Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Rezensionen Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Rezension zu Angelica Balabanoff „Lenin, oder: Der Zweck heiligt die Mittel“

Philippe Kellermann

Als die russisch-stämmige Anarchistin Emma Goldman in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution auf Angelica Balabanoff traf, erschien ihr diese „[k]rank, enttäuscht und gebrochen“ (Goldman 1931: 819) – kaschiert durch einen notdürftig zurechtgelegten Fatalismus: Wer leben wolle, müsse auch grausam und hart sein. Statt grausam und hart zu sein – und wie ihre bolschewistischen Kollegen die Anarchisten als „gemeine Verbrecher“ einzusperren – pflegte Balabanoff die kranke Goldman und bemühte sich, ihr bei der Ausreise zu helfen.

Balabanoff, einst Zierde der Zimmerwalder Linken – in Zimmerwald hatten sich 1915 verschiedene oppositionelle SozialistInnen versammelt, um Möglichkeiten eines gemeinsamen Protests gegen den Krieg auszuloten –, verließ Sowjetrussland zur selben Zeit, als „der erste Revolutionär, der Sowjetrußland freiwillig, aus ethisch-politischen Gründen verlassen hat“ (S.23), wie sie selbst schreibt.

Jahrzehntelang unter widrigsten Verhältnissen lebend, nahm sie sich gegen Ende ihres Lebens ihre Kraft zusammen um – durch die Ereignisse in Ungarn 1956 völlig desillusioniert – über „die unzähligen Verbrechen der Bolschewiki gegen die Menschheit“ (S.19) aufzuklären. Wie bei Goldman, die meinte, dass es mit den Bolschewiki zu einer „Perversion der ethischen Werte“ gekommen sei, repräsentiert „in dem allmächtigen Motto der Kommunistischen Partei: ‚Das Ziel rechtfertigt die Mittel’“ (Goldman 1924: 210) steht auch bei Balabanoff die Ziel/Mittel-Problematik im Fokus ihrer Betrachtungen; und deren verheerende Logik illustriert sie an der einflussreichsten Figur auf Seiten der Bolschewiki: Lenin. So ist es weder eine „Biographie“, „noch ein Überblick über alles, was er geschrieben und getan hat, noch eine erschöpfende Kritik seiner Theorie oder ihrer Anwendung“ (S.20), die die Grande Dame des Sozialismus verfasste, sondern der Versuch dem „psychologische[n] Problem ‚Lenin’“ nachzugehen, „an dem ich niemals Interesse verlor“ (S.59). Anhand vieler eindrücklicher Anekdoten skizziert Balbanoff den Führer der Bolschewiki als die absolute Inkarnation eines Willens zur revolutionären Macht, die zur Erreichung des Zieles alles in Kauf zu nehmen bereit ist. Niemals habe es Lenin aufgrund „dieser seiner Denkungsart“ nötig, „mit seinem Gewissen einen Kompromiß zu schließen. Im Gegenteil“ (S.164). Dabei sei es Lenin, als „echte[m]“ und „überzeugte[m] Revolutionär“ (S.53), nie um seine Person gegangen, vielmehr um die Idee der Befreiung selbst, die sich dabei allerdings in ihm, nur in ihm und seinem Programm inkarniert habe: „Lenin war jedem Andersdenkenden gegenüber intolerant. Aber, wer recht hatte, wessen Lehren und Ansichten befolgt werden mußten, war nicht er, Lenin, sondern irgendein strenggläubiger Bolschewik, Verfechter jener Taktik, die in der ganzen Welt siegen mußte, weil sie die einzig richtige war. Lenin war, wenn man so sagen darf: ein unpersönlicher Diktator.“ (S.25) Die Tragödie bestand nun aber darin, dass „niemand wie er dazu beigetragen hat, die Idee zu entweihen, um derentwillen so viele Opfer gebracht und so viele Gefahren bestanden worden waren“ (S.24).

Balabanoff bestätigt so die Position des Anarchisten Peter Arschinoff, der darauf hingewiesen hat, dass „Lenin (...) nicht nur Parteiführer“, sondern, „was ungleich wichtiger ist, der Führer eines ganz bestimmten psychologischen Typus von Menschen“: „Der grundlegende Zug der Psychologie des Bolschewismus ist: Behauptung seines eigenen Willens durch gewaltsame Beseitigung des Willens aller anderen; absolute Unterdrückung der Persönlichkeit und deren Gleichsetzung mit einem seelenlosen Gegenstande.“ (Arschinoff 1923: 74)

Und wie viele Anarchisten, so verweist auch Balabanoff auf eine Kontinuität zwischen Lenin und der späteren Entwicklung der Sowjetunion. Denn wenngleich Lenin und Stalin „zwei Persönlichkeiten sehr unterschiedlichen geistigen und moralischen Formats“ gewesen seien (S.172) und es mit Stalin zur „definitiven Demoralisation“ gekommen wäre, müsse dennoch bedacht werden, dass der „Beitrag Stalins“ ein „rein quantitativer“ war, „denn das System und seine Anwendung stammten von Lenin.“ (S.166) Kurz: „ohne Lenin keinen Stalin“ (S.165).

Im Grundsätzlichen bietet Balabanoffs Buch nicht allzu viel Neues – historisch vielleicht am ehesten noch dadurch, dass sie, die immer eine besondere Nähe zur sozialistischen Bewegung Italiens besaß, die Verleumdung Serratis und die Behandlung der Sozialistischen Partei Italiens durch die Bolschewiki, als „erste[s] westeuropäische[s] Opfer der Bolschewiki“, als „Versuchskaninchen, mit dem die Probe aufs Exempel [für ihre Spaltungspolitik, P.K.] gemacht wurde“ (S.94), ins Zentrum rückt. Die Ausführungen zu Lenin ähneln jedenfalls denen, die in anderen stärker biografischen Arbeiten anzutreffen sind: das „unerschütterliche[.] Selbstbewusstsein“ (Ruge 2010: 43) eines „Revolutionsmessias“ (Ebd. 94) dessen „Interesse“ der Revolution „und nur der Revolution“ im Dienste der Sache gegolten habe (Ebd. 41); wie auch Lenins Abscheu gegenüber „prunkhafte[m] Gewese“ und der Umstand, „sich nicht an der persönlichen Macht“ zu berauschen, wobei jedoch für die Partei, „die er geschaffen und geformt hatte und in der er über unangefochtene Autorität verfügte“, er dennoch, „immer betonend, dass dies um der ‚Sache’ willen notwendig sei – die uneingeschränkte Macht“ einforderte (Ebd. 121).

Dennoch – man darf ja auch nicht vergessen, dass Balabanoff zu einer Zeit über Lenin schreibt, als man gemeinhin vom Heros der Oktoberrevolution noch ganz andere Vorstellungen hatte, – ist Balabanoffs Buch auch heute noch sehr lesenswert.

Dies erstens, weil es anekdotenreich und in einfacher Sprache intime Innenansichten aus jener „Atmosphäre von Intrigen, Manövern und Unterwürfigkeit“ (S.87) und damit auch eine sehr eindrückliche Vorstellung vom Typus Lenin vermittelt. Ein Beispiel von vielen zur Illustration: „Zu Beginn des Ersten Weltkrieges, als wir noch in der Schweiz im Exil waren, wurde die öffentliche Meinung der ganzen Welt, vor allem aber die der Sozialisten, von einem Ereignis erschüttert: Friedrich Adler, Sekretär der österreichischen sozialdemokratischen Partei, Sohn des überragenden Vorkämpfers des internationalen Sozialismus, Viktor Adler, hatte den österreichischen Ministerpräsident Stürgkh ermordet. Welche ungeheuren inneren Konflikte konnten einen Marxisten, einen unerbittlichen Gegner des Terrorismus, einen Mann, der die Arbeiter gelehrt hatte, daß nicht die einzelnen Vertreter eines Systems, sondern das System selbst die Schuld für die Missetaten der Gesellschaft trägt? Während sich die Presse der ganzen Welt diese Fragen stellte und wir uns den Kopf zerbrachen, um die Tragödie dieses Menschen zu verstehen, sagte Lenin, als ich ihn in Zürich in der Bibliothek traf, fast scherzhaft: ‚Sagen Sie mir, Genossin Balabanoff, Sie kennen doch alle; welcher Partei gehört Adlers Frau an?’ Etwas erstaunt über diese Frage und über den Ton, antwortete ich: ‚Der sozialdemokratischen.’ ‚Merkwürdig’, erwiderte Lenin, ‚ich dachte, sie sei eine sozialrevolutionäre Terroristin und habe ihren Mann beeinflußt.’ Dann wurde er ernst und fragte: ‚War Adler denn nicht der Sekretär der österreichischen sozialdemokratischen Partei? Warum hat er diese Tat begangen, anstatt Propagandaschriften an alle Parteimitglieder zu schicken? Wäre das nicht nützlicher gewesen?’ Diese Art, auf ein so tragisches und so kompliziertes Ereignis zu reagieren, bestärkte mich noch in der Überzeugung, daß Lenin von jeder Tatsache nur die Seite in Betracht zog, die ihn als Bolschewik und Strategen der revolutionären Arbeiterbewegung interessierte. Für jede andere, so wichtig sie auch vom menschlichen Gesichtspunkt sein mochte, fehlte ihm jedes Interesse.“ (S.32f.)

Zweitens ist es eine Art existentielle Ergriffenheit, wie sie das ganze Buch hindurch greifbar wird, die diesem Buch einen besonderen Rang gibt. Es berichtet von einer vergangenen Welt von Kämpfen, von einer Zeit, in der die Entscheidung für die sozialistische Bewegung noch eine ganz andere existentielle Dimension besaß als heute (zumindest in Deutschland) und einer Haltung, in der sich der sozialistische Traum in seinem besten Sinn verräumlichte. Hiervon ausgehend wird die Katastrophe nachvollziehbar, die der Bolschewismus für den Sozialismus bedeutete, nicht zuletzt aus einem so simplen wie bedeutenden Punkt: „Nur wer von den Zielen des Sozialismus überhaupt keinerlei Ahnung hat, kann annehmen, daß Sozialismus die Abschaffung jeglicher moralischer Grundsätze bedeute.“ (S.155)

Es wäre abschließend zu diskutieren, ob es sich Balabanoff in ihrer Interpretation der Russischen Revolution als Ganzes aber nicht auch etwas zu einfach macht, wenn sie – auf den Standpunkt des klassischen Marxismus der Zweiten Internationale zurückkommend – deren Verlauf letztlich in seiner Brutalität als historisch notwendig betrachtet, weil man die gültige Stadienabfolge von Feudalismus-Kapitalismus-Kommunismus ignoriert habe (vgl. z.B. S.115). Aber solche durchaus zentralen Fragen – man könnte ihr hier die Positionen eines Anarchisten wie Volin oder eines Linken Sozialrevolutionärs wie Steinberg entgegenhalten –, können für einen Moment zurückgestellt werden, um die Dichte der Darstellung auf sich wirken zu lassen.

So ist diese Wiederveröffentlichung des zuerst 1959 in Italien (1961 in Westdeutschland) erschienen Buches unbedingt zu begrüßen. Das knappe, aber informative Vorwort des Herausgebers Schütrumpf – in dem auch angesprochen wird, dass Balabanoff als „disziplinierte Genossin auch Konzessionen“ in Richtung der Bolschewiki machte, „von denen sie später vermied, zu reden, sie sogar zu dementieren bemüht war“ (S.10f.) – vermittelt zudem einen guten Einblick in die Biografie Balabanoffs und den historischen Kontext ihres Wirkens.

Angelica Balabanoff: Lenin, oder: Der Zweck heiligt die Mittel. Dietz Verlag, 2013. 22 Euro. 191 Seiten.

Literatur

Arschinoff, Peter (1923): Geschichte der Machno-Bewegung. Münster: Unrast Verlag, 1998.

Goldman, Emma (1924): Die Russische Revolution und das autoritäre Prinzip, in: Achim von Borries/Ingeborg Weber-Brandies (Hg.): Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Nettersheim: Verlag Graswurzelrevolution, 2007. S.193-212.

Goldman, Emma (1931): Gelebtes Leben. Autobiografie. Hamburg: Edition Nautilus, 2010.

Ruge, Wolfgang (2010): Lenin. Vorgänger Stalins. Berlin: Matthes & Seitz Verlag.

© links-netz April 2013