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Die organische Krise des britischen Staates: Was der Brexit bedeutet

Bob Jessop

Einleitung

Bei dem Brexit-Referendum handelt es sich um ein singuläres Ereignis, das ein Symptom der fortdauernden organischen Krise des britischen Staates und der britischen Gesellschaft darstellt und außerdem als Ausgangspunkt für weitere Kämpfe um das Vereinigte Königreich, seinen Platz in Europa und der Welt betrachtet werden muss. Diese Krise ermöglichte den Aufstieg des Thatcherismus als neoliberales und neokonservatives Projekt (mit New Labour als seinem linken Flügel), dessen autoritäre populistische Attraktivität und autoritäre Staatsentwicklung auch unter der konservativ-liberal-demokratischen Koalition (2010-2015) fortgeschrieben wurden. Die Wahl von 2015 hatte eine konservative Regierung an die Macht gebracht. Sie verfolgte das Ziel, den Thatcherismus ebenso wieder zu beleben wie die Austeritätspolitik zu verstärken und bildete den unmittelbaren Hintergrund für die Tragik-Komödie der Irrungen, wie sie während des Referendums und den seither vergangenen sechs Monaten dargeboten wurde. Es wird immer offenkundiger – sollten wir jemals Zweifel daran gehabt haben – dass in den Verhandlungen mit den anderen 27 EU-Staaten über den Brexit vielfältige besorgniserregende Dilemmata und gefährliche Probleme enthalten sind. Nämlich wenn es darum geht, umzusetzen, was die Advokaten des Brexit versprochen haben und die Befürworter nun erwarten: dass die Geschlossenheit der Regierung als auch deren populistische Legitimität erhalten bleiben und nicht zuletzt ein weicher Übergang inklusive nationaler Prosperität garantiert werden sollen. Viele Mitgliedsstaaten und führende Eurokraten opponieren gegen jede Art von besonderen Deals. Und zwar aus Furcht davor, dass andere Länder ihre jeweilige Version eines Brexits in Betracht ziehen könnten. Einige nehmen es sogar übel, dass die britische Regierung immer wieder als Sonderfall behandelt werden will und sich reichlich zwiespältig äußert. So beschreibt es der luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel: „Vorher, als sie dazu gehörten, bestanden sie auf vielen Austrittsmöglichkeiten; jetzt, da sie austreten wollen, wünschen sie Möglichkeiten, dabei zu bleiben.“ Die Politik und die politischen Streitfragen in der Folge der Inkraftsetzung des Artikels 50 der europäischen Verträge könnten sehr wohl den Zerfall des Vereinigten Königreichs als auch möglicherweise den der EU vorantreiben. Dies durch Ansteckungseffekte bei Wahlen (Nachahmung durch eine zunehmend EU-kritische Bevölkerung) oder auf der politischen Ebene (politische und institutionelle Erschütterungen) und auch wirtschaftlich (durch die Intensivierung der Wirtschafts- und fiskalisch-finanziellen Krisen). Und das alles, ohne Großbritannien mehr politische Souveränität oder der britischen Wirtschaft einen sichereren und nicht balkanisierten Platz auf dem Weltmarkt zu verschaffen.

Im Verlaufe der sechs Monate nach dem Referendum ist klar geworden, dass die kapitalistischen Kreise über die Auswirkungen eines harten Austritts aus der EU (oder selbst über die eines weichen Brexits) besorgt sind. Die konservative Partei ist uneins über den richtigen Weg zum Brexit, die Bevölkerung ist weiterhin polarisiert, und der Staat ist schlecht auf die Austrittsverhandlungen vorbereitet. Weder die wichtigsten Kapitalfraktionen noch die Königen als Staatsoberhaupt, weder die Kabinettsmitglieder noch die Verhandlungsführer der Regierung, weder die Parlamentarier noch die normalen Bürger, weder die Medienmoguls noch die Blogger wissen bisher, was die Aussage „Brexit bedeutet Brexit“ jetzt oder in der Zukunft bedeuten könnte. Mrs. Mays neueste Auslegung, die sie auf einer Reise nach Bahrein im Dezember 2016 von sich gab heißt, dass der Brexit „rot, weiß und blau“ (Elgot 2016) sein wird (Vermutlich bezieht sie sich damit auf die britische Flagge und nicht auf die Kroatiens, Tschechiens, Frankreichs, der Niederlande oder Sloweniens.). Das steht im Widerspruch zu einem schwarzen Brexit, also einem Austritt ohne ein Verhandlungsergebnis erzielt zu haben, oder zu einem weißen Brexit (in der EU zu bleiben mit einer besonderen Vereinbarung in Bezug auf die Migration) oder auch einem grauen Brexit (im kanadischen Stil: Handelsabkommen und beschränkte Immigration aus der EU). Weitere Anzeichen für Probleme wurden im Dezember offenbar: Als erstes gab David Davis, Minister für den EU-Austritt) zu, dass im Gegensatz zu der Erwartung, Großbritannien bekäme „sein Geld zurück“ die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass es Gebühren zahlen müsse, um am Gemeinsamen Markt teilnehmen zu dürfen. Als zweites gab der beispiellose Sieg eines Liberaldemokraten bei einer Nachwahl im wohlhabenden Wahlkreis Richmond Park, die zu einem virtuellen Referendum über die Folgen des Brexit-Referendums gerieten den Brexit-Gegnern den Anlass für eine parteienübergreifende Abstimmung , bei der der ex-konservative und jetzt unabhängige Kandidat, der zu den lautstarken Brexit-Unterstützern gehört, weit abgeschlagen wurde. Als drittes beriet der Supreme Court über die Verfahrensfrage, ob die britische Regierung das Recht habe, den Artikel 50 auszulösen, ohne das Parlament zu befragen. Im Bewusstsein all dieser Schwierigkeiten geht dieser Artikel auf folgende Aspekte ein: der historische Hintergrund, vor dem die Entscheidung zum Referendum getroffen wurde, die unmittelbaren Bedingungen für die Abstimmung, deren Bedeutung für die britische und die europäische Politik und die Implikationen für die fortdauernde organische Krise der britischen Gesellschaft.

Die besondere Konstellation des Brexit

Es gibt einen zentralen Unterschied zwischen der besonderen Konstellation, die dem Thatcherismus zur Macht verhalf, und der, die den Brexit beförderte. Während erstere als ein Wiederzusammenfinden (oder erneuter Zusammenschluss) des Establishments bezeichnet werden kann, und zwar im Sinne von Gramsci als Verschmelzung einer ganzen sozialen Klasse unter einer Führungsperson, von der als einziger erwartet wird, dass sie die vordringlichsten Probleme lösen und tödliche Gefahren abwehren kann (Gramsci 1971). Unterstützt wurde diese Entwicklung von wichtigen Teilen der Mittel- und Arbeiterklasse. Frau Thatchers Konservative Partei mobilisierte eine klassenübergreifende Allianz gegen all jene, die mit den demokratischen Regelungen der Nachkriegszeit und deren angeblichen Misserfolgen in Verbindung gebracht wurden. Im Gegensatz dazu spiegelt die historische Konstellation, die zum Brexit führte, nicht nur eine bereits lange existierende Spaltung des Establishments und eine sich verschärfende Repräsentationskrise des Parteiensystems, sondern auch eine zunehmende Autoritätskrise der politischen Eliten, eine Legitimitätskrise des Staates und nicht zuletzt eine Krise der national-populären Hegemonie über die Bevölkerung.

Insbesondere lässt sich feststellen:

  • Der Beitritt in die und Mitgliedschaft in der EU brachten einen neuralgischen Punkt in der britischen Politik zutage, der die imperialen Nostalgiker, die Nationalisten, die Atlantiker, die Europaanhänger und die Globalisten der 1950er Jahre in verschiedener Weise und zu unterschiedlichen Zeiten spaltete.
  • Eine wachsende Entfremdung zwischen den immer schon regierenden Parteien in Westminster, ihren Mitgliedern und Wählern manifestierte sich unlängst in der Unterstützung für den schottischen Nationalismus und die United Kingdom Independence Party (UKIP).
  • Der Verlust des Respekts gegenüber den herrschenden Klassen (z. B. wegen Korruption, Filz, Schäbigkeit) und der Verlust des Vertrauens der herrschenden Klassen in sich selbst erlaubte es den enttäuschten Massen, als autonome Kraft in die Politik vorzudringen. Ihre einstmalige Passivität überwindend, formulierten sie radikale Forderungen nach Veränderung, die ihre Entsprechung in populistischen Aufrufen fanden.
  • Die Legitimitätskrise ergab sich, als neoliberale Projekte immer wieder fehlschlugen und nicht nur dabei versagten, nationalen Wohlstand zu schaffen, sondern außerdem noch eine Finanzkrise des Staates herbeiführten.

Diese und weitere Faktoren führten David Cameron, dem Führer der Konservativen Partei und Premierminister zu Fehlurteilen bei dem Versuch, die innerparteiliche Differenzen zu entschärfen und die populäre Unterstützung für die UKIP (United Kingdom Independent Party) zu unterminieren. Mit seinen demagogischen Versprechungen setzte er seine Partei (und das Land) einer ungewissen Zukunft aus. Cameron rechnete nicht damit, diese Versprechen jemals einlösen zu müssen. Anfänglich hatte er nicht vorhergesehen, für ein Referendum die Mehrheit im Parlament zu gewinnen, und später glaubte er, dass eine Politik des Angstmachens ähnlich wie bei der Volksabstimmung in Schottland zum Sieg führen würde. Das Problem bei dieser Taktik bestand jedoch darin, dass der Machtblock längst die Kontrolle über die öffentliche Meinung verloren hatte, also in Bezug auf die europäische Union und über das Scharnier zwischen politischer und Zivilgesellschaft. Dieser Verlust war die Folge einer seit Jahrzehnten schwelenden Feindschaft jener Medien, die letztlich vehemente und fokussierte Brexit-Befürworter wurden. Deren Rezipienten machten 82 Prozent der LeserInnen der gedruckten und der Online-Medien aus, die bei Wahlen normalerweise die Konservativen unterstützten, selbst wenn sie sich punktuell durchaus weiter rechts positionierten. Ein weiterer bedeutender Faktor für das Umschwenken der öffentlichen Meinung in diesen ungewissen Zeiten war die Allianz jener „charismatischen Männer, die das Schicksal schickte“ (Gramsci 1975). Nigel Farrage (der populistische Führer der UKIP) und Boris Johnson (der prominente Bürgermeister von London).

Historischer Kontext und Veränderungen in den politischen Konstellationen

Bevor die Folgen dieser Entwicklung betrachtet werden, soll es hier zunächst darum gehen, über die unmittelbare politische Situation und die besondere historische Konstellation hinaus zu blicken, in denen die Abstimmung stattfand, um sich dann die umfassenderen innenpolitischen und internationalen Kontexte zu beleuchten. Der innerbritische ökonomische Zusammenhang war die sich lang hinziehende Krise der schwachen britischen fordistischen Ökonomie der Nachkriegszeit. Dazu kamen die Probleme, die Wirtschaft in den Wettbewerbszusammenhang des atlantischen Fordismus und des Weltmarktes einzubringen und die seit Mitte der 1960er Jahre offenbar wurden. Auf politischer Ebene gingen diese Bemühungen einher mit einer Krise der Staatsform und der staatlichen Strategien. Ursache für diese Krise war die Tatsache, dass der britische Staat im Gegensatz zu anderen Ländern nicht über die Fähigkeit verfügte, staatliche Interventionen zu organisieren, einen effektiven Korporationismus zu koordinieren oder, als dritte Option, eine konsistente und rigorose Laissez-faire-Politik zu verfolgen. Aus diesem Grund oszillierte die staatliche Politik schwerfällig zwischen unterschiedlichen Strategien, die jedoch alle auf ihre Art und unter ihren jeweiligen Bedingungen erfolglos blieben.

Als Ausweg aus der Krise des atlantischen Fordismus boten sich zwei umfassende Strategien an. Das war zum einen die wissensbasierte Ökonomie, die in Europa und anderswo von Mitte der 1990er Jahre an zur hegemonialen wirtschaftlichen Leitvorstellung wurde. Zum anderen handelte es sich um die Finanzialisierung, die weniger auf das fordistische einkommensgeleitete Wachstum oder das postfordistische innovations- oder wissensbasierte Wachstum aufbaute, sondern vielmehr auf eine auf Schulden gegründete Dynamik, das das zinsbringende Kapital fördert und nicht das – wie im Fordismus oder in der wissensbasierten Ökonomie – profitbringende. Trotz der Lippenbekenntnisse zur wissensbasierten Wirtschaftsentwicklung in einigen Regierungszirkeln wurde die Finanzialisierung im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Neoliberalismus seit 1975 zur dominanten Strategie. Eine Regierung nach der anderen betonte die Unausweichlichkeit, die Attraktivität und die allgemeinen Vorteile der neoliberalen Globalisierung und unterstütze die Interessen des Kapitals gegenüber der Arbeiterschaft in einer weltmarktoffenen Wirtschaft.

Der Neoliberalismus, so wie er in Großbritannien durchgesetzt wurde, stellt ein relativ kohärentes und sich gegenseitig verstärkendes Set von Politiken dar, die allerdings keineswegs aus sich selbst heraus eine Erfolgsgarantie gewähren. Sie privilegierte die Möglichkeiten, monetäre Gewinne zu erzielen, im um Gegensatz zu der Bereitstellung von Gebrauchswerten, die soziale Bedürfnisse befriedigen, das menschliche Wohlergehen fördern und die Umwelt und den Planeten Erde schützen. Genauer gesagt privilegieren sie das zins- und transnational profitbringendes Kapital gegenüber anderen Kapitalfraktionen und den Interessen der unteren Klassen sowie der marginalisierten und sozial unterdrückten Gruppen. Im Vereinigten Königreich geht diese Unterstützung weit darüber hinaus, die finanzielle und kommerzielle Dominanz in der City of London zu fördern, so wie sie bis zur vollkommenen Deregulierung Mitte der 1980er Jahre funktionierte. Vielmehr beinhaltete sie auch Aktivitäten, diese zum international führenden Zentrum des globalisierten Finanzkapitals auszubauen. Dank dieser „leichthändigen Regulierung“ wurde die City zum Ort der ungeheuerlichsten Finanzskandale zwischen 2007 und 2015, und zwar völlig unabhängig davon, wo sich der Hauptsitz der beteiligten Finanzinstitutionen befand. Zusammen mit der wachsenden Ungleichheit von Vermögen und Einkommen sorgte gerade dieser Umstand dafür, dass der Respekt vor den Eliten der Finanzwelt schwand.

Es lässt sich insgesamt feststellen, dass die finanziellen Ansprüche an die „reale“ Wirtschaft gestiegen sind, während die industrielle Produktivität und die Umsätze mit der Finanzialisierung nicht Schritt halten konnten. Dadurch entstand ein nur vorübergehender und nicht nachhaltiger, schulden-induzierter Boom, der auf fiktiven Krediten aufbaute. Der Umfang und der Anteil der Profite wurde erhöht, die dem Finanzkapital zuzuordnen sind. Dies ging zu Lasten produktiven Kapitals, das international handelbare Waren herstellt. Eben diese profitorientiert Logik tendiert dazu, Reichtum und Einkommen zu polarisieren, die soziale Kohäsion aufzulösen und darüber hinaus Finanzkrisen zu erzeugen. Die immer sichtbarer werdende Polarisierung von Reichtum auf der einen und Einkommen auf der anderen Seite wird selbst von neoliberalen Zirkeln zunehmend als ein bedeutendes wirtschaftliches, gesellschaftliches und politisches Problem gewertet. Diese sich weiter öffnende Schere erzeugt allgemeine Unzufriedenheit und damit einhergehend die entsprechenden Maßnahmen zur Überwachung der Bevölkerung. Sie isoliert die Regierung gegenüber den Forderungen des Volkes nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Gerechtigkeit und ermutigt zu einer „teile und herrsche“-Taktik und wo nötig auch zu Repressionen gegen Widerstand.

Die De-Industrialisierung wurde bereits durch die neoliberale Politik der Thatcher-Regierung vorangetrieben und von den Nachfolgeregierungen fortgesetzt. In den Fällen, wo Teile der Kernindustrien überlebten, trugen die Regierungen dazu bei, diese zu „balkanisieren“, d.h. die Wirtschaft unter verschiedenen transnationalen, ausländischen Kapitalen aufzuteilen, die einander widersprechende Strategien verfolgen können und damit eine kohärente nationale Industriepolitik verhindern. Die Regierungen in der Folge Thatchers erklärten Großbritannien als „offen für Geschäfte“ (und Übernahmen). Dabei ging man miteinander konkurrierende und unkoordinierte Verpflichtungen gegenüber ausländischem Kapital ein, und zwar inklusive chinesischem, indischem und russischen Interessen, ganz zu schweigen von den „üblichen Verdächtigen“. Angesichts der fehlenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Basis für eine konzertierte nationale Wirtschaftsstrategie wurden das wirtschaftliche Schicksal Großbritanniens zunehmend von den Launen der finanz-dominierten Akkumulation und dem ganzenWeltmarkt abhängig. Das heißt also abhängig zu sein von einem Dienstleistungssektor mit wenig qualifizierten, wenig technisierten, gering bezahlten und sogar „null Stunden Arbeitsverhältnissen“, also am Arbeitsplatz präsent zu sein, ohne die Garantie tatsächlich arbeiten zu dürfen (z.B. bei MCDonalds), wie er dem neoliberalen Wettlauf in Richtung Talsohle eigen ist. Diese wirtschaftliche Konfiguration stellt dazuhin die wichtigste strukturelle Einschränkung für alle Versuche dar, die Kontrolle über die zukünftige Entwicklung der britischen Wirtschaft zurückzugewinnen. Neoliberale Politiken und Entscheidungen über öffentliche Investitionen (inklusive der regionalen Verteilung infrastruktureller Projekte) trugen außerdem zu einer ungleichen Entwicklung zu Gunsten von London und der süd-östlichen Regionen des Landes bei, Regionen, die entgegen der nach dem Referendum sich einstellenden Erkenntnis weitaus mehr für den Brexit stimmten als die Labour-Hochburgen in Nordengland.

Insgesamt ist festzustellen, dass die Kombination einer eingeschränkten staatlichen Leistungsfähigkeit während der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung in der Nachkriegszeit und die anschließende Umsetzung neoliberaler Strategien eine ernsthaft geschwächte „realen Ökonomie“ und einen vollkommen überbewerteten, Zinsen einheimsenden Finanzsektor hervorbrachte. Dementsprechend haben die aufeinanderfolgenden Regierungen es versäumt, dem Arbeitskraftmangel durch das Angebot adäquater technischer und beruflicher Ausbildungsmöglichkeiten entgegenzuwirken und die Rechte von Arbeitnehmern und Gewerkschaften zu schützen. Damit hätten sie das Wettrennen zur Talsohle ebenso beschränken können wie damit Anreize für produktivitätsfördernde Kapitalinvestitionen geschaffen worden wären. So wäre nicht nur Forschung unterstützt worden, sondern auch die Entwicklung der KBE (Knowledge Based Economy). Außerdem hätte man auf diese Weise die Immobilienkrise überwinden und den unproduktiven Kreditbedarf auf dem Wohnungsmarkt reduzieren können. Auch hätte das Nationale Gesundheitssystem finanziert werden können anstelle des militär-industriellen Komplexes. Nicht zuletzt hätte die ungleiche regionale Entwicklung verringert werden können und viele andere Dinge mehr. Dieses Versagen ist zum einen ein intellektuelles und zum anderen ein strukturelles. Es spiegelt die Dominanz des „Geldkonzeptes von Kapital“, wie es idealtypisch mit dem zinsentragenden Kapital assoziiert wird, über das „Produktivkonzept von Kapital“, das dem profit-produzierenden Kapital entspricht.

Das alles hat dazu beigetragen, dass die gesellschaftliche Basis für die wirtschaftliche und politische Macht auf den fragilen Fundamenten von populärem Kapitalismus, autoritärem Populismus und einer sich selbst disziplinierenden unternehmerischen Kultur ruhte. Das ehrgeizige Konzept der „einen Nation“, das der Keynesianische Wohlfahrtsstaat auf Arbeit für alle und sozialer Fürsorge gründete wurde eindeutig ersetzt durch das Projekt von „zwei Nationen“. Dieses förderte einen populären Kapitalismus, insbesondere das Hauseigentum, und einen „privatisierten Keynesianismus“ (d.h. Kreditaufnahme zur Unterstützung des Konsums trotz real sinkender Einkommen), der dazu diente, der Popularität bei Wahlen aufzuhelfen, und zwar zu Lasten von Investitionen in die langfristige Wettbewerbsfähigkeit, die auf exportorientierter Produktivitätsförderung hätte beruhen sollen. Davon profitierten die „Viel-Habenden“. Produziert wurde eine geteilte, beherrschte und bedrängte Mittelschicht der „Habenden“ und ließ die „nicht habende“ Bevölkerung anwachsen. Außerdem wurden die „Nord-Süd“ und andere regionale und lokale Ungleichheiten verstärkt. Zusammen mit einer Krise der Politik und der politischen Repräsentation stellte diese Konstellation sowohl eine Bedrohung als auch eine Möglichkeit für das neoliberale Projekt dar. Die von New Labour ergriffenen Maßnahmen zielten darauf ab, den Finanzsektor zu retten, führten allerdings dazu, die Finanzkrise in eine Haushaltskrise zu verwandeln. Diese zeichnet sich durch eine Erhöhung der öffentlichen Defizite aus. Das wiederum wurde von der Konservativen Partei, der Stadt London und der rechten Presse genutzt, um die hart erkämpfte wirtschaftliche Kompetenz von New Labour zu diskreditieren. Außerdem ergab sich daraus die Legitimation dafür, von der Austeritätspolitik zu einem „Status der dauerhaften Austerität“ überzuleiten. Eine wichtige Auswirkung dieser Entwicklungen ist der Aufstieg des sogenannten Prekariats, das, unterstützt und begünstigt von der rechten Presse, dazu ermuntert wurde, in der Fremdenfeindlichkeit einen idealen Blitzableiter zu sehen. In Anbetracht ihrer anfänglichen Kritik an den wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeiten der früheren Politiken bleibt abzuwarten, ob diese Form des Staates unter der Regierung von Mrs. May überleben wird. Wie auch immer, das Prekariat wird davon jedenfalls nicht profitieren.

Die Krise der Euro-Zone

Der internationale Kontext für die britischen Entwicklungen waren eine Wirtschafts- und Finanzkrise in der Europäischen Union, besonders in der Euro-Zone, ein sich verschärfendes demokratisches Defizit ihrer politischen Institutionen, die Hegemonie Deutschlands in Nordeuropa und seine Vormachtstellung gegenüber Südeuropa, die Wirtschaftsmigration und die Flüchtlingskrise. Über Europa hinaus bestimmte die Verschiebung des globalen Zentrums der ökonomischen Anziehungskraft nach Ostasien das Bild. Diese Faktoren bestätigten die Meinung, die britische Souveränität werde den europäischen Institutionen geopfert, und das obwohl der reale Verlust der Souveränität eher eine zeitlicher denn ein territorialer war. Er beruhte eher auf der Bewegung und auf der Macht des transnationalen Kapitals als er auf formalen juristisch politischen Beziehungen zwischen Nationalstaaten.

Die Krise der Euro-Zone wurde zum Teil durch Ansteckungseffekte ausgelöst, die sich aus der transnationalen Integration der Kreditbeziehungen entwickelten. Diese Effekte wurden besonders deutlich, als die europäischen Finanzinstitutionen toxische Wertpapiere kauften. Die Ansteckung wurde von einer allgemeinen Liquiditätskrise, einer Verstärkung der globalen Ungleichgewichte und durch den Rückgang des Welthandels noch verstärkt. Darüber hinaus gab es jedoch „heimische“ Anteile an der Krise. Dazu gehört eine durch Ponzi-Finanzierung (nach dem US-amerikanischen Betrüger Charles Ponzi benannter Finanzbetrug, der dem Schneeballsystem ähnlich ist) induzierte Rezession, die wiederum mit der Immobilien-Blase in Spanien und Irland und auch der Wettbewerbskrise in verschiedenen EU-Ländern verbunden war. Die EU wurde zunehmend gemäß neoliberaler Leitlinien wie Wettbewerbsfähigkeit, Stabilität, Wachstum, ökonomische Governance, Haushaltspakte organisiert. So gibt es etablierte Reaktionen für das Krisenmanagement in Fällen von Liquiditätskrisen, Spekulationsblasen und Herausforderungen nationaler Wettbewerbsfähigkeit. Wesentlich gravierender wirkte sich jedoch der unrealistische Traum einer Europäischen Währungsunion ohne stärkere fiskalische und politische Integration auf die Entwicklung der Krise in der Euro-Zone aus. Dadurch können die großen nationalen Divergenzen zwischen Akkumulationsregimen, Arten der Regulation, gesellschaftlichen Machtkonstellationen und wirtschaftlichen Vorstellungen nicht angegangen werden. Diese Probleme wurden durch den kurzfristigen Boom verdeckt, der in der Folge der Einführung des Euro entstand, als Kredite vom Norden in den Süden flossen. Die Ansteckungsgefahr verschränkte sich mit diesen grundlegenden strukturellen Schwächen und destabilisierte die südeuropäischen Ökonomien, die die Euro-Zone nicht verlassen dürfen und gleichzeitig ihre Exporte auf einem geschwächten Weltmarkt nicht steigern können.

Das Ergebnis ist eine Schulden-Zahlungsverzugs-Deflations-Falle die durch kapitalistische Marktkräfte verschärft wird. Die hausgemachte ebenso wie übertragene Austeritätspolitik intendierte eine interne Entwertung. Dazu kamen die Konditionen und Sanktionen, die von der Troika durchgesetzt wurden. Letztere setzt sich zusammen aus der Europäischen Zentralbank, der Europäischen Kommission und dem Internationalen Währungsfonds, die gemeinsam die Aufgabe erledigen, Bedingungen für die souveräne Rettung in der Euro-Zone durchzusetzen und zu kontrollieren. Damit wurden Tendenzen in Richtung eines neoliberalen Autoritarismus verstärkt, der Überwachung und der präventiven Polizeiarbeit kombiniert, um Massenwiderstand einzudämmen, zu unterdrücken oder zu blockieren. Insgesamt gesehen wird die Last der Anpassung überall auf subalterne Gruppen verlagert, ganz besonders aber in den Defizit-Ländern der Euro-Zone. Davon profitieren sowohl die herrschenden transnationalen profit- und zinsschöpfenden Kapitalfraktionen als auch die geopolitischen Interessen der führenden Mitgliedsstaaten und ihrer transatlantischen Verbündeten. Neuere Forschungsberichte des IWF und seines Independent Evaluation Office erkennen jetzt die Torheit dieses Ansatzes, insbesondere für Griechenland. Allerdings haben derartige immer wiederkehrende Eingeständnisse nur einen sehr begrenzten Einfluss auf jene, die diese Politik tatsächlich machen und durchsetzen.

Auswirkungen auf das Referendum

Die Vorherrschaft des Neoliberalismus deutet darauf hin, dass die Alternativen, die im Referendum zur Wahl standen, irreführend waren: Die wirklich Wahl wäre zu treffen gewesen zwischen in oder aus dem Neoliberalismus anstelle von in oder aus der Europäischen Union. So wie sie gestellt wurde, waren die Wahlmöglichkeiten schlecht definiert:

„... die Fragen, die zur Wahl standen, boten zwei Möglichkeiten „Bleiben oder Gehen“ ohne einen einzigen Hinweis darauf, was die Realisierung der einen oder der anderen Möglichkeit beinhaltete. „Bleiben“ könnte als einfache automatisch Wahl erscheinen, aber die Folgen wären abhängig von der zukünftigen Entwicklung der EU, die sich bereits in der Krise befindet und die auf zentrale Veränderungen mit unabwägbaren Folgen zugeht. Und „Gehen“ umfasst, wie wir jetzt alles sehen können, so viele unterschiedliche Varianten, dass ein Konsens darüber, welche dieser Varianten mit welchen Folgen zu wählen sei, unvorstellbar ist.“ (fosforos 2016)

Eine Wahl zwischen Aus- oder Eintritt würde die allumfassende Vorherrschaft des Neoliberalismus nicht tangieren – nur dessen spezifische Form und Vermittlung. Eine Stimme für das Verbleiben in der EU hätte ein autoritäres neoliberales konservatives Regime konsolidiert, das sich der fortdauernden Austerität verpflichtet fühlt. Die Abstimmung für den Brexit könnte eine Depression bewirken, die im günstigsten Fall eine letztendliche Erholung unterhalb eines langfristigen trendlinienförmigen Wachstums auslöst. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass es zu einer säkularen oder langfristigen Stagnation und einer verstärkten Austeritätspolitik führt. Der zentrale Aspekt allerdings, der im Wesentlichen nicht angesprochen wurde, war die Tatsache, dass die realen oder imaginierten Krisensymptome keineswegs durch die Mitgliedschaft in der EU verursacht wurden. Vielmehr beruhten sie auf ihrer neoliberalen Form, der Mobilität des Kapitals und weniger der der Arbeiterschaft, der Krise des Krisenmanagements in der Euro-Zone und auf dem langanhaltenden Versagen bei der Behandlung einheimischer Probleme, das die ökonomische und außerökonomische Wettbewerbsfähigkeit unterminierte.

Ähnliche Probleme wurden anhand der konventionellen Weisheiten rund um das Referendum offensichtlich. Ein zentraler Aspekt der allgemeinen Unzufriedenheit ergab sich aus der Bedeutung, die die neoliberale Politik für die Zunahme des Prekariats hatte, nämlich ungleiche regionale Entwicklung, Wohnungsnot und eine chronische Krise des Gesundheitssystems. So gab es nach Zoe Williams (eine bekannte englische Feministin und linke Journalistin, die u.a. für den Guardian schreibt) keine nennenswerten Anstrengungen bestimmte Annahmen zu hinterfragen, und zwar folgende:

„Menschen, die gegen die Freizügigkeit innerhalb der EU sind, werden auch immer dagegen bleiben. Es ist sinnlos, die Menge der Irrtümer von Labour erklären zu wollen, weil das als noch mehr elitistischer Spott interpretiert würde. Die öffentlichen Einrichtungen stehen unter enormen Druck, weil es so viele Einwanderer gibt und nicht weil wie unterfinanziert sind. Immobilien sind so teuer, weil der Bedarf daran so groß ist und nicht weil eine kapitalistische Klasse, befähigt durch ungleiche Verteilung, die Mieten hoch treibt. Die Wähler haben gesprochen, deshalb müssen unsere humanitären Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen zurückgestellt werden, und zwar so weit, dass wir gar nicht erst mehr darüber sprechen. Die städtischen Eliten müssen einfach akzeptieren, dass sie die Immigration außer Kontrolle geraten ließen und dass sie dafür den Preis bezahlen müssen, der aus Misstrauen ungeahnten Ausmaßes und nicht voraussehbarer Dauer besteht.“

Was nun?

Nach dem Schock, der durch die unerwarteten 51,9 %, (bei einer Wahlbeteiligung von 72,2 %) die der Brexit im Referendum erhielt hervorgerufen wurde, hat sich der politische Machtblock erstaunlich erholt. Wie Gramsci in Bezug auf andere Krisenkonjunkturen bemerkte:

„Die traditionelle herrschende Klasse, die über zahlreiche geschulte Kader verfügt, verändert Menschen und Programme und gewinnt die Kontrolle, die ihnen zu entgleiten begann, schneller zurück als sie durch die subalternen Klassen gewonnen werden konnte. Sie mag dabei Opfer bringen müssen ... aber sie behält ihre Macht, verstärkt sie für den Moment und nutzt sie, um den Gegner zu zerdrücken.“ (1971)

Das lässt sich daran erkennen, mit welcher Geschwindigkeit die Konservative Partei ihre neue Führung wählte, um eine Regierung zu kontrollieren, die nun moralisch verpflichtet ist, den Brexit voranzubringen. Jetzt geht es darum, wie die herrschende Klasse und die politischen Eliten ihre Macht einsetzen werden, um die Interessen der vorherrschenden Fraktionen des nationalen wie transnationalen Kapital zu verteidigen. Und wie sie gleichzeitig eine geteilte Öffentlichkeit mit den Ergebnissen der Brexit-Verhandlungen zufrieden stellen kann. Die Anrufung des Artikels 50 des Vertrags von Lissabon, die erfolgen muss, um die formalen Austrittsverhandlungen beginnen zu können, wurde verschoben, möglicherweise bis nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland im Jahr 2017 und mit der stellschweigenden Billigung der gegenwärtigen Regierungen der beiden Länder. Damit wird es den Eliten aus Wirtschaft, Finanzwelt und Politik ermöglicht, sich auf die Aussage von Mrs. May „Brexit bedeutet Brexit“ einzustellen, während es ihnen gleichzeitig Zeit gibt, die Regierungsmaschinerie und die staatlichen Kapazitäten zu installieren, mit deren Hilfe neue Verträge und Handelsabkommen ausgehandelt und implementiert werden können. Die Anzahl der Beschäftigten im Staatsapparat ist so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht mehr, doch gerade jetzt muss die Administration expandieren, um mit diesen komplexen Aufgaben fertigzuwerden, also die erforderliche Gesetzgebung vorbereiten und einen unabhängigen diplomatischen Dienst ausbauen. Dem Minister für den Austritt aus der EU (umgangssprachlich als Brexit-Minister bezeichnet), David Davis, ist es bisher nicht gelungen, Ressourcen aus anderen Regierungsbehörden zu mobilisieren, da diese dabei sind, ihre eigenen internen Brexit-Teams aufzustellen. Wahrscheinlich wird die Verfolgung des Brexit-Projekts auf Grund der divergierenden Interessen der unterschiedlichen Ministerien in Hinsicht auf Wirtschaftsförderung und ihre anderen Verpflichtungen gegenüber Europa und der Welt stark fragmentiert werden.

Außerdem hat die Arbeit der drei direkt an den Austrittsverhandlungen beteiligten Ministerien solange keine sichere institutionelle oder legale Basis, wie der Artikel 50 noch nicht angewendet wird. Davis kann nicht mit einzelnen EU-Mitgliedern verhandeln, bis die EU sich auf eine gemeinsame Position in Bezug auf den Umgang mit dem Artikel 50 verständigt hat. Das Vereinigte Königreich ist immer noch EU-Mitglied, und die EU ist gemeinsam verantwortlich für Verhandlungen zu Handelsabkommen mit Partnern außerhalb der EU. Das heißt, dass Liam Fox (der Minister für internationalen Handel) kein klares institutionelles Mandat hat. Des Weiteren sind diese Drei (Boris Johnson als Außenminister eingeschlossen) letztlich dem Finanzministerium und dem Schatzkanzler gegenüber in der Pflicht. Alle neuen institutionellen Arrangements in Großbritannien müssen in die ökonomische Strukturen eingepasst werden. Und schließlich müssen alle Drei sich mit dem Innenminister verständigen, der für die Einwanderungspolitik zuständig ist, so dass das der Ort ist, an dem Sonderfälle für solche Gruppen ausgehandelt werden müssen, die besonders abhängig von ausländischen Arbeitskräften sind Das sind insbesondere das Finanzgewerbe, die Gesundheitsversorgung und die Landwirtschaft.

Darüber hinaus zeigt es sich als äußerst schwierig, Vertrags- und Handelsexperten für die Brexit-Verhandlungen zu gewinnen, weil diese Aktivitäten bisher an die EU delegiert wurden. Im August 2016 verfügte die Regierung über nicht mehr als 20 in Handelsverträgen erfahrene Experten, gegenüber 600 bei der EU-Kommission und noch weit mehr bei der WTO. Den Regeln der WTO wird sich Großbritannien unterwerfen müssen, wenn es die EU verlässt, und mit ihr muss es die Fahrpläne verhandeln, die den Handel und die Dienstleistungen betreffen. Auch die USA verfügen über sehr erfahrene Verhandler, die einer harten Linie folgen werden. Zwar hat die Regierung sich jetzt auf die Suche nach 300 Experten begeben, die aber nur schwer zu finden sind. Andere Experten arbeiten bei Unternehmensberatungen und Anwaltskanzleien, die mit lukrativen Aufträgen rund um den Brexit rechnen können. Damit dürften sich die Erwartungen auf eine neoliberale Entwicklung nur noch verstärken. Besondere Privilegien für die City of London, insbesondere für Investmentbanken könnten zu einem Brexit „light“ führen, bei dem das Vereinigten Königreich Gebühren für den kontinuierlichen Zugang zum gemeinsamen Markt entrichten müsste. Das allerdings nur unter der Bedingung, dass dafür nicht andere, politisch gleichfalls sensible Interessen geopfert werden, z.B. der Gartenbau (der sehr stark von saisonal beschäftigten europäischen Arbeitsmigranten abhängt), die Fischereiquoten und die Autoindustrie. Es wird außerdem immer wahrscheinlicher, dass Übergangsregelungen gefunden werden müssen, um Kapital und Arbeiterschaft vor einem „Sturz von den Klippen“ zu bewahren, wenn der Austritt aus der EU 2019 wirksam wird. Das wird sicherlich kontrovers diskutiert werden und wohl eine populistische Gegenreaktion auslösen, die von der rechten Presse befeuert werden wird. Mindestens zwei dezentrale Regierungen verfolgen darüber hinaus eine Politik, die mit der der Zentralregierung im Konflikt steht. Schottland könnte ein weiteres Referendum zu seiner Unabhängigkeit durchführen, während Nord Irland eine Vereinigung mit der Republik Irland anstreben könnte. Kurz gesagt, die Krise des britischen Staates im Vereinigten Königreich setzt sich fort und sie verschlimmert sich noch durch die fortwährende Krise der multi-räumlichen Metagovernance in Europa.

Die Repräsentationskrisen, die zur britischen organischen Krise beitragen, wurden durch das Brexit-Votum verschärft. Das lässt sich schon an der Konservativen Partei beobachten. Sie ist in zwei sich erbittert bekämpfende Lager geteilt, die „harten“ und die „weichen“ Brexitbefürworter. Damit spaltet sie sich auch in diejenigen auf, die die Kontrolle der Immigration in den Vordergrund stellen und für freie weltweite Handelsabkommen aussprechen und diejenigen, die im gemeinsamen Markt bleiben wollen und dafür die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Kauf nehmen würden. Beweis dafür ist auch die Labour Party mit ihrer gefährlichen Spaltung zwischen dem Rumpf der Blairschen Labour Partei im Parlament und der Partei selbst, die inzwischen deutliche Züge einer sozialen Bewegung angenommen hat und damit kaum Regierungspartei sein könnte. Auch die Diskussion über die Zukunft von UKIP verweist auf die Krise. Sie könnte sich neu positionieren, um die Stimmen der Arbeiterschaft im Norden zu gewinnen. Das könnte eintreten, wenn sie ihren in Platz im Europarlament und in der EU allgemein verliert und außerdem in Schottland Wahl- und andere Kämpfe zwischen rivalisierenden Tendenzen und Parteien über ihren Status in der EU und dem Vereinigten Königreich beginnen.

Auch die Legitimitäskrise ist immer noch akut und könnte sogar gravierender werden, wenn sich die öffentliche Meinung, angestachelt von der Pro-Brexit-Presse, sich vom Fortschritt der Verhandlungen enttäuscht sieht und die Regierung verdächtigt, eine rückwärtsgewandte Politik umzusetzen. Auf jeden Fall werden die Schwierigkeiten bei den Austrittsverhandlungen die strategische Unfähigkeit des politischen Systems bestätigen. In der Tat sieht es so aus, als sei der Brexit die Fortsetzung der organischen Krise mit anderen Mitteln. Auch wenn er es zu stark personalisiert und die institutionelle Dimension des Problems ignoriert, so belegen Ian Dunts (politischer Kommentator und Herausgeber einer populären politikwissenschaftlichen Zeitschrift) Schlussfolgerungen dies:

„Die britische Regierung nähert sich dem Brexit sehr unbeholfen; sie bewertet den Gegner falsch; unterschätzt die Herausforderungen und priorisiert kurzfristige politische Interessen gegenüber langfristigen des ganzen Landes. Unsere Minister haben ihre Hebel außer Kraft gesetzt, während es ihnen nicht gelungen ist, den bei der EU liegenden Vorteil zu neutralisieren. Mit dieser Mischung aus Ignoranz und ideologischer Raserei führen sie Großbritannien in einen harten, chaotischen Brexit.“ (Dunt 2016: 154-50)

Eine andere, wenngleich damit verbundene Gefahr besteht darin, dass die anhaltenden Versuche, die City of London zu schützen dazu führen, die Austeritätspolitik beizubehalten. Oder um es allgemeiner zu fassen: eine sich verlangsamende Wirtschaftsentwicklung führt zu geringeren finanziellen Mitteln und politischer Unterstützung, wenn das Problem ungleicher Entwicklung in Angriff genommen werden soll. Dies geschah insbesondere mit dem Versuch George Osbornes durch die Verbindung der Städte Greater Manchester, Liverpool, Sheffield, Leads und Bradford, das Northern Powerhouse, ein Gegengewicht zu London zu bilden. Ähnlich verhielt es sich mit der sogenannten Midlands Engine, die als Antwort darauf ein Wirtschaftszentrum rund um Birmingham schaffen soll. Diese rivalisierenden regionalen Vorstellungen mit ihren jeweiligen Zentren der wirtschaftlichen Anziehungskraft in Manchester und Birmingham werden kaum ausreichendende Mittel mobilisieren können, solange es an intensiven industriepolitischen Initiativen und erhöhten Budgets fehlt. Wenn nicht geliefert würde, würde das die allgemeine Ablehnung nur noch verstärken. Auch das Erbe einer balkanisierten britischen Wirtschaft stellt ein weiteres Hindernis dar, wenn die Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung zurückgewonnen und die Bedingungen für eine nachhaltige Erholung neu ausbalanciert werden sollen. Wenn, was vor allem nach Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten immer unwahrscheinlicher zu werden scheint, TTIP in Kraft treten sollte, oder Großbritannien zu den Unterzeichnern von CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) gehören würde, so würde das deutlich machen, dass die Souveränität tatsächlich verloren geht. Verhandlungen im Rahmen der WTO würden dieselben Probleme beinhalten.

Schlussfolgerungen

Die vorangegangenen Ausführungen könnten den Eindruck erwecken, als würde der Ansatz von Jeremy Corbin, dem Chef der Labour Partei während der Kampagne um den Brexit unterstützt werden. Dieser forderte: „Bleiben und Reformieren“. Um es allgemein zu sagen, wenn auch nicht notwendigerweise so wie es die verbleibenden Strömungen in der Labour Partei ausdrücken würden, hätte diese Forderung Volkskämpfe impliziert mit dem Ziel, demokratische Defizite aufzuheben, die monetäre Union zu einer Fiskalunion zu erweitern, also eine Transfer- und solidarische Union zu schaffen, die das Vereinigte Königreich als Mitglied einschließt. Darüber hinaus hätte es eine Bewegung erfordert, die über neoliberale Strategien hinausgeht und auf einen rot-grünen Ansatz zur Lösung europäischer und globaler Probleme zielt. Solche Politiken würden den Handlungshorizont sowie sinn- und wertvolle Zielvorstellungen für die künftige Mobilisierung zur Verfügung stellen. Allerdings wäre diese angesichts der überkommenen Strukturen im Vereinigten Königreich, in Europa und in der umfassenderen atlantischen Wirtschaftsregion, die eingebunden ist in die weiterhin bestehende Dominanz der USA, nicht unmittelbar zu realisieren.

Beim Brexit handelt es sich um eine derart mehrdeutige Vorstellung und um einen so komplexen Prozess, dass seine aktuelle Bedeutung schwer zu definieren und sein zukünftiger Ablauf ebenso schwer zu erkennen ist. Im Verlauf der nächsten zwei oder drei Jahre werden wir einen Prozess beobachten können, der einem dreidimensionalen Schachspiel gleicht, bei dem viele Teilnehmer und noch mehr Stakeholder mitspielen, die sich nach unsicheren Regeln richten und die offen sind in Bezug auf konkurrierende Neuverhandlungen. Obwohl sich die die politische Situation und die politische Szene mit dem Ergebnis des Brexit-Referendums verändert haben, wird die politische Konstellation immer noch vom doppelten Helix geformt, wie er sich aus den ererbten strukturellen Hindernissen sowie der organischen Krise des britischen Staates und der britischen Gesellschaft und analogen Phänomenen in der Europäischen Union ergeben hat. Mit dieser Anmerkung soll weder ein Defätismus oder Fatalismus noch ein zynischer Opportunismus in den nächsten Jahren gerechtfertigt werden, obwohl diese sicherlich in einigen Kreisen auftreten werden. Aber sie will zu einer realistischen Analyse der besonderen Konstellation aufrufen, die sich wegbewegen sollte von der Suche nach taktischen Siegen in einer Periode, in der die Linke sich längst in einer strategischen Defensive gegenüber dem Neoliberalismus befindet, der, wie Peck beobachtet hat, aus seinen Fehlern zu lernen scheint. Eine solche strategische Umorientierung macht es erforderlich, das Gleichgewicht der Kräfte mit Hilfe einer allgemeinen Mobilisierung zu verschieben, wobei soziale Bewegungen mit Parteiorganisationen miteinander verbunden werden sollten. Dabei sollten auch die Spannungen und Konflikte, die durch geopolitische Rivalitäten und lokale Unterdrückung verursacht werden, berücksichtigt werden.

Literatur:

BBC News (2016). Brexit: Key quotes from non-UK figures, 12 October. Retrieved 23 December 2016 from http://www.bbc.co.uk/news/world-europe-37632305

Dunt, I. (2016). Brexit. What the Hell Happens Now? London: Canbury Press.

Elgot, J. (2016). Theresa May calls for 'red, white and blue Brexit. Guardian 6 December.

fosforos (2016). Comment on Naked Capitalism website. Retrieved August 3, from http://www.nakedcapitalism.com/2016/08/brexit-realism-maybe-voters-were-not-dumb.html#comment-2647912

Gramsci, A. (1975). Quaderni del carcere, 4 volumes, Turin: Einaudi.

Williams, Z. (2016). Think the north and the poor caused Brexit? Think again. Guardian. https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/aug/07/north-poor-brexit-myths

Übersetzung: Eva-Maria Krampe

(Bei diesem Beitrag handelt es sich um die für das links-netz am 23.12.2016 aktualisierte Fassung eines Artikels, der in Globalizations (2016, 14:1, 133-41) veröffentlicht wurde.)

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