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Schieflage mit System – die WTO in Hongkong

Gregor Kaiser

Nun hat sie sich doch ins neue Jahr gerettet, ohne dass groß von Niederlage, Ende oder Scheitern die Rede wäre. Mit Abschluss der 6. WTO-Ministerkonferenz in Hongkong am 18. Dezember machten die 149 Regierungen dem Generalsekretär Pascal Lamy wahrscheinlich das schönste Weihnachtsgeschenk. Im Gegensatz zu zwei früheren Konferenzen in Seattle (1999) und Cancun (2003) gelang es, zumindest auf dem Papier Kompromisse zu erzielen – und das unter direkter Beobachtung der sogenannten Zivilgesellschaft, die in Doha (2001), dem Ort der Konferenz zwischen Seattle und Cancun, quasi ausgeschlossen war. Dort war es auch, wo der dem aktuellen Treffen zugrunde liegende Verhandlungsauftrag, die Doha Development Agenda, verabschiedet wurde. Anhand von vier Thesen will ich meine Eindrücke von Hongkong im folgenden kurz darstellen:

  1. Das Ergebnis der Konferenz ist trotz der geringen inhaltlichen Substanz für die WTO das Beste, was sie derzeit – aus ihrer Sicht – erreichen konnte, und ist auch für einen Teil der dominanten Kräfte einiger Entwicklungsländer nicht nur schlecht.
  2. Es zeichnet sich nicht ab, dass es, wie wir es in Cancun erlebt hatten, zu neuen schlagkräftigen Südallianzen kommt.
  3. Anhand des Umgangs mit dem TRIPS-Abkommen lässt sich erkennen, wie Inhalte Verhandlungsmasse sind und neue Terrains vorbereitet werden. Dieser Prozess lässt sich ggf. in Erweiterung der bestehenden Begriffe wir forum hopping oder forum shifting als forum movement bezeichnen: Einzelne Akteure verlagern den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf ein neues Terrain, ohne das alte aus dem Blick zu verlieren.
  4. Die medial transportierten – weltweit, aber auch in Hongkong selbst – vielfach gewalttätige Auseinandersetzungen zeigenden Bilder der Proteste rund um die Konferenz dokumentieren nur einen winzig kleinen Ausschnitt der vielfältigen und bunten Aktivitäten in Hongkong. Die Kommunikation dieser Vielfalt und auch der breiten Unterstützung vor Ort ist eine wichtige Aufgabe, der sich NGOs und soziale Bewegungen verstärkt widmen sollen.

1.

Es hat einen Kompromiss gegeben. Man hat eine Grundlage geschaffen, 2006 darüber zu verhandeln, was eigentlich schon 2004 hätte beschlossen werden sollen. Aus 50 Seiten bedrucktem Papier besteht die Ministerial Declaration – zwei Seiten hätten es auch getan, wenn alle substantiellen Änderungen nur kurz aufgeführt worden wären. Mit Entwicklung und Wohlstandsmehrung in den Südökonomien – was immer auch darunter verstanden wird –, wie in Doha 2001 ausgemacht, haben die Ergebnisse jedoch wenig zu tun. Der Standard (Wien) kommentiert am 19.12. folgendermaßen: „Den schönsten Coup landeten einmal mehr die Amerikaner: Sie bauen die Exportsubventionen für Baumwolle schon 2006 ab. Es gibt nur gar keine Exportsubventionen bei Baumwolle, das Allermeiste läuft hier über interne Stützungen. Dafür gewährt die USA auch Zollfreiheit auf die Baumwolle aus Westafrika. Sehr schön, nur importieren die USA gar keine Baumwolle. Vergleichbar ist diese Großzügigkeit mit Zollfreiheit auf Polardorsch aus Afrika oder Erdbeeren aus Grönland. So kreativ in der Armutsbekämpfung haben wir uns die WTO vorgestellt.“1 So ging und geht es vielen Bereichen: Die Festlegung des Auslaufens der Agrarexportsubventionen der EU auf 2013 ist zwar zu begrüßen, ein Grund zum Feiern ist es nicht. Bereits 2004 hat die EU das Auslaufen der Exportsubventionen versprochen; im November sagte ein Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums bei einer Veranstaltung in Bonn sinngemäß: Bis 2013 oder 2015 müssen wir die Exportsubventionen sowieso auslaufen lassen, die können wir dann gar nicht mehr finanzieren. Jetzt versuchen wir aber noch, für die Festlegung eines Datums etwas in anderen Verhandlungsbereichen zu bekommen, z.B. die Zustimmung zur Schweizer Formel in den NAMA-Verhandlungen2. Auch das sogenannte Development Package sieht auf den ersten Blick gut aus: Gefüllt mit vielen Milliarden Euros Aid for Trade, zoll- und quotenfreiem Marktzugang für LDCs3 und Zugangsmöglichkeiten für lebenswichtige Medikamente ist es aber nach genauerer Betrachtung leer bzw. füllt auch noch die Kassen der Industrieländer. Erstens: Zoll- und quotenfreier Marktzugang wird den meisten LDCs von den USA und der EU bereits gewährt – für das Zustandekommen des Pakets müssten sie aber Zugeständnisse in anderen Bereichen machen, die sie mit voller Wucht treffen, sobald sie den Status des LDC verlassen. Und dieser Zugang gilt nur für 97% der Exporte – die 3%, die beschränkt werden dürfen, sind dann genau die Bereiche, wo die Entwicklungsländer konkurrenzfähig wären (z.B. Textil). Zweitens: Entwicklungshilfe (Aid) soll die Exportfähigkeit (Trade) stärken – eine merkwürdige Kompensation ungerechter Wirtschaftsstrukturen. Weiterhin fehlt das Geld, da es aus den Etats der Entwicklungshilfeministerien stammt, dann für wirkliche Hilfsprojekte. Und Drittens: Die Zwangslizenzregelungen für Medikamente werden aufgrund ihrer Komplexität keinem AIDS-Kranken den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten ermöglichen (s.u.).

Aber dennoch: Die Regierungen und Pascal Lamy haben erreicht, was sie aus ihrer Sicht erreichen mussten: Die Verhandlungen gehen weiter, alle Themenbereiche sind auf der Tagesordnung geblieben, geringere Zugeständnisse an die Entwicklungsländer werden von der konservativen Presse als positives Ergebnis dargestellt4 und insgesamt kann sich die WTO in einem besseren Licht sonnen, als in den vergangenen zwei Jahren. Und auch für manche Entwicklungsländer sind die Ergebnisse nicht nur schlecht. Die Flexibilitäten und Nicht-Festlegungen in den Bereichen NAMA und Dienstleistungen können noch von den größeren Entwicklungsländern genutzt werden, um für ihre Ökonomien sinnvolle Abschlüsse in den kommenden Verhandlungen in Genf zu treffen. Und auch die Festlegungen im Agrarbereich sind zwar viel zu wenig, aber immerhin hat sich die EU nach fünftägigem Verhandlungspoker noch auf das Jahr 2013 festgelegt. Lichtblicke sind hierin jedoch nur zu erkennen, wenn man erstens annimmt, es handele sich bei WTO-Verhandlungen um Treffen gleichberechtigter Partner und zweitens denkt, derzeitige Handelspolitik lasse sich zum Wohle aller Menschen gestalten.

2.

Reclaiming the Development Agenda war der wichtigste Anspruch, mit dem viele Südregierungen nach Hongkong reisten. Ihrer Ansicht nach waren die Verhandlungen der letzten Jahre immer mehr zu reinen Marktzugangsverhandlungen geworden, wo alles, was unter den Begriffen Special and Differential Treatment, special products oder spezielle Schutzmechanismen verhandelt werden sollte, auf die lange Bank geschoben wurde. So kam es dann auch in Hongkong gleich nach der Eröffnungsveranstaltung erstmalig zu einem Treffen der wichtigsten Gruppen der Entwicklungsländer, welches in der formellen Gründung der G110 – Gruppe der 110 Länder, mehr als 2/3 aller WTO-Mitgliedsstaaten – mündete. In einem Statement forderte die Gruppe u.a. das Auslaufen aller Exportsubventionen bis 2010 und bestärkte die Bedeutung der Verhandlungen im Agrarbereich. Schnell wurde die Konstellation als historisch ausgerufen und manche Beobachter sahen schon ein schlagkräftiges Gegengewicht zur Triade (USA, Europa, Japan) entstehen. Weiterhin kam es in Hongkong – ähnlich der Bildung der G20 in Cancun im Agrarbereich5 – zur Bildung von Entwicklungsländerkoalitionen zu den Themenkomplexen NAMA und Dienstleistungen, die Alternativvorschläge in die Verhandlungen einbrachten und gemeinsam das Wort ergriffen. Insbesondere im Dienstleistungsbereich schien es zwischenzeitlich so, als würden die Verhandlungen platzen und die Delegationen könnten unverrichteter Dinge wieder abreisen. Die G906 legte einen Alternativtext zu dem umstrittenen Anhang C vor, der v.a. den von den Industrieländern geforderten plurilateralen Verhandlungsansatz zurückwies. 5 Länder – Venezuela, Cuba, Indonesien, Philippinen und Südafrika – kündigten an, keinen Anhang C zu unterschreiben, der ihren Interessen widersprechen würde. Zwei Nächte später sah das ganze schon wieder anders aus. Der in der Ministererklärung aufgenommene Text zu Dienstleistungen unterscheidet sich nicht viel von demjenigen zu Beginn der Verhandlungen, aber der Protest der fünf ist kaum mehr zu hören, von Konferenzabbruch nicht mehr die Rede. Venezuela und Cuba erheben zwar in der Abschlusszeremonie zur Überraschung des Chairs, Hongkongs Wirtschaftsminister Tsang, noch einmal die Stimme, aber nur um konsequenzenlose Unzufriedenheit zu bekunden.

Der Nord-Süd-Gegensatz schien die Verhandlungen zu dominieren. Die USA, Japan und die EU auf der einen Seite, die alten und neuen Allianzen der Entwicklungsländer auf der anderen. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Länder wie Brasilien, Indien oder Südafrika haben relativ wenig gemeinsam mit Bangladesh, Burkina Faso oder Mauritius, darüber darf auch die Gründung der G110 nicht hinwegtäuschen. Jene wollten ein Scheitern der Konferenz in jedem Fall vermeiden, versprechen sie sich doch ebenso wie die Industrieländer mehr Vor- als Nachteile von dieser Verhandlungsrunde und ihren Liberalisierungsschritten. Nicht umsonst sind Indien und Brasilien neben den USA, EU und Australien Teil der sogenannten FIPS-Gruppe, die immer dann zusammengerufen wird, wenn es brenzlig wird und grundlegende Entscheidungen im kleinen Kreis vorbereitet werden müssen. So verwundert es nicht, dass die Handelsminister von Indien und Brasilien den Ausgang der Konferenz als Erfolg darstellten, während ihr Kollege aus Mauritius in der BBC von „Verzweifelung und Abscheu“ sprach. Eine neue Einheit des Südens ist m.E. nicht festzustellen, jede Regierung versucht so gut sie kann, Verbesserungen für ihr Land zu erreichen; im power bargaining ist sich jeder selbst der nächste.

3.

Das TRIPS-Abkommen ist sicherlich eines der umstrittensten Abkommen innerhalb der WTO, u.a. aufgrund der Konflikte um Patente auf Medikamente sowie der geschaffenen Patentierungsmöglichkeiten für Gene, Pflanzen etc. In Hongkong stand das Abkommen eigentlich nicht auf der Tagesordnung, da bereits im Vorfeld Vereinbarungen getroffen worden waren, die als Teil des Entwicklungspakets von den Regierungen der Industriestaaten gepriesen wurden. Dennoch spielten TRIPS und Fragen geistiger Eigentumsrechte in Hongkong eine große Rolle – innerhalb des Verhandlungsgeschehens, aber v.a. auch außerhalb bei sogenannten Side Events von Nichtregierungsorganisationen oder im Rahmen des Hongkong Trade and Development Symposiums – und an den zahlreichen Diskussionen kann man gut erkennen, dass die WTO immer noch einer der wichtigsten Orte ist, an dem Terrains vorbereitet und Positionen abgesteckt werden.

Innerhalb der Verhandlungen sorgte Indien mit einem Vorstoß zum Thema Biopiraterie dafür, dass nun, nach mehreren Jahren permanenter Aufforderungen, der TRIPS-Rat in Genf sich mit den Fragen der Offenlegung der Herkunft der genetischen Ressourcen bei Patentanmeldung befassen und bis zum Sommer 2006 über die Fortschritte berichten muss. Zu vermuten ist, dass die EU und die USA dieser Forderung Indiens zugestimmt haben, um Fortschritte in den anderen Verhandlungsbereichen zu ermöglichen. Offiziell zugestimmt wurde auch der Änderung des TRIPS-Abkommens, Ländern ohne pharmazeutische Industrie den Import von Generika zu ermöglichen. Vor der 5. Ministerkonferenz in Cancun, Mexico, im Jahr 2003 hatten sich die Regierungen in Genf auf einen Umgang mit dem Konflikt um den kostengünstigen Zugang zu lebensrettenden Medikamenten geeinigt – Zwangslizenzen und Parallelimporte wurden prinzipiell ermöglicht. Die gefundene Regelung, in der WTO-Sprache ein Weaver, wurde aber bis heute noch nicht angewandt, da sie hochkomplex und bürokratisch ist – trotz überteuerter Medikamentenpreise bzw. Mangel an Medikamenten in vielen Ländern. Von allen NGOs wird diese Übernahme einer nicht erprobten Regelung als festen Bestandteil in das TRIPS-Abkommen daher auch als nicht hilfreich kritisiert. Gleiches gilt für die Verlängerung der Umsetzungsfrist für die LDCs. Laut TRIPS-Abkommen hätten sie bis zum 31.12.2005 dieses in ihr nationales Recht umsetzen müssen; sie forderten im Oktober aber eine Verlängerung dieser Frist um 15 Jahre. Gewährt wird nun eine Verlängerung um 7 ½ Jahre, verbunden mit einer strengen Konditionalisierung, die gewonnene Verhandlungsspielraum gleich wieder einschränkt, wenn es bereits einzelne Umsetzungsschritte gegeben hat. Diese beiden Regelungen, denen bereits vor Hongkong zugestimmt wurde, werden von vielen Nord-Regierungen als Teil des sogenannten Development Package gesehen, dass den Entwicklungsländern Hilfestellung geben und Nachteile beseitigen helfen soll. Bei näherer Betrachtung bleiben diese Regelungen aber fast völlig substanzlos, sie lassen sich aber gut im Sinne von making public relations nutzen.

Neben dem offiziellen Konferenzgeschehen zu TRIPS standen Fragen geistiger Eigentumsrechte oben auf der Agenda des Trade and Deveopment Symposiums. Anhand der Darstellungen von Carlos Correa (University of Buenas Aires), Frederick Abbott (Florida State University) oder Susan Finston (American Bioindustry Alliance) lässt sich m.E. sehr schön nachvollziehen, wie wenig die Verhandlungen auf WTO-Ebene mit Entwicklungsmöglichkeiten für Entwicklungsländer zu tun haben und warum die WTO nicht, wie sich manche zu wünschen scheinen, zu einem „echten, fairen und wirkungsvollen globalen Verhandlungsforum“7 werden kann. Solche normativen Ansätze scheinen mir von vorneherein Machtfragen und Kräfteverhältnisse auszublenden, und sie verkennen, warum die WTO gegründet wurde. So wurde z.B. durch TRIPS im Interesse westlicher Regierungen und transnationaler Unternehmen ein globaler Rahmen zur Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte geschaffen – mit Minimalstandards und Ausweichmöglichkeiten. Seit 10 Jahren hat es hier kaum substantielle Fortschritte oder Änderungen gegeben, für viele mächtige Akteure zu wenig. So verlegen sich die EU und die USA auf den Abschluss bilateraler Verträge, die häufig TRIPS-plus Standards beinhalten8. Andere, wie die American Bioindustry Alliance oder der Global Business Dialog sehen durch die Verhandlungen im Rahmen der Biodiversitätskonvention (CBD) ihre Interessen des möglichst weitreichenden Patentschutzes gefährdet und versuchen daher, verstärkt auf die in Hongkong versammelten Akteure Einfluss zu nehmen, möglichst keine der CBD-Regelungen als dem Wirtschaftswachstum förderlich zu betrachten. Gleichzeitig kündigen sie an, in den kommenden Monaten verstärkt Einfluss auf die Verhandlungen im Rahmen der CBD nehmen zu wollen.. Das Setting der WTO-Konferenz ist ein willkommener Anlass, die Positionen zu streuen und zu analysieren, welches forum movement am effektivsten zu sein scheint.

4.

Eine halbe Stunde Fußweg vom Kongresszentrum entfernt war der Victoriapark Treffpunkt und Veranstaltungsort der sozialen Bewegungen, BäuerInnenorganisationen und GlobalisierungsgegnerInnen. Organisiert unter dem Dach der Hongkong People’s Alliance against WTO trafen sich hier tausende Menschen aus der ganzen Welt – der weitaus überwiegend Teil kam aus Asien, v.a. Südkorea, Malaysia, Thailand, Philippinen, Indonesien und Hongkong selbst – um phantasievoll, bunt und mit viel Engagement die herrschende Politiken der WTO; USA und der EU zu kritisieren. No Deal is better than a bad deal!, Junk WTO! oder Kong Yee Sai Mau: Ensure People`s Livelihood, Security and Dignity sind nur einige der Slogans, unter denen der Großteil der Veranstaltungen stand. Viele Workshops fanden statt, in denen eine kritische Bestandsaufnahme gegenwärtiger Entwicklungen durchgeführt und Alternativen diskutiert wurden, so z.B. ein Asian Workshop on TRIPs: Defending Farmers Rights againts Patents on Life oder zu den Auswirkungen von GATS auf die Bildungschancen ärmerer Menschen. Drei Großdemonstrationen fanden statt, am Sonntag vor Beginn der Konferenz, am 13.12. dem Konferenzbeginn und am letzten Konferenztag, wieder einem Sonntag. Die beiden sonntäglichen Demos waren bewusst auf eben diese Tage gelegt – nicht um der auch während eines NGO-Plenums in der Woche geäußerten Hoffnung, den Ausgang der Konferenz mit Demonstrationen beeinflussen zu können, zu entsprechen, sondern um den vielen Tausend philippinischen und indonesischen Haushaltsangestellten in Hongkong die Möglichkeit zur Teilnahme und zur Artikulation ihrer schlechten Arbeitsbedingungen zu geben. Denn sie müssen sechs Tage die Woche arbeiten und haben nur Sonntags frei.

Viele weitere, kleinere Aktionen und Demos fanden statt – dominiert wurde die nationale wie internationale Berichterstattung jedoch von den Aueindersetzungen am Samstag, dem vorletzten Tag der Konferenz. Aber auch schon im Vorfeld wurde seitens der nationalen Medien in Hongkong Angst vor den Globalisierungsgegnern geschürt: Verschwundene Polizeiuniformen und der Kauf von 150 Gasmasken durch eine Einzelperson waren Grundlage vielfältiger Spekulationen über Giftgas- und Terrorakte. Ganz im Gegensatz dazu stand die vielfach anzutreffende Unterstützung, Hilfsbereitschaft und spontane Solidarisierung vieler EinwohnerInnen Hongkongs – auch und v.a. bei den Protesten am Samstag. Der Vermittelung dieser Vielfalt an Protestformen sowie die Darstellung der betroffenen und protestierenden Menschen muss m.E. dringend mehr Priorität seitens z.B. deutscher NGOs eingeräumt werden, auch und v.a. auf Kosten der zeitraubenden und im Ergebnis meistens ernüchternden Informationserhaschung im offiziellen Teil der Konferenz. Denn nur wenn sich die Menschen in Deutschland mit den Protestierenden in den Straßen identifizieren können, wenn sie sehen, dass Menschen ihren Alters, ihres Geschlechts, ihres Berufs, ihrer sozialen Klasse sich gegen die Ausbeutung wehren und Alternativen benennen, kann die neoliberale Wirtschaftsordnung weitere Risse bekommen. Nur dann ist es denkbar, auf breiter gesellschaftlicher Basis eine bessere Welt zu denken.

Wie weiter?

Back on the track – das Motto der KritikerInnen aufnehmend deutet Pascal Lamy in seinem Abschlussstatement an, dass die WTO wieder fahrbereit ist. In den kommenden Monaten werden in Genf die vielen offenen Details ausgearbeitet werden, soll die Doha-Verhandlungsrunde bis Ende 2006 abgeschlossen werden. Viele Zielvorgaben sind festgelegt – wie das Ende der Exportsubventionen 2013 oder die lineare Absenkung der Industriezölle –, aber wie genau diese Ziele erreicht werden, welche Ausnahmen es geben wird, welche Formeln angewandt werden etc., wird Thema vieler Diskussionen in der Schweiz werden. Und spätestens jetzt stellen sich aus kritischer Sicht viele Fragen: Ist es das wirklich? Können nach vier Jahren mehr oder weniger ergebnisloser Verhandlungen noch wirklich Entwicklungsaspekte erwartet werden? Wie sollen sich die NGOs positionieren? Den Zug entgleisen lassen war eine vielfach gestellte Forderung vor Hongkong; ein damit verbundener Stopp der weiteren Liberalisierungsbestrebungen wurde erhofft. Der Zug fährt jedoch nun weiter in die gleiche Richtung wie zuvor, die bisher getroffenen Vereinbarungen zu Industriezöllen (NAMA) und Dienstleistungen scheinen konkreter als der Verhandlungsstand in dem für Entwicklungsländer wichtigen Agrarbereich. Wohin gehen die NGOs und sozialen Bewegungen? Die Aufarbeitung der Erfahrungen von Hongkong steht an, für die kommenden WTO-Verhandlungen, aber auch für den G8-Gipfel in Heiligendam 2007.

Anmerkungen

  1. Diese Aussage trifft den Kern der Ergebnisse, auch wenn sie inhaltlich nicht ganz korrekt ist, denn 10% der amerikanischen Baumwollunterstützungen sind Exportsubventionszahlungen.Zurück zur Textstelle
  2. Non-Agricultural Market Access, hier geht es v.a. um Zollabbau bei Industriegütern, aber auch im Wald- und Fischereiwesen.Zurück zur Textstelle
  3. Least Developed CountriesZurück zur Textstelle
  4. Z.B. unter www.faz.net (Bereich WTO-Konferenz, Wirtschaft): „Kümmerlich ist es [das Ergebnis in Hongkong] für die EU, während die Dritte Welt etwas mehr erreichte.“Zurück zur Textstelle
  5. Die G20 ist die mächtigste Südallianz in den Agrarverhandlungen; sie fordert die schnelle Abschaffung aller Exportsubventionen, den Abbau der internen Stützung und Marktzugang im Norden. Brasilien und Indien sind Wortführer. Weitere Mitglieder: Ägypten, Argentinien, Bolivien, Chile, China, Indonesien, Kuba, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Paraguay, Philippinen, Simbabwe, Südafrika, Thailand, Tansania, Uruguay und Venezuela.Zurück zur Textstelle
  6. Die G90 umfasst 64 WTO-Mitglieder aus drei verschiedenen Gruppen: den Least Developed Countries, der Afrikanischen Gruppe und den AKP-Staaten (Asien, Karibik, Pazifik).Zurück zur Textstelle
  7. Frithjof Schmidt: Die WTO in Hongkong: Viele Chancen verspielt, im Internet unter www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org/.Zurück zur Textstelle
  8. Handelt es sich z.B. um einen bilateralen Vertrag zwischen den USA und einem LDC, darf dieses, trotz nun erweiterter Umsetzungspflichten durch die WTO, diese nicht ausnutzen und muss stärkere Schutzinstrumente für geistiges Eigentum vorsehen, als es das TRIPS-Abkommen überhaupt vorschreibt. Zurück zur Textstelle
© links-netz Februar 2006