zwecke und Agitationen leicht mobilisierbar.

Das System geht von einem Grundkonsens aus, wonach unterschiedliche Interpretationen und gegensätzliche Interessen anerkannt werden, insofern diese die ideologischen und politischen Grundprinzipien der islamischen Republik – vor allem die Herrschaft des religiösen Rechtsgelehrten – weder theoretisch noch praktisch in Frage stellen und folglich den Fortbestand der ökonomischen wie machtpolitischen Strukturen nicht bedrohen. Darauf basiert die gegenseitige Verbundenheit wie auch Abhängigkeit aller konkurrierenden Strömungen des Regimes – mögen sie »Rechtskonservative«, »gemäßigte Konservative« oder »Reformer« heißen. Charakteristisch ist für dieses System daher das Vorhandensein eines freilich nicht demokratischen, sondern vielmehr »geschlossenen Pluralismus«, der zwischen den »Vertrauten« (chodi-ha) und den »Nicht-Vertrauten« (qeire-chodi-ha) scharf unterscheidet. Charakteristisch ist auch für dieses System, dass die puren machtpolitischen oder rein ökonomischen Interessen nicht allein die Machtkämpfe und Fraktionierungen unter den herrschenden Eliten bestimmen. Auch ihre politischen und ideologischen Überzeugungen, in denen ihre unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen explizit zum Ausdruck kommen, spielen eine wichtige Rolle.

Funktionstüchtig ist dieses System nur, wenn der Grundkonsens von allen Kontrahenten akzeptiert wird und dementsprechend ein relatives Kräftegleichgewicht zwischen verschiedenen Machtzentren herrscht. Dies wird durch ein ungeschriebenes Gesetz gewährleistet, demzufolge jede Strömung das erhalten solle, was ihr nach ihrer sozialen wie politischen Gewichtung, nach den realen Kräfteverhältnissen zustehe. In diesem System handeln die konkurrierenden Machteliten nach dem »Nehmen-Geben-Prinzip«. Deals, Zugeständnisse, Konsensbildung, wechselhafte Koalitionen und vorübergehende Bündnisse gelten hier als lebensnotwendige Instrumente zur Herstellung des Kräftegleichgewichts und zur Sicherung der jeweils eigenen sozialen, ökonomischen wie politischen Machtstellung.

Wenn auch die konkurrierenden Strömungen den sogenannten Pluralismus der islamischen Republik durch den Rückgriff auf die polyzentrische Tradition im schiitischen Islam zu legitimieren suchen und ihn somit für eine quasi von Gott gegebene, überhistorische Form der Machtbeteiligung und Machtausübung halten, unterliegt dieser Pluralismus, und damit auch das »Nehmen-Geben-Prinzip«, den machtpolitischen Bedingungen. Denn der »Pluralismus« der islamischen Republik kann leicht an seine Grenzen stoßen: zum Beispiel wenn eine Gruppierung ihren Machtanspruch geltend macht und den Großteil der staatlichen und öffentlichen Ressourcen unter ihre Kontrolle bringt; oder wenn es der unterlegenen Fraktion gelingt, soziale und politische Unzufriedenheit für ihre Zwecke zu organisieren bzw. zu kanalisieren; oder aber wenn soziale Auseinandersetzungen selbst einen Grad erreichen, an dem es den herrschenden Eliten unmöglich wird, die Politik des Landes wie bisher zu lenken. Dann funktioniert das »Nehmen-und-Geben-Prinzip« und die altbewährten Instrumente nicht mehr. Das Gleichgewicht zwischen den Machtzentren gerät damit aus den Fugen. Spaltungen, neue Formierungen und Bündnisse werden unvermeidlich und sogar wieder notwendig.

In solchen Situationen werden diejenigen Strömungen des Regimes, die bis vor kurzem dem Kreis der »Vertrauten« angehörten, plötzlich zu Feinden der islamischen Republik erklärt und aus dem Staatsapparat ausgeschlossen – das aktuelle Beispiel dafür ist der Schauprozess gegen namhafte Vertreter der Reformer, die Baumeister der ersten Stunde des islamischen Regimes waren.

III.

Diese Situation ist bereits in ihrer bisher schärfsten Form eingetreten. Sie ist durch einen Riss in den bestehenden Machtstrukturen gekennzeichnet. Ihren Anfang fand sie aber nicht in den Ereignissen nach der Präsidentschaftswahl im Juni des letzten Jahres, sondern in den machtpolitischen Veränderungen nach der Parlamentswahl im Februar 2004, als die Rechtskonservativen die absolute Mehrheit im Parlament erreicht und mit dem spektakulären Wahlsieg Ahmadinedschads bei der Präsidentschaftswahl im Juni 2005 auch noch das Regierungsamt übernommen hatten.

Die rechtskonservative Strömung – etwa 14 Gruppen – bezeichnet sich selbst als »Grundsatztreue« (osulgarayan). Zu ihrer ultrarechten Fraktion gehören zwar einige kleine islamistische Gruppierungen wie die »Helfer der Partei Gottes« (ansar-e hezbollah) um den umstrittenen Staatspräsidenten Ahmadinedschad. Aber die wichtigste und mächtigste Organisation dieser Fraktion ist die »Wächterarmee der islamischen Revolution« (sepah-e pasdaran) – bekannt auch als Revolutionswächter. Sie agiert in der Politik durch ihre sog »ehemaligen Funktionäre«. Die ultrarechte Fraktion ist Chameneis wichtigste Machtstütze. Zur rechtskonservativen Strömung gehören auch Teile der Technokraten um die »Vereinigung islamischer Ingenieure«, ein Großteil der einflussreichen Großhändler – auch aus dem Bazar – um die »Partei der vereinigten islamischen Gemeinschaften« (hezbe motalefeh), einige Gruppierungen um die ehemaligen Oberbefehlshaber der Wächterarmee Mohssen Rezai und Mohammadbagher Gahlibaf und den Parlamentspräsidenten Ali Laridschani. Diese gelten als gemäßigte bzw. pragmatische Fraktion der Rechtskonservativen.

Wenn es auch unter den Rechtskonservativen keine wirklich einheitliche Auffassung über die sozioökonomische Gestaltung der iranischen Gesellschaft oder über die Rolle des Staates in der Ökonomie, besonders im Zusammenhang mit der Umverteilungsfrage gibt, lehnt keine ihrer Fraktionen kapitalistische Verwertungsformen sowie die freie Marktwirtschaft strikt ab. Auch beabsichtigen sie nicht eine Art von islamischem »Staatssozialismus« im Iran herzustellen, wie ihre Kontrahenten behaupten. Was die rechtskonservativen Fraktionen trotz aller politischer und ideologischer Differenzen eint, ist einmal ihre antiwestliche Haltung, die als Kampf gegen die »kulturelle Entfremdung« und die »Fremdbestimmung« geführt wird, was manche dogmatisch traditionalistischen Linken hier zu Lande als »antiimperialistischen Kampf« verstehen. Dass die außenpolitischen Verhältnisse eines Landes isoliert von den innenpolitischen Machtverhältnissen nicht zu erklären sind, ist inzwischen eine Weltweisheit. Sie gilt auch für Iran. Die außenpolitische Öffnung in Richtung Westen und die engere Bindung an den hierarchisch organisierten Weltmarkt bedeuten für die Rechtskonservativen u. a. die Verschärfung der Konkurrenz, den Verlust ihrer unzähligen Privilegien sowie ihrer Monopolstellung in der iranischen Ökonomie. Es ist daher auch kein Wunder, dass die Wächterarmee, die inzwischen zur drittgrößten Unternehmerin des Landes aufgestiegen ist, als eine der Hauptverfechter des antiwestlichen Kurses gilt. Dem sog. »Antiimperialismus» der Rechtskonservativen geht es also nicht um die Selbstbestimmung des Landes, wie sie es propagieren, sondern um ihren Machterhalt und ihre Selbstbereicherung. Was darüber hinaus die Rechtskonservativen eint, sind schließlich ihr antidemokratisches Staatsverständnis und ihre autoritäre Gesellschaftsauffassung. Ihre ultrarechte Fraktion strebt einen »islamischen Staat» im Sinne einer konsequenten hierokratisch-theokratischen Staatsform an, an deren Spitze ein religiöser Rechtsgelehrter oder ein religiöser Führer steht. Die Volkssouveränität und somit die sich durch republikanische Prinzipien legitimierenden Institutionen haben hier keinen Platz. Ein islamischer Staat, so die ultrarechten Ideologie, habe die heiligste Aufgabe, die baldige Rückkehr des verborgenen Imam Mahdi vorzubereiten. Der reaktionäre Ayatollah Mesbah Jazdi, Ahmadinedschads Ziehvater, ist einer der bekanntesten Verfechter jener Staatskonzeption. Folgt man der Auffassung ihrer gemäßigten Fraktionen, dürfen die gewählten Institutionen weiter existieren, insofern diese sich der Macht des religiösen Führers und den von ihm ernannten Institutionen unterordnen. Der Volkswille hat für alle Fraktionen der Rechtskonservativen keine legitimierende Stellung, sondern im besten Fall eine ergänzende, ja nachlegitimierende Funktion.

Für die Rechtskonservativen war die Regierungsübernahme Ahmadinedschads im Juni 2005 im wahrsten Sinne des Wortes eine triumphale Rückkehr an die Macht. Damit begann eine Verschiebung in den bestehenden Machtstrukturen. Die politischen wie ökonomischen Einflusssphären der konkurrierenden Strömungen mussten sich folglich den neuen Kräfteverhältnissen anpassen. Kaum hatte die Regierung ihre Arbeit aufgenommen, setzte sie alles daran, ihre Rivalen, die gemäßigten Konservativen um Rafsandschani und die Reformer um Chatami und Karrubi, nicht nur von den Regierungsposten zu entfernen, sondern so weit wie möglich auch von allen staatlichen und halbstaatlichen Organen und Ressorts auf den regionalen und überregionalen Ebenen.

Eine solche aggressive Entlassungswelle hatte die islamische Republik bis dahin nicht erlebt. Zugleich begann unter ihnen auch eine regelrechte Aufteilung der wirtschaftlichen Sektoren und Ressourcen des Landes. Mit der Parole »Kampf gegen die mafiosen Strukturen und Machenschaften« drangen sie in die ökonomischen Domänen ihrer Kontrahenten ein und schränkten somit nun auch deren ökonomische Einflusssphäre ein. Vom »staatlichen Kuchen« bekam freilich diejenige Fraktion ein großes Stück, die unter den Rechtskonservativen am stärksten war und immer noch ist, nämlich die ultrarechte Fraktion, genauer die Wächterarmee. Diese gilt daher als Hauptgewinnerin jenes Machtwechsels.3

Die Ausweitung ihrer politischen und ökonomischen Macht gelang der ultrarechten Fraktion nicht nur durch die allmähliche Verdrängung der gemäßigten Konservativen und Reformer. Die Verteilungskämpfe und die damit einhergehenden politischen und ideologischen Auseinandersetzungen fanden zugleich unter den rechtskonservativen Fraktionen und Gruppierungen statt. Die internen Machtkämpfe spitzten sich während der letzten vier Jahre immer mehr zu und führten schließlich zur weiteren Spaltung der Rechtskonservativen. Die »vernachlässigten« Teile von ihnen – meist aus den gemäßigten Fraktionen der Rechtskonservativen – näherten sich den Regierungskritikern aus dem Lager der gemäßigten Konservativen an. Daher haben nicht nur die gemäßigten Konservativen und Reformer in den letzten Jahren einen erheblichen Machtverlust erlebt, auch einige rechtskonservative Gruppen wurden nach der anfänglichen Teilhabe an den Ressourcen wieder von der Macht verdrängt.

Der Aufstieg der Rechtskonservativen blieb für die Klerikerkaste als eine der wesentlichen Säulen der islamischen Republik nicht folgenlos. Ausgerechnet die ultrarechte Fraktion als eine überzeugte Verfechterin eines hierokratisch-theokratischen Staates hat unter anderem antiklerikale Haltungen der breiten Bevölkerungsschichten für ihre Zwecke instrumentalisiert. Sie beabsichtigten damit, bestimmte Kleriker aus den vielen Entscheidungs- und Beratungsinstanzen zu verdrängen. Jene Kleriker nämlich, die stets das chomeinische Staatskonzept aus einem quietistisch-traditionellen Islamverständnis heraus abgelehnt hatten oder von einer reformerischen Position her die Macht des religiösen Führers stark einschränken wollten. Die aktive klerikale Machtbasis Chameneis und damit der Rechtskonservativen beschränkt sich überwiegend auf den Wächterrat, ebenso auf einige Dutzende von konservativen Ajatollahs im Expertenrat, sowie auf ein landesweites Netz von Freitagspredigern, die von ihm direkt ernannt werden, ferner auf seine geistlichen Vertreter in den staatlichen und halbstaatlichen Einrichtungen und Ämtern.

Den Rechtskonservativen ist es in den letzten vier Jahren gelungen, den Staatsapparat und somit die drei Staatsgewalten weitgehend unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Machtverhältnisse haben sich somit zur ihren Gunsten, besonders zugunsten ihrer ultrarechten Fraktion, genauer der Wächterarmee verschoben. An dieser Tatsache ändert sich nichts, auch wenn einige Bürokraten und bedeutende Personen aus dem Lager der gemäßigten Konservativen und Reformer wie Rafsandschani und Mussawi noch in einigen wichtigen Organen des Regimes, zum Beispiel im Schlichterrat, Expertenrat und in dem »höchsten Rat für nationale Sicherheit« sitzen.

IV.

Mit einer solchen Machtkonzentration in den Händen nur einer einzigen Strömung ist der Grundkonsens über die politische wie ökonomische Machtverteilung bereits zerbrochen. Dieser Grundkonsens hat bisher ein relatives Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden Machtzentren sowie Strömungen des Regimes ermöglicht und somit mittels eines geschlossenen Pluralismus das Verhältnis der Machteliten zueinander geregelt. Nach den jüngsten Ereignissen im Iran ist der Riss jedoch noch tiefer geworden. Er geht quer durch fast alle Fraktionen und Flügel der herrschenden Eliten. Das macht die momentane Krise noch komplizierter und somit eine endgültige Antwort auf die Frage noch schwieriger, ob es die konkurrierenden Strömungen trotz alledem schaffen, die Krise durch die Wiederherstellung der Verhältnisse zu beheben, die einige Jahre zuvor die Machtstrukturen im Iran noch bestimmt hatten.

Festzustellen ist dennoch zunächst, dass sie sich alle trotz ihrer Interessengegensätze und ernsthaften politischen wie ideologischen Differenzen über den Fortbestand des Systems der islamischen Republik einig sind. Ebenso ist festzustellen, dass weder die Rechtskonservativen ihren strategischen Wunsch oder ihren »Plan«, das Land künftig und auf Dauer allein im Stile einer »Einheitspartei« zu regieren, bis jetzt realisieren konnten, noch die gemäßigten Konservativen und ein großer Teil der Reformer eine grundlegend demokratische Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse wollen. Diese Momente machen eine Annäherung oder gar Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts zwischen den herrschenden Eliten zwar theoretisch notwendig, jedoch praktisch nicht leicht möglich. Der Demokratisierungsprozess der iranischen Gesellschaft scheint mit den gegenwärtigen oppositionellen Regungen eine Qualität erreicht zu haben, die es den regierenden Rechtskonservativen auf Dauer schwer macht, diesen zurückzudrängen, noch können ihre Kontrahenten, besonders die Reformer, diesem durch ihre bisher inkonsequente Haltung ideologische oder politische Grenzen setzen.

Die ultrarechte Fraktion – um die Wächterarmee und den Staatspräsidenten Ahmadinedschad – beharrt weiterhin auf ihrem konfrontativen Kurs. Dies legt die Vermutung nahe, dass diese Fraktion nicht nur eine völlige Entmachtung der Reformer, folglich deren endgültige Vertreibung aus dem Staatsapparat beabsichtigt, sondern auch die Entmachtung eines Teils der gemäßigten Konservativen. Zu beobachten ist aber, dass die gemäßigte Fraktion der Rechtskonservativen trotzt der Verschärfung des Konflikts noch nicht bereit ist, diesen Schritt ganz mitzumachen, vor allem wenn es um die Entmachtung der gemäßigten Konservativen um Rafsandschani geht. Einige Gründe für diese Haltung sind einmal die oben erwähnten Interessengegensätze zwischen ihnen und ihren ultrarechten Gesinnungsgenossen und somit die Meinungsverschiedenheiten über die Einschätzung der gegenwärtigen Krise. Auch die wiederholte Bereitschaft Rafsandschanis, die Autorität Chameneis wieder anzuerkennen, was eine eindeutige Distanzierung von seiner früheren Position darstellt,4 bilden weitere Gründe für die gemäßigten Rechtskonservativen, den Konflikt möglich nicht weiter zügellos eskalieren zu lassen. Theoretisch können die gemäßigten Kräfte aus den beiden verfeindeten Lagern für die Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts eine sehr wichtige Rolle spielen. Die gemäßigten Rechtskonservativen haben im Parlament die Mehrheit, einige ihrer Repräsentanten wie z. B. Rezai, Bahonar, die Gebrüder Laridschani, Ali und Sadeq – letzterer ist Chef der Justiz – sitzen in wichtigen Entscheidungsgremien und haben gewisse Einflussmöglichkeiten auf Chamenei. Ebenso haben die gemäßigten Konservativen wie Rafsandschani und einige reformorientierte Geistliche aus den Städten Isfahan, Qom und Maschad die Möglichkeit, die jetzigen Köpfe der Reformer, Mussawi und Karrubi, zum Einlenken zu bewegen. Es scheint, dass die beiden Richtungen sich ihrer Rolle als Vermittler in diesem Konflikt nicht ganz unbewusst sind. Hinter den Kulissen diskutieren ihre Vertreter bereits über mögliche Auswege. Darauf deuten die fast zeitgleich veröffentlichten Vorschläge zur Behebung der Krise sowohl vom einflussreichen Abgeordneten Ali Motaharie aus dem gemäßigten rechtskonservativen Lager als auch von Mussawi hin, die in ihren Kernaussagen nicht soweit auseinander liegen. Denn beide nennen die Freilassung aller in den letzten Monaten verhafteten Politiker und Aktivisten, die Aufhebung des Verbotes regierungskritischer Zeitungen und somit die Gewährleistung der in der Verfassung festgeschriebenen Freiheitsrechte der Bürger als wichtige Bedingungen. Ähnlich wie Motaharie fordert auch Mussawi, dass »die Regierung gegenüber dem Volk, der Justiz und dem Parlament Verantwortung übernehmen« müsse. Es ist in Mussawis Vorschlägen keine Rede mehr von seinen bisherigen Bedingungen wie etwa der »Annullierung der Wahl von 12. Juni« und dem »Rücktritt der Regierung«. Damit akzeptiert er stillschweigend Ahmadinedschads Regierung. Stattdessen fordert er eine Reform des bestehenden Wahlgesetzes. Dadurch sollen »die freie Konkurrenz« und die Partizipation am politischen Entscheidungsprozess für diejenige politischen Strömungen, die das System der islamischen Republik nicht grundsätzlich in Frage stellen, ermöglicht werden.5 Was Mussawi damit erreichen möchte ist ein zwar offener aber dennoch systemimmanenter »Pluralismus« durch die Einschränkung der Entscheidungsmacht des religiösen Führers Chamenei sowie des Wächterrates. Wie erwartet, reagierte die ultrarechte Fraktion auf Mussawis Vorschläge bis jetzt negativ und ablehnend. Aus dem Lager der gemäßigten Fraktion der Rechtskonservativen hört man langsam Stimmen, die darin auf jeden Fall eine Möglichkeit zur Behebung der gegenwärtigen Krise sehen. Zum Beispiel bezeichnete Mohssen Rezai in einem Brief an Chamenei die Vorschläge von Mussawi als »konstruktiv« und forderte ihn auf, versöhnend und positiv zu reagieren.6 Welche konkreten Schritte die beiden verfeindeten Lager in den kommenden Monaten machen werden, ist aber noch abzuwarten.

Mussawis Vorschläge im »17. Aufruf« entsprechen mehr oder weniger den Grundpositionen der Gruppe »Grüner Weg der Hoffnung«, die vor einigen Monaten von Mussawi und Karrubi gegründet worden ist. Diese Gruppe will laut ersten Äußerungen keine Partei oder Front, sondern ein Netzwerk, auch keine Opposition gegen das System der islamischen Republik, sondern eine Opposition im System sein. Sie will ein Sammelbecken für alle sozialen Kräfte und Akteure sein, die in der vollständigen Umsetzung aller Teile der Verfassung den einzigen Ausweg aus der Krise sehen. Nur dadurch, so wird behauptet, könne das durch das Gesetz vorgesehene Gleichgewicht zwischen Pflichten und Befugnissen des religiösen Führers einerseits und der Volksvertreter andererseits hergestellt werden. Das Ziel ist also die Errichtung eines Rechtsstaates auf Grundlage der bestehenden Verfassung, jedoch ohne die in ihr vorhandenen hierokratisch-theokratischen Staatsprinzipien zugunsten der republikanischen anzutasten. Dass die iranische Verfassung durch und durch widersprüchlich ist, manche Ihrer Artikel und festgeschriebenen Kompetenzen sich sogar gegenseitig aufheben und deshalb für permanenten Kollisionen und Konflikte sorgen, stellt für den »Grünen Weg der Hoffnung« scheinbar kein ernsthaftes Problem dar. Aber für einen beträchtlichen Teil der »grünen Bewegung« ist dies jedoch ein strukturell riesiges Problem.

Die Lage der Reformer ist daher nicht ganz einfach. Sicherlich können die Reformer einen Teil der eher reformorientierten Frauen und Männer, die in den letzten Wochen und Monaten auf die Straße gingen, von der Notwendigkeit zu Konzessionen und Kompromissen überzeugen. Mit ihrem strategischen Ziel, »Zurück zur Verfassung«, können sie auch eine Weile viele Menschen mobilisieren. Der »Grüne Weg der Hoffnung« wird aber nicht frei von Risiken und Gefahren auch für dessen Schöpfer sein. Denn bei den Protesten oder in den gegenwärtigen sozialen Auseinandersetzungen in Iran ist nicht nur die politische Frage von Bedeutung, sondern auch die soziale. Dazu bedarf es aber einer konjunkturellen Veränderung der bestehenden sozioökonomischen Strukturen, welche nicht nur soziale Ungleichheit produzieren, sondern auch organisierte Korruption und Vetternwirtschaft fördern. Was den Widerstand einiger sozialer Schichten und zivilgesellschaftlicher Organisationen betrifft, ist anzumerken, dass sie sich, obwohl sie in ihren politischen und gesellschaftlichen Perspektiven durch und durch heterogen sind, in ihrem Kampf ausschließlich auf die Verfassungsartikel berufen, die die demokratischen Freiheits- und sozialen Rechte der Bürger anerkennen und garantieren. Sie gehen also von der »allgemeinen Erklärung der Bürger- und Menschenrechten« aus, nicht von der iranischen Verfassung als solcher. Daher haben die Verfassungsartikel, die diese Rechte nicht beinhalten oder sich gar gegen sie aussprechen, für sie nie Geltung gehabt. Wie die Proteste u.a. am 26. und 27. Dezember wieder bestätigt haben, geht es ihnen und vielen anderen protestierenden Frauen und Männern scheinbar nicht mehr und nicht so sehr um die Gesamtheit der Verfassung, folglich auch nicht um die »islamische Republik«, wie sie ist und sich praktisch definiert. Sie klagen längst nicht nur den Wahlbetrug bei der letzten Präsidentschaftswahl an. Mit den Parolen »Tod dem Chamenei«, »Nieder mit dem tyrannischen Staat« gehen sie darüber hinaus. Sie greifen das System selbst an und fordern eine »iranische Republik«, eine demokratische Republik also, ohne das »Islamische« – so könnte man dies übersetzen. Das stellt allerdings auch für den »Grünen Weg der Hoffnung« eine große Herausforderung dar.

Anmerkungen

* Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift „Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur“, Nr. 1/10.Zurück zur Textstelle

  1. Siehe dazu »Montazeris Rechtsgutachten«, in: www.bbc.co.uk/persian (10.7.09), »Rafsandschanis Freitagspredigt», in: www.news.gooya.com (17.7.09) »Rafsandschanis Warnung», in:www.bbc.co.uk/persian (02.12.09).Zurück zur Textstelle
  2. Vergleiche Ebrahim Yazdi: »Eine Analyse über die Zukunft politischer Gruppen«, in www.peiknet.com (16.1.06), »Ein Sonderbericht über die illegalen Warenplattformen, in: www.mehrnews.com (4.3.05). Über Stiftungen siehe Fariburz Reisdana: Die Stiftungen unter Berücksichtigung ihrer sozialen Verpflichtung, in: Goftegoo, Nr. 39, Teheran 2004.Zurück zur Textstelle
  3. Über die Entstehungsgeschichte der Wächterarmee und ihren Aufstieg zu einer politischen und ökonomischen Macht siehe meinen Artikel: »Die »Partei der Kasernen«. Der Aufstieg der Wächterarmee«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/09.Zurück zur Textstelle
  4. Siehe »Rafsandschanis eindeutiges Kurswechsel«, in: www.news.gooya.com (23.8.09).Zurück zur Textstelle
  5. Vergleiche Ali Motaharie »Sieben Vorschläge für Rückkehr zur Ruhe«, in: www.rahesabz.net (02.01.10) und Mir Hussein Mussawi »der 17. Aufruf, Vorschläge für den Ausweg aus der Krise « in: www:kaleme.org (01.01. 10).Zurück zur Textstelle
  6. Vergleiche »Reaktionen auf Mussawis Vorschläge für den Ausweg aus der Krise«, in: www.bbc.co.uk/persian (03.01.10).Zurück zur Textstelle
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