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Friede in Kolumbien – eine neue Wachstumsstrategie

Der Friedenspakt in Kolumbien ist ein bemerkenswerter Erfolg, aber seine ökonomischen Folgen sind beunruhigend

Forrest Hylton und Aaron Tauss

An der historischen Bedeutung des Abkommens, das am 26. September 2016 von der Regierung des kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos und der größten Guerillagruppe des Landes, der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) unterzeichnet wurde, besteht kein Zweifel. Auch wenn der Friedensvertrag nach fast vier Jahren zäher Verhandlungen in einer Volksabstimmung Anfang Oktober überraschend mit knapper Mehrheit abgelehnt wurde, deutet nach wie vor einiges darauf hin, dass der längste bewaffnete Konflikt in der westlichen Hemisphäre nach mehr als fünf Jahrzehnten doch noch ein friedliches Ende finden könnte. Durch den ebenfalls unerwarteten Gewinn des Friedensnobelpreises wurde Präsident Santos innenpolitisch und international in seiner Mission gestärkt. Die FARC hat trotz des gescheiterten Plebiszits bekräftigt, an ihrer im Friedensvertrag vorgesehenen Demobilisierung festzuhalten und sich bereit erklärt, das bereits unterzeichnete Abkommen nochmals nachzuverhandeln. Genau dies fordert nämlich die siegreiche „No“-Kampagne rund um den politisch wiedererstarkten ehemaligen Präsidenten und gegenwärtigen Senator Álvaro Uribe, der trotz der heftigen Kritik am bestehenden Vertragstext stets seinen Willen zur Befriedung Kolumbiens beteuert hat. Ob es sich dabei lediglich um Rhetorik bzw. politisches Kalkül handelt, die insgeheim auf eine Weiterführung des blutigen Bürgerkrieges abzielen, scheint im Moment noch unklar. Angesichts der internen Kräfteverhältnisse, des internationalen Umfelds und der von Investoren erwarteten „Friedensdividende“ gilt jedoch eine zeitnahe Friedenslösung als wahrscheinlichstes Szenario.

Aus der Sicht sozialer Bewegungen und Mobilisierungen waren die vergangenen Monate auch anderweitig bedeutsam. Außerhalb Kolumbiens und aufgrund des Stillschweigens der Medien auch im Lande selbst wurde nur wenigen Beobachtern und Aktivistinnen bewusst, dass sich die seit Jahrzehnten größte Protestbewegung des Landes erst im Sommer aufgelöst hatte. Im Gegensatz zum paro cívico (ziviler Streik) im Jahr 1977 – einem Schlüsselereignis in der jüngeren kolumbianischen Geschichte, waren die Proteste vornehmlich von der ländlichen Bevölkerung getragen. Anfang Juni blockierten Bauern, Landarbeiter und indigene Gruppen mehr als 100 Straßen landesweit. Afro-kolumbianische Fischer und ihre Familien blockierten den Pazifikhafen von Buenaventura, eines der wichtigsten kolumbianischen Handelszentren, über das enorme Mengen von Kokain das Land verlassen und chinesische Waren hereinkommen.

Was die jüngsten Protestbewegungen eint, ist die Ablehnung der von der Regierung verfolgten Agrarpolitik, die zunehmend die Lebensbedingungen von Millionen Kleinbauern bedroht, und die Forderung, die über 40 Freihandelsabkommen zu revidieren, die in den letzten Jahren unterzeichnet und umgesetzt wurden. Bei den Friedensverhandlungen mit der FARC in Havanna standen diese nämlich überhaupt nicht zur Debatte. Die Mobilisierung war zum Großteil eine Folge der Weigerung der Santos-Regierung, den Zugeständnissen nachzukommen, die sie während der vorhergehenden ländlichen Protestwelle gemacht hatte. Letztere wiederum hatte den Unmut über das 2012 in Kraft getretene Freihandelsabkommen zwischen den USA und Kolumbien zum Ausdruck gebracht. Die Versprechungen zielten darauf ab, die zerstörerischen Auswirkungen von Bergbauprojekten, großangelegter Agrarindustrie und die Folgen der Freihandelsverträge für den Agrarsektor abzumildern.

Angeführt von Uribe haben die Nachfolger der Vereinigten Bürgerwehren Kolumbiens (AUC) – die Mitte der neunziger Jahre gebildeten und zur Aufstandsbekämpfung angetretenen Paramilitärs – indessen damit gedroht, das Land wieder in ein Blutbad zu tauchen. Dazu kam es nämlich in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren, als tausende Anhänger linker Bewegungen wie Unión Patriótica, ¡A Luchar! und der Frente Popular brutal verfolgt und ermordet wurden. Derartige Drohungen sollten also keineswegs auf die leichte Schulter genommen werden. Wenn man jedoch die in jüngster Zeit beispiellose Kooperation zwischen FARC-Kommandeuren und den kolumbianischen Streitkräften in Sicherheitsangelegenheiten beobachtet, so ist es dennoch eher unwahrscheinlich, dass der Krieg in Kolumbien wieder zurückkehrt. Es spricht einiges dafür, dass der in Havanna ausgehandelte Waffenstillstand auch in den kommenden Monaten halten wird.

Was der Friedensprozess für neue Ausbeutungs- und Minenprojekte, Freihandel und Auslandsinvestitionen bedeutet, lässt sich ganz gut an den Äußerungen von Juan Carlos Echeverry, Präsident von Kolumbiens staatlicher Ölgesellschaft Ecopetrol erahnen. Auf einer im April dieses Jahres abgehaltenen Pressekonferenz hielt Echeverry Folgendes est: „Sobald es Frieden gibt, werden wir mit noch größerer Kraft nach Caquetá, Arauca, Catatumbo und Putumayo gehen.“ Mit anderen Worten erwartet Ecopetrol, dass sobald ein Friedensvertrag unterzeichnet ist, die von der FARC kontrollierten Gebiete im Süden und Osten des Landes für Auslandsinvestitionen in Bergbau und Ölförderung sowie Biokraftstoffproduktion geöffnet werden.

In der Serranía de la Macarena in der Region Meta, wo sich über Jahrzehnte das Hauptquartier der FARC befand, hat die Nationale Agentur für Umweltlizenzen (ANLA) der Huepecol Operating Company das Recht auf Ölförderung in einem Radius von 150 Kilometern zugesprochen. Allerdings wurde diese Maßnahme nach Protesten der Bevölkerung und auch dank des Widerstands einer Reihe von Regierungsbehörden ausgesetzt, wenngleich nicht gänzlich zurückgenommen. Zusätzlich zur Ölförderung ist nun der Bau einer riesigen Autobahn geplant, die den Weg für Investitionen in Palmöl und Zuckerrohr in der umliegenden Region freimachen soll. Damit stellt sich die Frage, ob die von der FARC vorgeschlagenen „kleinbäuerlichen Reservezonen“ – spezielle Gebiete, die dem Schutz kleiner Landwirtschaft dienen sollen – stark genug sein werden, um der anstehenden Expansion des extraktiven, agroindustriellen und export-orientierten Akkumulationsmodells zu widerstehen.

Neuformierung von Klasse, Staat und Märkten in Krieg und Frieden

Aus der Sicht der kolumbianischen Regierung würde ein Friedensabkommen mit der FARC das Land weitgehend „normalisieren“, indem es den längsten bewaffneten Konflikt in der westlichen Hemisphäre beendet. Es würde auch der Kapitalakkumulation neue Wege eröffnen und bereits existierende vertiefen. Laut der staatlichen Planungsbehörde, würde ein erfolgreicher Abschluss der Gespräche die Wachstumsrate der kolumbianischen Wirtschaft während der nächsten Dekade um bis zu 1,9 Prozent erhöhen, und zwar durch wachsende Investitionen – sowohl innere wie äußere – zunehmende Exporte und Ersparnisse. Davon würden wohl hauptsächlich die vier großen Unternehmenskonglomerate – Sindicato Antioqueño, Grupo Sarmiento Angulo, Grupo Santo Domingo und Grupo Ardila Lülle -, transnationale Bergbau- und Agrarindustriefirmen, Finanzspekulanten und große Landbesitzer profitieren. Angesichts dieser Aussichten ist es kaum verwunderlich, dass die Begeisterung der Regierung über das Friedensabkommen vom nationalen Wirtschafsrat, der die wichtigsten kolumbianischen Wirtschafsverbände repräsentiert, sowie von weiteren Unternehmerorganisationen geteilt wird. Und auch internationale Institutionen, die sich dem Management und der Förderung des globalen Kapitalismus widmen, wie etwa der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Welthandelsorganisation, haben ebenfalls ihren Enthusiasmus für das kolumbianische Friedensabkommen bekundet. In ihrer Neigung, gesellschaftliche Verhältnisse zu personalisieren, bringen die kolumbianischen, oligarchisch kontrollierten Medien die Friedensgespräche oft in Verbindung mit Präsident Santos' Absicht, „Geschichte zu machen“. Dabei spielen jedoch die Interessen der Großinvestoren eine viel wichtigere Rolle.

Ähnlich wie andere Staaten der Region – mit Ausnahme von Cuba – hat Kolumbien in den vergangenen zwei Dekaden eine tiefgehende Umstrukturierung sowohl der Wirtschaft als auch des institutionellen und rechtlichen Rahmens des kapitalistischen Staates erfahren. Die sogenannte apertura económica (wirtschaftliche Öffnung), die unter Präsident César Gaviria in den frühen neunziger Jahren vorangetrieben wurde, war eine Antwort auf die strukturelle Krise der Importsubstitution, d.h. des kapitalistischen Entwicklungsmodells, das von den meisten Ländern der Region nach dem zweiten Weltkrieg verfolgt wurde. Konkret umfasste diese Öffnung Zollsenkungen, die Deregulierung des Finanzmarkts, die Privatisierung von Staatsvermögen sowie die Liberalisierung des Außenhandels. Das Land begann, stark subventionierte landwirtschaftliche Produkte einzuführen, vor allem aus den Vereinigten Staaten und Westeuropa. Dies hatte nicht nur negative Folgen für die Beschäftigung in den ländlichen Regionen, sondern erleichterte auch die Konzentration des Landbesitzes und die Ausdehnung der Agrarindustrie sowie der Ölförderungs- und Bergbauaktivitäten. Dies wiederum begünstigte paradoxerweise den dramatischen Aufschwung der FARC und der ELN, die sich in der Folge zunehmend auch durch die Erpressung multinationaler Unternehmen finanzierten. Gleichzeitig wuchs der Anteil nicht traditioneller Agrarexporte wie Schnittblumen und Früchte zu Lasten einheimischer Nahrungsmittel wie Mais, Weizen, Gerste, Kartoffeln, Bohnen und Soja. Als Folge der ökonomischen Öffnung und des bewaffneten Konflikts verringerte sich der Anteil der Landwirtschaft am Nationalprodukt zwischen 1990 und 2015 von 16,7 auf 6,2 Prozent.

Politisch gesehen führte die neoliberale Restrukturierung während der neunziger Jahre zu einer Inter- bzw. Transnationalisierung der Klassenbeziehungen und damit zu einer grundlegenden Neuausrichtung des Staates sowohl auf nationaler wie auf regionaler und lokaler Ebene. Dies stärkte jene Sektoren des kolumbianischen Machtblocks, die sich einerseits an der globalen Akkumulation und andererseits an der Agrarindustrie orientieren. Letztere sind seit langer Zeit mit den Paramilitärs und dem Drogenhandel verbündet und gleichzeitig bestrebt, mittels der Gewalt der „ursprünglichen Akkumulation“ die regionale und lokale politische Macht an sich zu reißen.

In den späten neunziger Jahren gab es auch den letzten den Versuch von Verhandlungen zwischen der Regierung von Andrés Pastrana und der FARC, die zum damaligen Zeitpunkt zwar militärisch stark, jedoch politisch schwach war. Letztendlich scheiterten die Friedensgespräche von Caguán am Widerstand der Agraroligarchie, des Militärs, der Vereinigten Staaten und vor allem der rechten Paramilitärs, die mit dem boomenden Drogenhandel und der wachsenden Agrarindustrie verbunden waren. Dabei spielte jedoch auch die zunehmende Brutalität der FARC in Form von Entführungen und durch den Bombenanschlag von Bojayá im Mai 2002, der 74 afro-kolumbianischen Zivilisten das Leben kostete, eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu Caguán werden die Gespräche in Havanna von den wichtigsten Fraktionen der herrschenden Klassen Kolumbiens – der urbanen transnationalen Eliten, der großen Landbesitzer und des Militärs – unterstützt. Auch die Vereinigten Staaten sind diesmal mit an Bord, vor allem auch weil die Verhandlungsagenda weitergehende Veränderungen des vorherrschenden Wirtschaftsmodells von vornherein ausklammert.

Plan Colombia bricht dem Neoliberalismus Bahn

Die Friedensgespräche in Caguán gingen mit einer schweren Finanzkrise einher, die das Land um die Jahrhundertwende in eine tiefe Rezession stürzte. Das durch den IMF und die Weltbank in der Folge auferlegte Strukturanpassungsprogramm hatte das Ziel, Kolumbiens neoliberales Akkumulationsmodell noch weiter in Richtung der Ausbeutung und den Export von Mineralien, Öl und Metallen zu verschieben. Die neue Entwicklungsstrategie hing stark von Auslandsinvestitionen ab und verstärkte die Einbindung des Landes in die internationalen Produktionsketten eines zunehmend globalisierten Kapitalismus. Die wesentlichsten Ausnahmen von diesem Muster waren die Viehzucht und der Drogenhandel, die von regionalem und lokalem Kapital beherrscht waren und die materielle Grundlage für den Ausbau der Paramilitärs darstellten.

Parallel zu den Caguán-Gesprächen waren die Vereinigten Staaten schon mit der Ausarbeitung von Plan Colombia beschäftigt. Ab dem Jahr 2000 verschob das bilaterale Abkommen das Kräfteverhältnis im bewaffneten Konflikt zugunsten der kolumbianischen Streitkräfte und der Paramilitärs, die vor und auch während dessen Umsetzung eine brutale Aufstandsbekämpfungskampagne führten. Dank der militärischen Unterstützung der USA – und auch durch die Massaker und die Vertreibungen der AUC – gelang es dem Militär, die meisten ländlichen Gebiete zurückzuerobern, die von der FARC kontrolliert wurden. Dies bildete in Folge die Grundlage für die Ausweitung privater Eigentumsrechte, von Freihandel und Auslandsinvestitionen. Gleichzeitig errangen agroindustrielle Unternehmer, die die AUC finanziell unterstützten, sowohl regionale politische Machtpositionen als auch das Monopol über Land und damit den Zugang zu Landrenten und politischen Ämtern auf lokaler Ebene. Ein Teil der agroindustriellen Fraktion wurde schließlich wegen seiner Verbindung zu den Paramilitärs gerichtlich verfolgt. Dadurch wurde ihre von Uribe angeführte Opposition zum Friedensprozess zunehmend entkräftet. Die unterzeichneten Freihandelsabkommen haben die ökonomische Basis der traditionellen agrarindustriellen Eliten deutlich geschwächt und gleichzeitig jene Unternehmen gestärkt, die Palmöl und Biotreibstoff produzieren. Dies eint die agrarindustriellen Eliten in ihrer Gegnerschaft zu Frieden und Gerechtigkeit auf dem Land. Obwohl die nationalen Verbände und ihr Führungspersonal die Friedensbemühungen der Santos-Regierung offiziell unterstützen, gibt an der Basis eine beachtliche Opposition dazu.

Während der vergangenen Dekade hat Kolumbien einen noch nie dagewesenen Boom erlebt, der die ökonomische Landschaft grundsätzlich verändert hat. Der Umfang der Wirtschaft und das Pro-Kopf-Einkommen vervierfachten sich zwischen 2003 und 2013. In dieser Zeit verdoppelte sich auch die Zahl der Polizei- und Streitkräfte, während sich der Militärhaushalt verdreifachte. Die Durchsetzung einer militarisierten und exportorientieren Wachstumsstrategie machte Kolumbien nach Brasilien, Mexiko und Argentinien zur viertgrößten Wirtschaftsmacht Lateinamerikas. Inzwischen gehen zwei Drittel der Exporte in die USA, nach Kanada und die Europäischen Union. Kolumbiens Hauptexportgut ist Erdöl, das 45 Prozent des Gesamtexports ausmacht und mehr als 30 Prozent der Auslandsinvestitionen anzieht.

Von daher hat auch der starke Fall des Ölpreises seit Juli 2014 die Auslandsinvestitionen stark reduziert, was sich prompt negativ auf die öffentlichen Finanzen auswirkte. Diese Entwicklung hat die Santos-Regierung dazu gezwungen, stärker in größere Infrastrukturprogramme zu investieren und eine antizyklische Geld- und Finanzpolitik zu betreiben, um das ökonomische Wachstum anzukurbeln und ein „günstiges Investitionsklima“ für das ausländische Kapital zu schaffen. Daher rührt die Bedeutung der Gespräche in Havanna und die nicht so wahrscheinliche Aussicht, dass die Regierung die Vereinbarungen schließlich auch umsetzen wird. Die Existenz der Guerillas stellt nach wie vor die größte politische Herausforderung und „Sicherheitsbedrohung“ für die Ausdehnung der Ausbeutungs- und Agrarindustrieprojekte auf dem Land dar. Nach Aussagen des Bergbau- und Industrieministerium, haben die Guerillaattacken auf die Infrastruktur der Ölindustrie deren Profite und damit auch die Einnahmen der Regierung in den vergangenen Jahren stark beschnitten.

Ein sicheres Umfeld ist indessen nicht nur für Kolumbiens Primärsektor von großer Bedeutung. Angesichts fallender Ölpreise und abnehmender Ölreserven wird der Tourismus zunehmend zu einem Angelpunkt der Volkswirtschaft. Verglichen mit dem benachbarten Peru, steht Kolumbiens Tourismusindustrie noch am Anfang, aber es wird in den nächsten Jahren mit zweistelligen Wachstumsraten gerechnet. Gegenwärtig ist der Tourismus der drittgrößte ökonomische Sektor, was den Außenhandel angeht. Dieser Trend wird sich nach erfolgreichen Friedensgesprächen aller Wahrscheinlichkeit nach noch zusätzlich verstärken.

Kolumbiens Übergang zu einem auf Freihandel und Auslandsinvestitionen basierenden Akkumulationsmodell hat die Produktions- und Eigentumsbeziehungen sowohl in den Städten als auch auf dem Land grundlegend verändert. Die von den USA unterstützte Aufstandsbekämpfungstrategie („counter-insurgency“) führte nicht nur zur Vertreibung von Millionen Landbewohnern und zur darauf folgenden Aneignung und Verwertung des gestohlenen Landes. Sie verstärkte gleichzeitig auch den ländlichen und städtischen Proletarisierungsprozess – eine notwendige Voraussetzung für die Ausweitung der Warenproduktion und der Kapitalakkumulation. Die vom Land Vertriebenen haben die Städte bis zum Übermaß gefüllt und damit die Anhängerschaft der mit dem Drogenexport verbundenen und mit städtischer Aufstandsbekämpfung beschäftigten kriminellen Gruppen verstärkt.

Nach dem größten Landraub in der Geschichte Kolumbiens ist der Landbesitz nun stärker konzentriert als jemals zuvor. Dies ist verbunden mit einem erstaunlichen Maß an sozialer Ungleichheit. Zum Beispiel fehlt 73% der ländlichen Bevölkerung der Zugang zu Bildungseinrichtungen, 45% leben in Armut und 90% der agrarischen Produzenten haben keinen Zugang zu Krediten. Zwischen 2012 und 2015 wuchsen die Nahrungsmittelimporte aus den USA, Kanada und der Europäischen Union um beinahe 500%. In gerade vier Jahren, zwischen 2011 und 2015, stieg Kolumbiens Außenhandelsdefizit im Agrarsektor um beinahe 800%.

Akkumulation und Widerstand: der kommende Konflikt

Aus Sicht der kolumbianischen Regierung und der Klasseninteressen, denen sie dient, sollen die Friedensvereinbarungen die jüngste Phase der „ursprünglichen Akkumulation“ konsolidieren und das Land zugunsten einheimischer und internationaler Investoren „stabilisieren“. Mit anderen Worten ist die Santos-Regierung bestrebt, auf dem Verhandlungsweg das größte Hindernis für die Ausdehnung des kolumbianischen Wachstumsmodells, das sich über die letzten drei Jahrzehnte hinweg herausgebildet hat, aus der Welt zu schaffen.

Wie der Anführer der FARC alias „Timochenko“ in einem Interview mit Piedad Córdoba, der früheren Senatorin und Friedensaktivistin, feststellte, beziehen sich die Friedensvereinbarungen nicht auf die Auslandsinvestitionen im Bergbau, der Energieerzeugung und im Agrobusiness. Sie stellen weder die Institutionen des kapitalistischen Staates noch die Eigentumsbeziehungen auf dem Land in Frage. Die Landreform, die lange Zeit als Existenzberechtigung der FARC betrachtet wurde, war auch kein Teil der Verhandlungen, obwohl die Rückgabe von Land offizielle Priorität der Santos-Regierung ist. Stattdessen wurde der Schwerpunkt auf ungenutztes und unproduktives Land gelegt und nicht auf die Enteignung des großen ländlichen Grundbesitzes. Die transnationale Fraktion der kolumbianischen Oligarchie ist nicht wirklich an einer substanziellen Veränderung der ländlichen Eigentumsbeziehungen interessiert, genauso wenig an einer Bekämpfung des Revanchismus lokaler Eliten, die mit dem Landraub und dem Drogenhandel verbunden sind. Das wird auch an kolumbianischen Entwicklungsplan für die kommenden drei Jahre deutlich, der auf die Förderung des großen Landbesitzes, wachsende Nahrungsmittelimporte, agroindustrielle Entwicklung und infrastrukturelle Megaprojekte setzt, also auf all das, was die Tür für noch weiter für größere Investitionen auf dem Land öffnet.

Trotz dieser eher düsteren Aussichten macht es ein Friedensabkommen jedoch zumindest theoretisch möglich, dass die FARC die vorher erwähnten strukturellen Fragen in Zukunft politisch in Angriff nimmt. Auch die jüngsten Mobilisierungen auf dem Land geben Grund zur Hoffnung. Jedoch wird Kolumbiens politische Gegenwart und Zukunft in erster Linie in den Städten entschieden, in denen die Mehrheit der Bevölkerung lebt. Die größte Herausforderung für die kolumbianische Linke, einschließlich der FARC und der mit ihr verbündeten Organisation Marcha Patriótica, besteht also darin, in den städtischen Peripherien Fuß zu fassen, die von der organisierten Kriminalität und paramilitärischen Gruppen kontrolliert werden.

Vor dem Hintergrund der jüngsten Welle popularen Widerstands und sozialer Mobilisierung wird die Abstimmung und Kooperation zwischen städtischen und ländlichen Protestbewegungen für die Demokratisierung Kolumbiens in der Zeit nach dem Abkommen von entscheidender Bedeutung sein. Zweifellos öffnet der Friedensprozess die Tür für eine wiederbelebte städtische Linke, die in öffentlichen Universitäten und peripheren Nachbarschaften ihre Basis hat. Wie jedoch die anhaltenden Morde an Aktivist*innen nahelegen, kann ebenso die Möglichkeit nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass die Paramilitärs eine neue Runde politischer Morde einleiten, um radikale, demokratische Fortschritte zu blockieren. Die Zeit wird lehren, ob die kolumbianische Geschichte sich wiederholt – beide Male als Tragödie. Es existiert jedoch eine reale Chance, dass dies nicht passieren wird. In diesem Fall würden nicht nur die Friedensvereinbarungen einen deutlichen Abschied vom „business as usual“ bedeuten, sondern auch Kolumbiens sprichwörtliche Sonderentwicklung doch noch zu einem Ende kommen.

Forrest Hylton lehrt lateinamerikanische und karibische Geschichte an der Northwestern University und ist Fakultätsmitglied an der Harvard University. Er ist Autor von „Evil Hour in Colombia“ (Verso, 2006).

Aaron Tauss ist Assistenzprofessor für internationale politische Ökonomie an der Nationaluniversität von Kolumbien in Medellín.

Übersetzung: Joachim Hirsch

© links-netz November 2016