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Altes und Neues
Anmerkungen zur Diskussion über die gegenwärtige Restrukturierung des
deutschen Bildungswesens1
Jürgen Klausenitzer
Abstract:
Im Kontext eines von Weltbank, OECD, WTO und EU organisierten globalen
Paradigmenwechsels wird in der Bundesrepublik Deutschland eine Restrukturierung
des Bildungswesens als Teil der allgemeinen Öffentlichen Dienste vorgenommen,
die auf größere Kosteneffizienz, Senkung der Staatsquote und Rückführung der
Bildungsexpansion der siebziger Jahre hin orientiert ist. Aus den verschiedenen
Maßnahmen der deutschen Bundesländer zur Realisierung dieses Ziels lassen sich
idealtypisch zwei Varianten identifizieren: eine konservative, die versucht,
mit verschärfter Selektion das dreigliedrige Schulwesen zu stärken, Eliten zu
fördern und damit die Legitimität des Bildungswesens zu stärken; und eine
modernisierende, die mit Hilfe von Markt und Management versucht,
kosteneffizientere Steuerungsformen durchzusetzen. Vorbereitet wird diese
Restrukturierung durch die Delegitimierung des alten staatsbürokratischen
Schulwesens und durch die Organisierung eines neuen common sense über das, was
in Bildungsinstitutionen öffentlich als angemessen erachtet wird.
Chancengleichheit und Autonomie werden durch öffentliche Diskurse neu bestimmt.
Der Staat bleibt als organisierendes Element der Reproduktion der Gesellschaft
weitgehend außerhalb der Analyse. Die beschriebenen Entwicklungen legen die
Frage nahe, wie weit das gegenwärtig organisierte institutional renewal
(OECD) das Verhältnis von Schule und Gesellschaft grundsätzlich neu bestimmt.
This kind of reform takes time. OECD 1995: 77
Nebeneinander von Alt und Neu
Der Umstand, dass auch die Reform des deutschen Schulwesens2
in den siebziger Jahren dessen stark selektiven Charakter nicht wesentlich
verändert (vgl. Lersch 2001: 147f.; Geißler 1996: 256f.; Krais 1996: 118f.),
sondern den Graben zwischen Kindern von Eltern mit niedrigem sozioökonomischem
Status und Mittelschichtkindern eher vergrößert hat, war in den achtziger und
neunziger Jahren von keiner Relevanz in der öffentlichen bildungspolitischen
Debatte. Deren Fokus war in erster Linie auf die Schule als Einzelinstitution
und ihren Beitrag zur Verbesserung von Schülerleistungen gerichtet. Seit den
neunziger Jahren kreisen die wesentlichen öffentlichen Debatten um die Frage,
wie es gelingen kann, das, was als Blockaden der bürokratischen Staatsschule
definiert wird, aufzulösen und deren innovatives Potential freizusetzen (Stichworte:
Autonomie und Eigenverantwortung, Wettbewerb und Neue Verwaltungssteuerung,
Qualitätssicherung und Evaluation). Zentral ist dabei die Annahme, dass dies
erst mit der Etablierung eines neuen institutional setting (Chubb/Moe 1990:
36) oder eines institutional renewal (OECD 1995: 7) möglich wird.
Die wesentlichen Protagonisten dieses Diskurses
Schulverwaltungsbeamte, Medien, Repräsentanten der Wirtschaft und die Experten
in Organisationsentwicklung und Betriebswirtschaft agieren vor dem Hintergrund
einer Restrukturierung des Wohlfahrtsstaates und seiner Institutionen, deren
Steuerungsparameter nun nicht nur national, sondern global (vgl. Klausenitzer
2001a) als Markt und Management bestimmt werden. Im Bildungsbereich ignoriert
der Diskurs über Autonomie und Qualität den ökonomischen Kontext weitgehend
oder akzeptiert ihn und die Finanzkrise des Staates samt den Anforderungen der
Wissensgesellschaft und des globalen Wettbewerbs als nicht zu hinterfragende
Gegebenheiten (vgl. Radtke/Weiß 2000). Wir haben es eher mit einem
Restrukturierungsprozess der Öffentlichen Dienste zu tun als mit einer
Bildungsreform einem Top-down-Prozess, der Lehrer als Träger von Lehr- und
Lernprozessen marginalisiert und Eltern zu privaten, individuellen Kunden definiert.
Eine entscheidende Rolle bei der Initiierung und Organisation der
öffentlichen bildungspolitischen Debatte in Deutschland spielte und spielt die
Bertelsmann-Stiftung. Reinhard Mohn, Eigner des Bertelsmann-Konzerns (vgl.
Bennhold 2001: 279f.), war neben Vertretern von Volkswagen und der Deutschen
Bank, Ökonomen und Erziehungswissenschaftlern prominentes Mitglied einer Anfang
der neunziger Jahre von dem nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten ins Leben
gerufenen Bildungskommission Zukunft der Bildung Schule der Zukunft. Der
Kommissionsbericht, unter dem nämlichen Titel publiziert (vgl. Bildungskommission
NRW 1995), ist für die öffentliche bildungspolitische Debatte in Deutschland
ein wichtiger Text. Er enthält im wesentlichen alle Grundzüge der neuen
institutionellen Rahmenbedingungen: teilautonome Schulen, Wettbewerb unter den
Schulen, Evaluation, Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen (der
Wissensgesellschaft), modulare Strukturen, engere Beziehungen von Schule und
Wirtschaft. Die Bertelsmann-Stiftung war und ist nicht nur führende
Organisatorin der öffentlichen Diskussion, sie organisiert auch eine Reihe von
Projekten in den 16 deutschen Ländern unter anderem gemeinsam mit dem
nordrhein-westfälischen Schulministerium das in 52 Schulen durchgeführte
Pilotprojekt Schule & Co. (vgl. Bertelsmann-Stiftung o.J.).
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, anhand der Entwicklung in
zwei Bundesländern die These zu belegen, dass die im Anschluss an die
Rückführung von Bildungsausgaben nun in Angriff genommene Restrukturierung des
insitutional setting des deutschen Bildungswesens im wesentlichen von zwei
Entwicklungssträngen geprägt ist, nämlich
- der Verschärfung des selektiven Charakters des
dreigliedrigen Schulsystems sowie
- der Einführung von Markt- und Management-Elementen.
Im Folgenden werden Grundzüge von Maßnahmen beschrieben, die in ausgewählten
Bundesländern durchgeführt wurden bzw. werden und die Besonderheit der
gegenwärtigen (Übergangs‑)Situation verdeutlichen.
- J: Die verschiedenen Entwicklungen sind in der Realität
nicht zu trennen und existieren oft mit- oder nebeneinander, schließen aber die
Möglichkeit einer Verallgemeinerung nicht aus.
- A: Dabei sind vor allem zwei verschiedene
Entwicklungsstränge anzutreffen, die allerdings in der Realität gar nicht
voneinander getrennt werden können, weil sie oft mit- oder nebeneinander
existieren.3
Verschärfung des selektiven Charakters des dreigliedrigen Schulsystems4
Konservative Bildungspolitik wird im wesentlichen charakterisiert von
den Versuchen,
- die Selektions- und Allokationsfunktion des
Bildungswesens aufrecht zu erhalten und den Bedürfnissen der Wirtschaft
anzupassen sowie
- das Gymnasium als Eliteschule, die es einmal war, zu
erhalten bzw. wieder herzustellen vor allem für die traditionelle Mittelschicht,
die sich den Königsweg zur Universität und damit zu größeren Chancen auf
Beschäftigung sichern will.
Angesichts der gegenwärtigen Veränderungen, die dazu führen, dass eine
Politik der Chancengleichheit faktisch marginalisiert ist oder lediglich
instrumentell, nämlich als Beitrag zur sozialen Kohäsion gesehen wird (vgl.
OECD 1995: 7; 2001: 83f.), bleibt kaum eine klare Unterscheidungslinie zwischen
konservativer und sozialdemokratischer Bildungspolitik zu erkennen. Das
Gesamtbild wird mit der Vereinigung von West- und Ostdeutschland noch
komplexer, denn die Neuen Länder haben zwar weitgehend das westdeutsche
Bildungssystem übernommen, an einigen Standards, wie z.B. dem Abitur nach zwölf
Jahren, aber festgehalten quasi im Vorgriff auf gesamtdeutsche Entwicklungen
(vgl. Weiß/Weishaupt 1999: 119). Immerhin können in allen 16 Bundesländern
Entwicklungen und Tendenzen beobachtet werden, die sich (unter Verzicht auf die
Analyse interner Widersprüche) wie folgt skizzieren lassen:5
- Verkürzung der Schulzeit von 13 auf 12 Jahre;
- Einführung von zentral verwalteten Abschlussprüfungen
in den Klassen 9, 10 und 13 bzw. 12 (Zentralabitur);
- Zurücknahme von Wahlmöglichkeiten in der Oberstufe und
damit Revision der in den siebziger Jahren eingeführten Oberstufenreform als
Vorbereitung auf das Studium;
- Verschärfung der Anforderungen in Tests und Prüfungen;
- Reorganisation der Curricula im Sinne traditioneller
Werte auch im Kontext der Schulverkürzung und der Diskussion um ein
Kerncurriculum;
- Unterstützung für Hochbegabte und
Fast-track-Schulbiographien im Zusammenhang mit der Ermöglichung von
Vielfalt und Elitebildung (excellency).6
Es ist abzusehen, dass diese Maßnahmen Kindern, die nicht aus Familien
mit akademischem Bildungshintergrund kommen, vermehrt Schwierigkeiten bereiten
und somit zu einer weiteren Vertiefung des Grabens zwischen Kindern aus der
Mittelschicht und solchen, die aus bildungsferneren Schichten kommen, führen
werden. Angesichts der Tatsachen, dass die hohe Selektivität des Schulsystems nicht
ernsthaft in Frage gestellt wird7 und
dass der ideologische Fokus der Bildungsdebatte unter anderem auf die
Ermöglichung von Differenz und Vielfalt, d.h. Polarisierung gerichtet ist, ist
es gegenwärtig nicht sehr wahrscheinlich, dass sich an diesen Maßnahmen größere
gesellschaftliche Konflikte entzünden.
Dass sieben Bundesländer bereits zentral verwaltete Abschlussprüfungen
eingerichtet haben und zumindest Hessen und Brandenburg solche planen, verweist
nicht nur auf den vorhandenen Willen zur Verschärfung der Selektivität des
Schulwesens, sondern kann auch als erster Schritt hin zur Einführung eines zentral
verwalteten Evaluationssystems und eines verbindlichen Kerncurriculums entlang
europäischer Indikatoren interpretiert werden (vgl. Europäische Kommission
2000).
Die Verschärfung des selektiven Charakters des Bildungswesens ist die
konservative Variante der Kostenreduktionsstrategie. Sie ist die konservative
Antwort auf die Verschwendung qua Überproduktion durch die Bildungsexpansion
der siebziger und achtziger Jahre: Zwar hat sich der Prozentsatz derer, die die
allgemeine Hochschulreife erlangen, von 6,1% (1960) auf 27% (1994; plus 10,2%
Fachhochschulreife) erhöht; aber während also ca. 35% den (Fach‑)Hochschulzugang
erwerben, sind es nur ca. 17%, die das Studium erfolgreich beenden soweit sie
überhaupt ein Hochschulstudium aufgenommen haben (Klemm/Weegen (2000)
bezeichnen dies als ausbremsende Stagnation der universitären Abschlussquote).
Dies ist in den Augen derer, die Bildungsausgaben unter dem Blickwinkel kosteneffizienter
Investition in Humankapital betrachten, unakzeptabel.
Die Verschärfung des selektiven Charakters des dreigliedrigen
Schulwesens kann aber auch als Chance begriffen werden, nicht nur das
konservative Konzept natürlicher eignungsbezogener Lerntypen für bestimmte
berufliche Gruppierungen wieder zu stärken, sondern auch ein Stück Legitimität
des Bildungswesens in seiner Funktion als Zertifizierungsinstanz, das den
Übergang vom Bildungs- zum Beschäftigungswesen reguliert und in Folge von
Bildungsexpansion und Verwertungskrise gefährdet erscheint, zurückzugewinnen.
Einführung von Markt und Management
Während konservative Landesregierungen (z.B. Bayern,
Baden-Württemberg) ihre Vorstellungen von Bildungspolitik an traditionellen Werten
(versinnbildlicht in den sogenannten Kopfnoten), traditionellen schultypischen
Lehrplänen und dem dreigliedrigen Schulwesen ausrichten, haben
sozialdemokratische Länderregierungen (z.B. Hamburg, Bremen, Hessen,
Nordrhein-Westfalen) als erste im Bildungswesen über Elemente einer
dezentralisierten und ergebnisorientierten Steuerungsstrategie der
Bildungsverwaltung als Teil einer allgemeinen Restrukturierung der öffentlichen
Verwaltung nachgedacht. Im Kontext einer sehr allgemein gehaltenen Debatte über
Autonomie und Eigenverantwortung, Qualitätssicherung und Evaluation wurden
unter anderen folgende Elemente einer neuen Verwaltungssteuerung realisiert:
- (teil‑)autonomes Management für einen bestimmten,
auszuweitenden Prozentsatz des Gesamtbudgets einer Schule,
Kosten-Leistungsrechnung und damit Ablösung der alten Prinzipien der
Kameralistik;
- Stärkung der Rolle des/der SchulleiterIn;
- Entwicklung von Schulprogrammen.
Die Einführung dieser Elemente wurde von einem Diskurs über
Qualitätssicherung und Evaluation (vgl. Maritzen 1999) begleitet einem
Diskurs, in dessen Hauptströmung offensichtlich über nationale wie
internationale ökonomisch-politische Bedingungen und damit auch Konsequenzen
der Einführung neuer Steuerungsinstrumente hinweggesehen wird (z.B. bei der
Einführung zentral definierter Indikatoren für Qualität und bei der
Privatisierung im Kontext der WTO/GATS-Handelsliberalisierung). Auf diese Weise
wird z.B. die Frage umgangen, was Autonomie für eine Schule in der Realität,
jenseits der Rhetorik eigentlich heißt. Die allgemeine Perspektive einer neuen
Verwaltungssteuerung und die Folgen ergebnisorientierter Steuerung und
Finanzierung als Mittel der Effizienzsteigerung und Kostenreduktion für
Institutionen im Bildungsbereich bleiben für die z.B. an der Formulierung von
Schulprogrammen beteiligten LehrerInnen weitgehend im Dunkeln obwohl die
Konsequenzen an (kritischen) Analysen der Restrukturierung in Ländern, in denen
Erfahrungen mit betriebswirtschaftlich orientierter Steuerung vorliegen,
ziemlich deutlich abzulesen sind (vgl. z.B. Ball 1994; Gewirtz et al. 1995;
Whitty et al. 1998; Klausenitzer 1999a; b).
Im Folgenden wird die gegenwärtige Situation am Beispiel von zwei
Bundesländern beschrieben, die die oben skizzierten Maßnahmen z.T. parallel
zu den konservativen implementiert haben bzw. gerade dabei sind, dies zu tun.
Hessen
Hessen hat nach einer rot-grünen Koalition seit 1999 eine konservative
Regierung (CDU/FDP) und kann als Beispiel für eine Situation des Nebeneinander
von Altem und Neuem sowie eine Politik der kleinen Schritte bei der
Restrukturierung des Bildungssektors gelten. Auf der Basis einer Kostenanalyse
für den Öffentlichen Dienst bis zum Jahr 2015 (vgl. Bericht des
Staatssekretärsausschusses 1997) hatte Rot-Grün im Jahre 1998 die Einführung
der Neuen Verwaltungssteuerung beschlossen (vgl. Knobloch 2000: 2f.). Bereits
1992 hatte die Koalition das Schulgesetz geändert (vgl. Frommelt 1995: 185f.),
wodurch die Einzelschule teilweise größere Kompetenzen im Sinne der
Bewirtschaftung von Personal- und Sachmitteln zur Stärkung der
Eigenverantwortung erhielt. Das neue Gesetz führte die Schulkonferenz aus
Vertretern von Eltern, Lehrern und Schülern ein, die pädagogische und
organisatorische Fragen nicht nur beraten, sondern auch entscheiden kann, wie
z.B. die Anzahl von Schultagen (fünf oder sechs) oder die Entwicklung eines
Schulprofils bzw. Schulprogramms. In gewissem Maße ermöglichte es auch,
Personal selbständig anzustellen oder auf die Besetzung von Stellen größeren
Einfluss zu nehmen.
In Teilen des Öffentlichen Dienstes außerhalb des Bildungsbereichs
wurde die Neue Verwaltungssteuerung bereits in den neunziger Jahren eingeführt.
Auf der kommunalen Ebene, bei der die Verantwortung für Gebäude,
Instandhaltung, Reinigungsdienst, Sekretärinnen etc. liegt, machten es manche
Kommunen zur Auflage, die Prinzipien des modernen Rechnungswesens (doppelte
Buchführung) anzuwenden (vgl. Böttcher 1997: 203f.). 1994 unterstützte die
rot-grüne Koalition ein Pilotprojekt im Landkreis Wetterau, das den Schulen im
Rahmen der allgemeinen Verwaltungsreform erlaubte, ihre Schulbudgets relativ
weitgehend eigenständig zu handhaben.
Nun soll im Landkreis Groß-Gerau unter der konservativen
Landesregierung das Pilotprojekt Budgetierung von Schulen (manchmal auch
Gemeinsame Verantwortung für Bildung und Erziehung in hessischen Schulen
genannt) zur Umsetzung des Beschlusses der rot-grünen Koalition zur Einführung
der Neuen Verwaltungssteuerung in der hessischen Verwaltung durchgeführt werden
(Freiling 2001: 16f.). Ergebnisorientiertes Kontraktmanagement zwischen
Einzelschule und zentraler Schulverwaltung8 wird
die Grundlage sein für Schulbudget und Evaluationssystem. Die
Kosten-Leistungs-Rechnung als Teil der Neuen Verwaltungssteuerung wird das alte
kameralistische Verfahren der Kostenverwaltung ablösen, das im Hinblick auf
Transparenz und ökonomische Anreize als veraltet beschrieben wird. Das Pilotprojekt
soll bis zum Jahr 2008 laufen. Parallel dazu also vor einer abschließenden
Evaluierung soll die Neue Verwaltungssteuerung, unterstützt von einem neuen
SAP-Computerprogramm (Kosten: mindestens 50 Mio. ?), ab 2003/4 landesweit
eingeführt werden. Die Planungen sehen eine wissenschaftliche Begleitung
entweder durch die Bertelsmann-Stiftung oder durch die internationale Management-Firma
Accenture vor.
Parallel zu diesem bereits von der rot-grünen Landesregierung
begonnenen Projekt zur Einführung der Neuen Verwaltungssteuerung verfolgt die
konservative Regierung ihre Politik der Stärkung des traditionellen, selektiven
Charakters des dreigliedrigen Schulsystems (s.o). Unter anderem wurde das von
Rot-Grün verabschiedete Schulgesetz zurückgenommen und die darin (minimal)
erweiterten Mitbestimmungsrechte der Eltern in der Schulkonferenz teilweise
annulliert. Das gleiche gilt für das Recht der Eltern, über die Schullaufbahn
am Ende der Grundschule selbständig zu entscheiden. Unter der konservativen
Regierung haben die Schulen das Recht, die Entscheidung der Eltern nach einem
halben Jahr zu revidieren und das Kind in einen anderen Schultyp als den von
den Eltern gewählten zu versetzen, wenn die Grundschule keine eindeutige
Empfehlung für einen bestimmten Schultyp ausgesprochen hat (Querversetzung).
Nordrhein-Westfalen
In den neunziger Jahren wurde in Nordrhein-Westfalen, einem traditionell
sozialdemokratisch orientierten Flächenstaat, eine Reihe von Projekten
durchgeführt, die die Erprobung von Elementen der Neuen Verwaltungssteuerung
zum Inhalt hatten. Ende 2000 hat das Ministerium für Schule, Wissenschaft und
Forschung (damals: Ministerium für Schule, Weiterbildung, Wissenschaft und
Forschung) begonnen, das Projekt Selbstständige Schule (zu Beginn Schule
21 genannt) als Pilotprojekt durchzuführen (für die Dokumentation des
Projektentwurfs vgl. NRWL o.J.; für aktuelle Entwicklungen vgl. MSWF o.J.). Es
wird unternommen, um die Möglichkeiten einer deutlichen Ausweitung der
Schulautonomie unter staatlicher Regie weiter zu erproben. Die Zielsetzungen
des Projekts wurden schon im bereits erwähnten Bericht der Bildungskommission
NRW (1995) formuliert. Das Projekt wird sich weitgehend an den Erfahrungen
orientieren, die in dem ebenfalls bereits erwähnten Bertelsmann-Projekt Schule
& Co. gemacht wurden, dessen Zielsetzung es war, die Empfehlungen der
Bildungskommission zu qualitätsorientierter Selbststeuerung und regionalen
Bildungsnetzwerken umzusetzen.
In der Projektskizze zu Schule 21 wird als Fokus die
Zielsetzung genannt, die Qualität der Arbeit in der Schule zu verbessern und
eine effiziente Verwaltung der für diesen Prozess notwendigen Ressourcen
Personal und Sachmittel zu organisieren (vgl. Bertelsmann o.J.). Im Rahmen
des neuen Regimes wird es zum Beispiel möglich sein, Personal entsprechend den
Vorstellungen des Schulmanagements eigenständig einzustellen, Schulbudgets nach
Prinzipien betriebswirtschaftlicher Rechnungslegung zu managen und
Entscheidungen über Schul- und Unterrichtsorganisation vor Ort zu treffen. Ein
wesentlicher Aspekt des Projekts sind verschiedene Maßnahmen zu
Qualitätssicherung und Evaluation. In Hinblick auf die Finanzierung stellt die
Projektskizze fest, dass neben Land und Kommune ein weiterer Projektpartner
das Projekt mitfinanzieren wird. Die Vermutung liegt nahe, dass entweder die
Bertelsmann-Stiftung selbst oder ein anderer multinationaler Bildungskonzern,
wie etwa Accenture, diese Rolle spielen wird wie etwa auch die des externen
Projektmanagers. Die Aufgabe dieses Partners wird nicht nur die Verwaltung des
Projekts sein, sondern auch die Fortbildung der dort Beschäftigten und die
Beratung der daran beteiligten Regionen. Die Projektfinanzierung sowie die
bestimmende Funktion eines externen Managers und Beraters werfen die Frage auf,
in welchem Ausmaß die qualitative Entwicklung des nordrhein-westfälischen
Schulwesens bereits in die Hände eines multinationalen Bildungskonzerns
übergegangen ist.
Wenn man versucht, die am Beispiel von Hessen und Nordrhein-Westfalen
skizzierten Entwicklungen zu verallgemeinern, kann man Folgendes feststellen:
- Die achtziger und neunziger Jahre lassen sich im
Hinblick auf die Schulentwicklung durch zwei Phasen charakterisieren: Die erste
ist gekennzeichnet durch Kostenreduktion und Delegitimierung der alten
staatsbürokratischen Schule; die zweite besteht in der Initiierung eines
öffentlichen Diskurses des Wandels im Sinne von Neuer Verwaltungssteuerung,
Qualitätssicherung und Evaluation sowie der Durchführung von Pilotprojekten auf
einer noch sehr begrenzten Basis. Die Ergebnisse der Ende der neunziger Jahre
begonnenen Projekte werden so die Planung im Laufe der ersten Dekade
flächendeckend umgesetzt werden, so dass man davon ausgehen kann, dass der
Prozess des Wandels insgesamt ungefähr eine Generation in Anspruch nehmen wird
eine Zeitspanne, die lang genug ist, um eine Generation von Lehrern, deren
berufliche Sozialisation im Zeichen der Bildungsreform der siebziger Jahre und
deren Vorstellungen stand, ohne großen Aufwand loszuwerden: This kind of
reform takes time (OECD 1995: 77).
- Der Implementierungsprozess der Restrukturierung ist
zwar als Abfolge kleiner Schritte organisiert, welche aber platziert in
strategisch wichtigen Schlüsselbereichen als radical enough to make a
difference charakterisiert werden (OECD 1995: 77). Schritt für Schritt werden
die Kompetenzen der Schulen als Einzelinstitutionen auf der operationalen Ebene
in begrenztem Umfang erweitert, während die zentralstaatlichen Zuständigkeiten
auf strategischer Ebene (z.B. Curricula, Indikatoren für Evaluationssysteme)
aufrecht erhalten, angepasst und erweitert werden: a new paradigm for public
management has emerged, gekennzeichnet unter anderem durch the strengthening
of strategic capacities at the centre (OECD 1995: 8). Ein wesentliches
Instrument dieses Prozesses ist das Institut des Pilotprojekts, das zum einen
die Entwicklung und Überprüfung neuer organisatorischer Instrumente ermöglicht,
zum anderen auch Raum und Zeit organisiert, die notwendig sind, damit die
Betroffenen vor allem die Lehrer sich an die veränderten Verfahren,
Prioritäten und (pädagogischen) Werte gewöhnen und sie als unausweichlich
akzeptieren. Zeit, Experiment und schrittweise Veränderung können als
wesentliche Faktoren einer Strategie des Konfliktmanagements interpretiert
werden, die zugleich auch eine Strategie der Legitimationsgewinnung ist (vgl.
Weiler 1993: 55f.). Über die Möglichkeiten, die sich in Zukunft abzeichnen
könnten, der Organisierung interner Effizienz qua Markt und Management eine
Perspektive externer Effizienz in Form eines völlig veränderten Verhältnisses
von Schule, Gesellschaft und Staat folgen zu lassen, wird gegenwärtig in der
OECD mehr oder weniger begründet spekuliert (vgl. OECD 2001: 133f.). Insofern
kann man den gegenwärtigen institutionellen Wandel als Übergang in eine
ungewisse Zukunft begreifen.9
- Die wesentlichen Akteure der Restrukturierung sind ganz
offensichtlich die Finanzministerien, die die Tagesordnung für effizientere
Strategien der Ressourcennutzung im Öffentlichen Dienst bestimmen mit dem Ziel
einer Reduzierung der Staatsquote (Frankfurter Rundschau vom 15. Oktober
2001). Das entsprechende Know-how stellen Management-Firmen10
im Auftrag eines multinationalen Bildungskonzerns ob aber die Bildungsministerien
diejenigen sind, die diesen Prozess steuern, ist mehr als fraglich. LehrerInnen
und ihre organisierten Vertretungen werden in die Rolle ohnmächtiger Zuschauer
gedrängt (the missing voice in educational reform) es sei denn, LehrerInnen
lassen sich in die Schulprogrammentwicklung einbinden, deren längerfristige
Perspektiven aber bewusst im Dunklen belassen werden.
Die Entwicklungen in Hessen und Nordrhein-Westfalen lassen sich als
zwei idealtypische Strategien für verbesserte Kosten-Nutzen-Bilanz und
Effizienzsteigerung einerseits und für die Sicherung von Klasseninteressen
(vgl. Ball 1993: 3f.) andererseits lesen:
- eine konservative, die den selektiven Charakter des
dreigliedrigen Schulsystems betont und den Versuch unternimmt, die
Allokationsfunktion über verschärfte Auslese und entsprechende Zertifikate zu
stärken dies allerdings scheint in Konflikt zu geraten mit Interessen an
einem größeren Anteil höher Qualifizierter auf dem Arbeitsmarkt;
- eine sozialdemokratisch/grüne, die auf verstärkte
Dezentralisierung und Neue Verwaltungssteuerung setzt, wobei die verstärkte Selektivität
über staatlich regulierte Bildungsmärkte erfolgt (nur dürftig verborgen hinter
dem Schleier quasi-natürlicher Parameter wie Markt, Konsument, Effizienz).
Potentielle Konfliktfelder zeichnen sich ab durch den Umstand, dass
die konservative Strategie Interessen der traditionellen Mittelschichten offen
und direkt verfolgt, während die auf Markt und Management setzende Variante
eher indirekte Eingriffe und Kontrolle zentralstaatlicher Instanzen bevorzugt.
Weil die Kontrolle von Kosten und Qualität absehbar verstärkt wird,
ist die Rede von (institutioneller) Autonomie und Eigenverantwortung wenig mehr
als Legitimationsrhetorik (die allerdings an enttäuschte Hoffnungen auf
pädagogische Autonomie anknüpfen kann). Bestenfalls ist die institutionelle Autonomie
zentralstaatlich kontrollierte Autonomie. Was jenseits der Rhetorik
stattfindet, ist die Umsetzung von Strategien zur Senkung der Staatsquote durch
eine veränderte Verwaltungssteuerung und ein zunehmend gewichtigeres Instrument
staatlichen Handelns: die public-private partnership11
im Bildungsbereich am deutlichsten vorgeführt mit der engen Kooperation von
Bertelsmann-Stiftung und Bildungsministerien der Länder.
Der Diskurswandel: Autonomie und Chancengleichheit
Nicht nur der institutionelle Wandel wird in kleinen, aber
entscheidenden Schritten vollzogen. Auch der ihn begleitende Diskurs ist
gekennzeichnet durch einen sich sehr langsam vollziehenden Wandel über die
letzten zwei Jahrzehnte hinweg. Alte Begriffe sind teilweise noch in Gebrauch,
haben aber ihren Gehalt nicht unwesentlich geändert. Darüber hinaus bestimmen
neue Begriffe die Diskussion und vermitteln Momente von Legitimität, die
anderen gesellschaftlichen Feldern entliehen sind, im wesentlichen der
Betriebswirtschaft. So prägen Begriffe wie Ergebnisorientierung, Transparenz,
Rechenschaftspflicht, Evaluation, Wettbewerb, Konsumenten etc. den neuen
bildungspolitischen Diskurs und formen einen neuen common sense darüber,
was als pädagogisch und bildungspolitisch angemessen erachtet wird. Zeit für
persönliche Entwicklung und Entfaltung von Beziehungen zwischen LehrerInnen und
SchülerInnen galt als wesentliche Voraussetzung für das Gelingen von
Lernprozessen, deren Logik anderen Gesetzen folgt als die an
Effizienzmaximierung orientierte Betriebswirtschaft. Zunehmend wird in Frage gestellt,
ob die Pädagogik legitimer Weise eine andere Logik beanspruchen kann.
Um das Bildungssystem entsprechend der Logik von Markt und Management
umzubauen, bedurfte es zuerst der Delegitimierung des Alten: Dem professionellen
Selbstverständnis der Lehrer war nicht mehr zu trauen, die Staatsschule wurde
als sklerotisch und unzugänglich für Innovation, Kreativität und die
Bedürfnisse der Konsumenten definiert. Die Konstruktion eines neuen common
sense darüber, was angesichts der neuen Herauforderungen der
Wissensgesellschaft als angemessen erachtet wird, wird deutlich unter anderem
an dem Wandel, dem die Begriffe der Autonomie und der Chancengleichheit
unterworfen wurden. Dass in diesem Bündel von Mythen und Legenden über die
Potentiale von Markt und Management auch die veränderte Rolle des Staates
weiterhin keiner kritischen Analyse unterzogen wird, ist nicht weiter
verwunderlich.
Autonomie
Als der Bildungsrat 1975 aufgelöst wurde (vgl. Friedeburg 1996: 56f.),
bestand der Grund für diesen Schritt unter anderem in dessen Forderung nach
größerer Autonomie für die pädagogischen Institutionen damals aber im Kontext
einer Bildungsexpansion, die sich auch um Demokratisierung der Institutionen
und eine an Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientierte Pädagogik
bemühte. Heute kennzeichnet der Begriff der Autonomie Grundzüge eines neuen
institutionellen Rahmens, der über eine begrenzte Eigenständigkeit auf der
operativen Ebene den Wettbewerb unter den Einzelinstitutionen organisieren
soll, um damit eine günstigere Kosten-Nutzen-Relation zu ermöglichen. Dass
damit die Qualität verbessert wird und zwar nicht nur für die wenigen
Schulen, die in der Lage sind, in dem eintretenden Prozess der Polarisierung
lernschwierige Schüler an andere Institutionen zu verschieben (the exclusion
of the costly and difficult (Clarke/Newman 1997: 149)) -, ist einer der großen
Mythen der gegenwärtigen Diskussion. Die neue Bedeutung von Autonomie bezieht
sich vor allem auf die eigenständige Handhabung von Personal- und
Sachmittelbudgets sowie schulorganisatorischen Fragen, deren Vorgaben z.B.
definiert als Indikatoren für Qualitätsstandards aber alle auf der
strategischen Ebene außerhalb der Reichweite der Einzelinstitutionen und der in
ihnen Beschäftigten auch ihrer Leitung formuliert werden. Ob die
institutionelle Autonomie Handlungsspielräume der in den (teil‑)autonomen
Schulen arbeitenden LehrerInnen vergrößert, ist angesichts der Erfahrungen mit
Markt und Management in angelsächsischen Ländern mehr als fraglich (vgl. Whitty
et al. 1998). Dieser widersprüchliche Zusammenhang von verstärkten Entscheidungskompetenzen
vor Ort (vor allem für gestärkte Leitungsfunktionen) und Zunahme zentral
definierter Vorgaben verschwindet hinter den ideologischen Nebelkerzen von
größerer Autonomie, die aber ein Stück weit ihre Wirkung entfalten können, da
sie an Vorstellungen größerer pädagogischer Autonomie anknüpfen, die auch den
Deutschen Bildungsrat zu seinen damaligen Empfehlungen bewogen haben.
Chancengleichheit
Chancengleichheit im Sinne von Kompensierung gesellschaftlicher
Benachteiligung war ein wesentlicher Orientierungspunkt sozialdemokratischer
Politik nicht nur in der Bildungspolitik, sondern etwa auch bei der
Stadtplanung, deren integraler Bestandteil der Bau von Gesamtschulen war. Im
Bildungsbereich bedeutete Chancengleichheit unter anderem einen verbesserten
Zugang zu Bildungsinstitutionen, vor allem für Mädchen, ländliche Regionen und
Arbeiterkinder eingebunden in Maßnahmen kompensatorischer Förderung. Heute
sind dem Begriff der Chancengleichheit, dem Gernot Koneffke (1969: 389) Ende
der sechziger Jahre bescheinigte, er stelle eine radikal verkürzte Version des
Begriffs der Gleichheit dar, alle Dimensionen gesellschaftlicher Veränderung
entzogen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch konservative Kreise sich
dieses Begriffs bedienen können. Losgelöst von dem Begriff einer gerechten oder
guten Gesellschaft, lässt er sich gut in eine den Markt als Regulator aller
gesellschaftlichen Sphären akzeptierende Vorstellungswelt integrieren. Die
Reduzierung von Chancengleichheit auf gleiche Zugangschancen ermöglicht
zugleich auch die Akzeptanz ungleicher Ergebnisse ist doch jeder bei
angeblich gleichen Ausgangsbedingungen selbst für die Ungleichheit
verantwortlich. Daher ist es nicht verwunderlich, dass heute alle politischen
Parteien von diesem Begriff Gebrauch machen und sei es nur des
Legitimationsgewinns oder seines ornamentalen Charakters wegen (vgl. Wunder
2001).
Die Rolle des Staates
Die deutsche Debatte über Dezentralisierung und Neue
Verwaltungssteuerung wird in den meisten Fällen mit der Vorstellung verbunden,
der Staat ziehe sich aus seinen Aufgaben und seiner Verantwortung zurück der
schwindsüchtige Staat (Reifenrath 2001). Während einige das begrüßen,
argumentieren andere, die staatlichen Institutionen müssten gestärkt werden, um
ihre Fähigkeiten zur Wahrnehmung ihrer im Grundgesetz verankerten Verantwortung
zu gewährleisten: Grundgesetzlich bleibt es bei der Verantwortung des Staates,
unter dessen Aufsicht das gesamte Schulwesen steht, auch das private
(Friedeburg 2000: 56f.). Manche sehen im Staat ein Bollwerk gegen zunehmende
Privatisierung nicht zuletzt Sozialdemokraten und Gewerkschafter.
Diese Vorstellung gründet auf dem Konzept eines Staates, der als
neutrale Instanz über den gesellschaftlichen Interessen schwebt. Sie
vernachlässigt, dass der Staat den Restrukturierungsprozess seiner
Institutionen und damit auch die Privatisierung Öffentlicher Dienste (in ihren
verschiedenen Formen) selber organisiert in enger Kooperation mit
supranationalen Institutionen wie der OECD oder mit transnationalen Konzernen
wie Bertelsmann. Der Restrukturierungsprozess im Bildungsbereich ist Teil eines
Paradigmenwechsels in der Steuerung (ehemals) öffentlicher Daseinsvorsorge in
Folge eines strukturellen Wandels, der beschrieben wird als shortfall of
economic performance und Finanzkrise des Staates (OECD 1987: 18f.; 1995: 7f.)
oder als die drei großen Umwälzungen: die Globalisierung, die
Informationsgesellschaft und die Beschleunigung der wissenschaftlich-technischen
Revolution (Europäische Kommission 1995: 5). Dieser Prozess steht in
Deutschland noch am Anfang. Man kann davon ausgehen, dass die Vorgaben der
Finanzminister zur Reduzierung der Staatsquote diesen Prozess weiter bestimmen
werden. Nicht unwesentlich wird er auch von den Ergebnissen der
WTO/GATS-Verhandlungen abhängen (vgl. Scherrer in diesem Heft).
Dass die gegenwärtige Diskussion im Bildungsbereich so weitgehend von
Mythen über Autonomie, Fähigkeiten des Marktes und Rolle des Staates bestimmt
ist, hängt mit wenigstens zwei Gründen zusammen: Sie können erstens anknüpfen
an Erfahrungen vieler mit der als Starrheit wahrgenommenen Regelhaftigkeit und
Unflexibilität staatbürokratischer Verwaltung: im Bildungsbereich von Eltern
und LehrerInnen wahrzunehmen als die anscheinend unwandelbaren Formen von
Schule (the grammar of schooling (Tyack/Cuban 1995: 85f.)) und als die
Unzugänglichkeit der Bildungsverwaltung für Formen partizipativer Demokratie.
Die weitverbreitete Akzeptanz oder Hinnahme der Vorstellung, dass Markt und
Management dies nun ändern werden, hat unter anderem darin seine Gründe. Und
zweitens ist aus der politischen und erziehungswissenschaftlichen Diskussion in
Deutschland der Zusammenhang (und Widerspruch) von Bildung in staatlicher
Verantwortung und als Teil des politisch-demokratischen Systems einerseits und
kapitalistischer Ökonomie andererseits seit den späten siebziger Jahren (fast)
völlig ausgeblendet worden (im Gegensatz zur angelsächsischen Diskussion). Die
Funktionen des Bildungssystems jenseits der Qualifikationsvermittlung, sein
Verhältnis zum Beschäftigungswesen, die Rolle des Staates und damit die
Reichweite von staatlichen Reformen sind damit völlig unterbelichtet geblieben.
Der Mitte der siebziger Jahre vollzogene fast vollständige Abbruch einer
kritischen Debatte über Schule und kapitalistische Gesellschaft und damit
auch der Entwicklung alternativer Vorstellungen hat die weitgehende Akzeptanz
einer an Markt und Management orientierten Steuerung stark erleichtert.
Insofern kann es nicht erstaunen, dass sich die LehrerInnen bei dem von oben in
die Wege geleiteten Paradigmenwechsel mehr oder weniger in der Rolle von
Zuschauern wiederfinden. Vereinzelter lokaler Widerstand ist offensichtlich nur
schwer in eine konsistente gemeinsame Perspektive zu bringen, da auch
Gewerkschaften sich dem Druck korporatistischer Strategien verkörpert etwa
durch das Trade Union Advisory Committee (TUAC) bei der OECD, die
Wirtschafts- und Sozialausschüsse in der EU oder das Bündnis für Arbeit in
Deutschland scheinbar nicht entziehen können. Angesichts fehlender Alternativen
sowohl zu staatsbürokratischen als auch zu marktvermittelten Formen von Bildung
kommt der Diskussion über Formen einer demokratisch-partizipativen Form von
Bildung in öffentlicher Verantwortung eine besondere Bedeutung zu, da
Widerstand gegen zunehmende Privatisierung von Diensten öffentlicher Daseinsvorsorge
sich auf Dauer nicht allein aus zunehmend schwieriger werdenden Arbeitsbedingungen
der in Bildungsinstitutionen Arbeitenden wird speisen können.
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Anmerkungen
- Der vorliegende Text basiert auf der
Übersetzung eines an der Universität Keele/Newcastle gehaltenen Vortrags (vgl.
Klausenitzer 2001b). Er ist zuerst erschienen in: Widersprüche 85, März 2002.
- Der Beitrag bezieht sich in erster Linie auf das
Schulsystem; in den Bereichen Berufliche Bildung und vor allem Hochschule
könnten sich ähnliche Entwicklungen beschreiben lassen (vgl. Bultmann in diesem
Heft).
- Konkrete Entwicklungen der Privatisierung
innerhalb des staatlichen Schulwesens sowie der Einfluss der Wirtschaft
besonders im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien müssen
hier unberücksichtigt bleiben (vgl. Klausenitzer 2001b; im Hinblick auf die
englische Entwicklung Hatcher 2001; Monbiot 2002).
- Die Situation in den 16 Bundesländern
ist in der Realität weitaus vielfältiger, als das hier dargestellt werden kann.
- Dem Autor war keine systematische
Zusammenfassung der Entwicklungen zugänglich. Die Informationen beruhen in
erster Linie auf Meldungen der Presse.
- Diese Maßnahmen wurden im Koalitionspapier
der CDU/FDP-Regierung in Hessen als Prioritäten aufgeführt (Frankfurter
Rundschau vom 6. April 1999).
- Man kann es nur als Ironie bezeichnen, dass
es der PISA-Studie der OECD bedurfte, um die hohe Selektivität des deutschen
Schulwesens (wahrscheinlich vorübergehend) zum Thema zu machen.
- Das hessische Bildungsministerium hat in
diesem Zusammenhang den denkwürdigen Begriff der Gegenstromverhandlung
geprägt (oder übernommen). Wie die neue Kompetenzverteilung zwischen Landesregierung
und kommunaler Ebene aussehen wird, ist auch Gegenstand des Pilotprojekts.
- Eins der diskutierten Szenarien wirft die
Frage auf: ...oder ist es eher ein Vorschlag zur Rückkehr zum Bildungswesen
des 18./19. Jahrhunderts (zuzüglich Internet)? (OECD 2001: 152)
- So z.B. die Roland Berger Strategy
Consultants: Wir müssen aber zweierlei tun: (...) den Wohlfahrtsstaat
reformieren und Überregulierung, Staatsquote etc. zurückfahren (Berger 2001:
38f).
- PPP
ist eine der herausragenden neuen alternatives to direct public provision and
regulation that might yield more cost-effective policy outcome (OECD 1995: 8).
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