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Zunehmende Ungleichheit

Stephen J. Ball im Interview mit Jürgen Klausenitzer über Marktelemente im Bildungssektor

In den letzten 15 Jahren lässt sich eine globale Tendenz beobachten – vor allem in den OECD-Staaten USA, Kanada, Neuseeland, Australien oder England/Wales, aber auch in den „Übergangsgesellschaften“ der ehemaligen Sowjetunion Marktelemente im Bildungssektor einzuführen. Diese Bestrebungen sind Bestandteil nationaler Strategien, die die Wettbewerbsposition der jeweiligen Nationalökonomie auf dem Weltmarkt verbessern sollen. Gleichzeitig proklamieren die BefürworterInnen dieser Dezentralisierungs- und Privatisierungspolitik, auch qualitative Verbesserungen im Hinblick auf höhere Effizienz und bessere Ergebnisse bei gleichzeitiger Verringerung von Personal und Kosten damit zu verbinden. Auch in Deutschland ist dies das Credo der gegenwärtigen Bildungspolitik. Jürgen Klausenitzer befragte den renommierten britischen Bildungsforscher Stephen J. Ball zu internationalen Erfahrungen und gesellschaftlichen Folgen solcher Strategien.

Professor Ball, kann vernünftigerweise angenommen werden, dass solche Strategien in Deutschland, also in einem Land, dessen Bildungssystem aufgrund von Tradition und Politik viele Besonderheiten aufweist, ähnliche Wirkungen zeigen werden wie in den oben erwähnten Ländern? Oder haben diese Länder gemeinsame Charakteristika und gemeinsame Wege in ihrer Bildungspolitik der Dezentralisierung und Privatisierung?

Ball: Es gibt auch noch andere Länder, vor allem in Lateinamerika, die von diesen Entwicklungen betroffen sind, teilweise, weil sie dem Trend des Westens folgen, teilweise weil ihnen eine solche Politik von der Weltbank aufgezwungen wurde, die auf eine Ausweitung der Marktförmigkeit, der Warenförmigkeit aller gesellschaftlichen Bereiche festgelegt ist und z.B. in Chile und Kolumbien die Einführung des Bildungsgutschein-Systems durchgedrückt hat. Auch einige Pazifik-Anrainerstaaten haben „Wahlfreiheit“ und „Wettbewerb“ im Bildungssystem eingeführt. Es handelt sich also tatsächlich um eine allgemeine Entwicklung. In der generellen Bewertung dieser Entwicklungen lassen sich zwei Positionen unterscheiden, wobei die eine mehr Gewicht auf nationale Besonderheiten legt, während die andere die globalen Trends für wesentlicher hält. Aufgrund einiger Jahre der Auseinandersetzung mit diesem Bereich halte ich die generellen Trends, die Gemeinsamkeiten, für bedeutsamer als die Unterschiede. Jedenfalls gibt es in vielen Ländern Untersuchungen, die belegen, dass z.B. die Entwicklung bezüglich Bildungszugang und Bildungsgleichheit sehr ähnlich ist, ungeachtet nationaler Besonderheiten aufgrund der jeweiligen Traditionen der Bildungssysteme. Es gibt zahlreiche Untersuchungen aus den USA aus Massachusetts, Alabama, San Francisco, Chicago, Milwaukee usw., die belegen, dass diese Politik vor allem zusätzliche Vorteile für die weiße Mittelklasse mit sich bringt. Es gibt auch Untersuchungen aus Neuseeland, Australien, Frankreich oder Großbritannien, die die gleichen sozialen Implikationen und Folgen von marktförmigen Bildungssystemen aufzeigen. Und es gibt sehr wenig Anzeichen für gegenteilige Entwicklungen. Nirgendwo hat man festgestellt, dass die Chancengleichheit verbessert worden wäre, obwohl es z.B. in den USA auch einige Programme gibt, die speziell auf neue Wahlmöglichkeiten für schwarze Arbeiterfamilien abzielen und von diesen unterstützt wurden. Aber solche Programme haben oft eine spezifische Funktion innerhalb eines Gebietes oder weisen bei näherer Betrachtung auf Schichtunterschiede innerhalb der sozialen Gruppe/Klasse hin. So gibt es z.B. in Milwaukee ein spezielles Programm, das Kindern ärmerer Familien den Zugang zu Privatschulen ermöglichen soll. Eine Untersuchung von John Whitte zeigt jedoch, dass die meisten Eltern, die dieses Programm nutzen, sich trotz ihres niedrigen Einkommens vom Durchschnitt dieser sozialen Gruppe unterscheiden.

Viel Forschung ist auch in das Thema „Autonomie“ investiert worden, d.h. in die neue Autonomie der „Produzenten“ – der Schulen – auf dem Bildungsmarkt. Dort zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem, was oberflächlich wie „Autonomie“ aussieht, und den realen Erfahrungen von Schulen und LehrerInnen. Ich denke, einer der durchgängigen Effekte dieser Kombination von Wahlfreiheit und Wettbewerb/Autonomie ist, dass sich die Bedeutung der Aufgaben von LehrerInnen generell und grundlegend ändert. Der interessanteste Autor zu diesem Thema in Großbritannien ist m.E. John Clarke, der sich nicht speziell mit Bildung, sondern mit dem öffentlichen Sektor insgesamt befasst. Er ist der Ansicht, dass Markt und Management als Doppelmechanismus transformierende Kräfte sind. Ihr Zweck und Ergebnis ist die Transformation des öffentlichen Sektors von einem System von Institutionen, die durch die Dienstleistungen eines professionell-bürokratischen Regimes gekennzeichnet sind, zu einem System, das von den Werten eines Management- und Unternehmensregimes dominiert wird. Dies wird von Untersuchungen in diesem Bereich bestätigt. Die Einführung des Marktes bringt also keineswegs nur technische Veränderungen, sondern vor allem einen tief greifenden kulturellen und ethischen Wechsel.

Es wird ja auch von einigen BefürworterInnen dieses Paradigmenwechsels behauptet, man könne beides gleichzeitig haben, eine Minimierung der Kosten und eine Bildungsreform in der Tradition von Chancengleichheit und gleichem Zugang zu Bildung für alle, wie z.B. bei den Gesamtschulen. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Ball: So etwas kann es nur in einem „idealen Markt“ geben, der Sorte von idealem Markt, auf den sich Chubb, Moe und andere Anhänger des Marktmechanismus berufen. Aber mir ist kein einziges reales Beispiel eines solchen Bildungsmarktes in irgendeinem Land bekannt. Die Bildungsressourcen sind in den meisten Ländern knapp, was bedeutet, dass es Konkurrenzdruck für den Zugang zu Institutionen der höheren Bildung gibt, der sich m.E. in den 1990er Jahren durch den Druck auf die Beschäftigungsverhältnisse der Mittelschichten weiter verschärft hat, da es für Mittelklassefamilien nun noch wichtiger als vorher ist, soziale Vorteile zur Erhaltung ihres Status zu sichern. Es gab eine OECD-Studie über Märkte von Donald Hirsch in zahlreichen Ländern und er belegte, dass solche Märkte eben nicht „ausgleichen“, wie die Ökonomen behaupten, weil nicht alle Nachfragenden das bekommen können, was sie haben wollen.

In der Praxis gibt es einen fundamentalen Widerspruch zwischen Nachfrage und Autonomie auf der einen und Chancengleichheit auf der anderen Seite. Bildungssysteme neigen dazu, auf der Basis von Hierarchien zu funktionieren, die von der Suche nach Exklusivität befördert werden, d.h. die Nachfrage/Wahl einiger Eltern ist davon bestimmt, eine sozial exklusive Schule zu finden, eine Institution, zu der die anderen Kinder eben keinen Zugang bekommen können. Indem durch ein System von Wahlfreiheit und Autonomie versucht wird, Chancengleichheit zu erreichen, ergibt sich ein systemimmanentes Problem: Das System arbeitet auf der Basis, Chancengleichheit zu verweigern, indem es die Wahlmöglichkeiten für Eltern zur Verfügung stellt, die Exklusivität wollen. Ohne eine strikte Kontrolle werden Schulen, die die Möglichkeit haben, Eltern aussuchen und sie werden diejenigen bevorzugen, die am besten in der Lage sind, die Ausbildung der Kinder zu unterstützen, also Kinder auswählen, die kostengünstig und leicht zu unterrichten sind.

Würden Sie sagen, dass Marktelemente im Schulsystem die Selektivität des Bildungssystems insgesamt erhöhen?

Ball: Ich denke, alle Untersuchungsergebnisse sprechen dafür. Marktelemente produzieren mehr Ungleichheit. Es gibt eine Diskussion darüber und einige Auseinandersetzungen über die Ergebnisse in Großbritannien. Aber mittlerweile gibt es Daten aus Ländern rund um die Welt, die belegen, dass die Schulen zunehmend segregiert werden – an beiden Enden der sozialen Stufenleiter. Es gibt eine Konzentration von Schulen, die hauptsächlich Kinder mit besonderen erzieherischen Anforderungen und Verhaltensproblemen haben, die tendenziell aus der Arbeiterklasse und/oder ethnischen Minderheiten kommen. Auf der anderen Seite stehen Schulen, die immer mehr ausschließlich von Mittelklasse-Kindern besucht werden und nur sehr wenige SchülerInnen mit besonderen erzieherischen Anforderungen haben. In der Mitte zwischen diesen Extremen gibt es noch mehr Vielfalt. Jedenfalls findet sich hier wiederum keinerlei Beleg für das Chancengleichheits-Argument.

Wie wirkt sich die steigende Selektivität des Bildungssystems auf seine Legitimation in der Richtung aus, dass angeblich jede und jeder die gleichen Rechte und Möglichkeiten hat, Beruf und sozialen Status frei zu wählen?

Ball: Diese Legitimation wird zunehmend schwächer. Das Marktmodell ist für PolitikerInnen attraktiv, da es eine Art „Hände-weg“-Modell ist: Es wird gesagt, wir geben die Entscheidungsmacht in die Hände der Eltern, also ist es deren Verantwortung, Entscheidungen zu treffen, die im besten Interesse ihrer Kinder sind. Wir strukturieren das System, um die Vielfalt zu erhöhen, um Eltern mehr Wahlmöglichkeiten zu geben. Das bedeutet oft auch, von einem Gesamtschulsystem zu einem differenzierteren Schulsystem zu wechseln. So bekamen wir in Großbritannien unter den Konservativen City Technology Colleges und Schulen, die von der lokalen Schulverwaltung unabhängig sind sowie eine verstärkte Selektion (im Sinne der Auswahl durch die Schule selber) und Spezialisierung von Schulen. Und Labour hat die Politik fortgesetzt, Schulen zu erlauben, sich die SchülerInnen teilweise auszusuchen sowie das Spezialschulen-Programm allgemein ausgeweitet.

Hat Selektion im Verhältnis zu Chancengleichheit eine positive Konnotation bekommen?

Ball: Nun ja, das hat mit der Vorstellung zu tun, dass die Eltern die freie Wahl haben. Das nimmt dem Staat den Legitimationszwang – oder die ideologische Absicherung – ab, indem gesagt wird, es ist nicht länger die Aufgabe des Staates, die Schule zu bestimmen, die Ihr Kind besuchen sollte, sondern es ist Ihre eigene Entscheidung. Damit wird die Rolle der BürgerInnen verändert und den Eltern die Verantwortung zugeschoben, die Ausbildung ihrer Kinder zu sichern – ein neoliberaler Begriff des Bürgers. Wenn Eltern also schlechte Entscheidungen treffen, dann sind sie eben schlechte Eltern. Deshalb propagiert die Labour-Regierung auch die Verbesserung elterlicher Fähigkeiten. Teil dieses Prozesses ist also die Übernahme der Verantwortung von Individuen und Familien für die Bildungsmöglichkeiten ihrer Kinder, für das Treffen der „richtigen“ Entscheidungen bezüglich der Schulwahl. Einige Soziologen sind nicht davor zurückgeschreckt, diese Entwicklung als „responsibilitisation“ zu bezeichnen. Dabei handelt es sich um einen Aspekt der Bewegung weg von Gemeinschaft und Gleichheit zu einem System der Ausdifferenzierung und Auswahl. Darin zeigt sich auch eine allgemeine Veränderung der Natur und des Kompetenzbereiches des Staates.

In all dem, in der Privatisierung von Politik und der Atomisierung durch Auswahl, werden Strukturen der Ungleichheit verschleiert. Indem immer mehr an Schulen und Eltern übertragen wird, werden die Strukturen des Gesamtsystems immer schwieriger zu erkennen. Das bedeutet, in der gegenwärtigen Situation wird das System immer undurchschaubarer, was Chancengleichheit und Zugangsmöglichkeiten zu Bildung betrifft. Andererseits hat die Labour-Regierung kürzlich erklärt, sich wieder vermehrt mit der Zulassung von Schulen beschäftigen zu wollen. Das Pendel schwingt also von Auswahl und Wettbewerb wieder zurück in Richtung Regulierung. Dennoch geht die Entwicklung der Eröffnung von immer mehr Spezialschulen, konfessionellen Schulen und Privatschulen ebenfalls weiter.

All dies sind Entwicklungen, die sich außerhalb des Klassenraumes abspielen, in der Gesellschaft. Wie wirkt sich die Entwicklung hin zu dem, was angeblich mehr Autonomie bedeutet, innerhalb der Schulen aus?

Ball: Die Antwort darauf hat zwei Aspekte. Auf der einen Seite gibt es wenig Beziehungen zwischen all diesen Außenfaktoren und dem, was im Unterricht passiert. Die LehrerInnen müssen genauso wie bisher ihre Arbeit machen, den nationalen Lehrplan erfüllen und andere Anforderungen und Ziele einhalten. Die „Rückseite“ von Dezentralisierung und Autonomie besteht in mehr Intervention und Leistungsdruck. Auf der anderen Seite wird es für die Schulen zunehmend wichtig, wie sie von den Eltern wahrgenommen werden und wie sie sich gegenüber den Eltern präsentieren. Es wird also viel mehr Wert auf das Image und den Eindruck einer Schule gelegt. Das verändert natürlich intern auch die Erwartungen an die LehrerInnen, wie sie sich verhalten und was im Unterricht für wichtig gehalten wird. Zudem müssen Schulen den Erfordernissen der Marktinformation entsprechen, Leistung erbringen, und unter dem Druck von Leistungskonkurrenz mit anderen Schulen verändert sich mit Sicherheit auch der Unterricht.

Nochmal zurück zu einer übergreifenden Fragestellung: In Deutschland wurde in einem Bericht von Gewerkschaftsfunktionären und Bildungsexperten die Einführung von Bildungsgutscheinen für weiterführende Schulen und den tertiären Bildungssektor befürwortet. Dieser Vorschlag ist auch Bestandteil der Weltbankpolitik gegenüber Drittweltländern und den „Übergangsgesellschaften“ des ehemaligen Ostblocks. Auch die EU befürwortet diese Politik der „Kostenteilung“ in Form von Bildungsgutscheinen als Bestandteil einer allgemeinen Politik der Vermarktung und Privatisierung des Bildungssystems. Was gibt es für internationale Erfahrungen mit diesem System der Bildungsgutscheine und wie wirkt sich das auf die Chancengleichheit aus?

Ball: Bildungsgutscheine wurden auch in Großbritannien erprobt, es gab bereits in den 1980er Jahren ein Pilotprogramm. Es wurde von Keith Joseph, damaliger Staatssekretär für Bildung und Mitglied der Mont Pellerin-Gesellschaft, durchgesetzt. Eingeführt wurde das System zunächst in einem Teil von Kent – und sehr schnell wieder aus dem Verkehr gezogen, da es zu teuer und zu ineffizient war. In jüngerer Zeit hat die konservative Regierung ein Gutscheinprogramm für Kindertagesstätten eingeführt, das als Pilotprojekt in vier Regionen begonnen wurde. Es sollte anschließend eine Evaluation in diesen vier Regionen geben, auf deren Grundlage dann über eine landesweite Einführung entschieden werden sollte. Nach sechs Monaten beschlossen die Konservativen aus unerfindlichen Gründen und ohne jede Evaluation, das Programm sei erfolgreich und solle landesweit eingeführt werden. Dann kamen jedoch die Wahlen dazwischen und die neue Labour-Regierung stoppte das Programm. Nachfolgende Untersuchungen ergaben, dass das Programm eine Vielzahl von unerwarteten Nebeneffekten produzierte. So führte es absurderweise zur Schließung von mehr als 1.200 Kindergruppen, die nicht in die Struktur und die Vorgaben des Programms passten. Die meisten dieser Kindergruppen versorgten sozial-ökonomisch schwache Regionen. Das Programm führte also zu einer massiven Verschlechterung der Versorgung in sozial benachteiligten Gebieten. Auf der anderen Seite wurde durch das Gutscheinsystem in Großstadtgebieten, insbesondere solchen der gehobenen Mittelschichten, eine Zunahme privater Kindertagesstätten hervorgerufen. Und, unerwartet aber gleichzeitig vielleicht besonders aufschlussreich, führte das System dazu, dass viele staatliche Grundschulen eine Kindergartenabteilung eröffneten, im Sinne eines „gutscheinmaximierenden Verhaltens“. Eine Auswertung durch die London School of Economics (LSE) stellt fest, dass das Programm seine selbst gesetzten Ziele ebenso verfehlt hat wie die Bedürfnisse der Eltern.

Es gibt oder gab mindestens zwei solcher Ansätze in Südamerika, ein regionales Programm in Kolumbien und ein nationales in Chile. In Chile hat dieser Ansatz gravierende Auswirkungen auf das gesamte Bildungssystem. Wenn ich es richtig verstanden habe, können die Bildungsgutscheine direkt für das staatliche Bildungssystem verwendet werden oder – aufgestockt mit privater Zuzahlung – im privaten Bildungssystem. Das Ergebnis war, dass viele Mittelklasse-Eltern das staatliche Bildungssystem verließen und die Gutscheine für traditionelle, elitäre Privatschulen nutzten oder im neuen, profitorientierten privaten Bildungssektor, der in Folge der Einführung des Gutscheinsystems entstanden ist. Damit bleiben den staatlichen Schulen wieder einmal die Kinder der Arbeiterklasse mit zahlreichen Problemen und wenig Geld. Infolgedessen haben die Schulen nicht mehr die finanziellen Möglichkeiten, eine ausreichende Bildung für die Kinder zu gewährleisten, die im staatlichen Sektor verbleiben. Martin Carnoy, der das chilenische Programm mehrere Jahre lang untersucht und ausgewertet hat, kommt zu dem Schluss, dass im Ergebnis die soziale Differenzierung zugenommen hat, ohne dass die privaten Schulen bei den Kindern aus den jeweiligen sozialen Schichten bessere Bildungsergebnisse erzielen als die staatlichen Schulen.

Meiner Meinung nach hat sich insgesamt gezeigt, dass Gutscheinsysteme äußerst ineffektiv sind, hohe Transaktionskosten verursachen und Chancengleichheit deutlich verschlechtern.

Es wird gerne argumentiert, dass nur 5 bis 10% der Kinder aus Arbeiterfamilien studieren und damit die Arbeiterfamilien über das allgemeine Steueraufkommen das Studium der Mittelklassekinder finanzieren. Von daher würde die Kostenteilung im Rahmen der Bildungsgutscheine mehr soziale Gerechtigkeit bewirken.

Ball: Für den höheren Bildungssektor hat dieses Argument einiges für sich. In Großbritannien gab es historisch ein System von Stipendien für Studierende und keine Studiengebühren, so dass es keine unmittelbare finanzielle Barriere für die Teilnahme der Arbeiterklasse an höherer Bildung gab. Diese Stipendien könnte man auch als eine Art Bildungsgutscheine interpretieren. In jüngerer Zeit liefen diese Stipendien zunehmend aus und wurden durch ein System von Darlehen und Gebühren ersetzt. Mittlerweile weist einiges auf die Einführung einer Art Graduiertensteuer hin, nicht zuletzt weil das Darlehenssystem Kinder aus Arbeiterfamilien von der höheren Bildung auszuschließen scheint. Obwohl die Zahl der Studienanfänger sich insgesamt verdreifacht hat, haben Studierende aus Arbeiterfamilien nur um 2 bis 3% zugenommen. Die Hauptnutznießer der Bildungsexpansion waren die Mittelschichten. Aber der Markt der höheren Bildung ist kein freier Markt, zumindestens in Großbritannien nicht. Die Elite-Universitäten suchen sich ihre Studierenden aus und das würde sich auch durch ein Gutscheinsystem nicht ändern.

Der genannte deutsche Bericht argumentiert, dass jeder die gleichen Chancen habe, eine Universität zu besuchen, da jeder ein Darlehen bekomme, das zurückgezahlt werden muss, sobald man eine anschließende Berufstätigkeit aufgenommen hat. Daher sei das System sozial gerecht. Ich würde annehmen, dass es für die Einstellung zur Aufnahme eines größeren Darlehens und damit zu einem Berufsstart unter einer spürbaren Schuldenlast durchaus einen Unterschied macht, ob man aus der unteren oder gehobenen sozialen Schicht kommt.

Ball: Die bisherigen Untersuchungen hierzulande bestätigen das. Es gab zwei Untersuchungen des Policy Studies Institute zum System der Studiendarlehen, in denen sich durchaus soziale Unterschiede in der Bereitschaft von Studierenden zeigten, ein solches Darlehen aufzunehmen. Studierende aus der Arbeiterklasse haben deutlich mehr Befürchtungen, wenn sie gezwungen sind, ihr Arbeitsleben bereits mit einer großen Schuldenlast zu beginnen. Und diese Befürchtungen sind keineswegs völlig grundlos. Die Universitäten mit dem höchsten Anteil an Studierenden aus der arbeitenden Bevölkerung haben gleichzeitig die höchste Rate von Studienabbrechern, die höchste Rate an Arbeitslosigkeit nach dem Studium und das niedrigste Durchschnittseinkommen ihrer AbsolventInnen.

Aber dann, so wird argumentiert, muss ja auch nichts zurückgezahlt werden, falls das Einkommen zu gering ist.

Ball: Dennoch wirken finanzielle Schwierigkeiten und Schulden als Barrieren für die Bildungsbeteiligung und die Labour-Regierung glaubt, dem mittels der Graduiertensteuer begegnen zu können. Aber auch das wird an der Geschichte der sozialen Differenzierung im Bildungssystem wenig ändern und auch nicht an der Klassenspezifik der britischen höheren Bildung, aufgrund derer junge Leute aus der Arbeiterklasse höhere Bildung als etwas kennenlernen, das nicht für sie gedacht ist. Dafür sind auch Marktmodelle, Wahlfreiheit, Bildungsgutscheine oder Wettbewerb keine Lösung. In der Propagierung des Marktes findet sich eine Menge naiver Glauben an einseitige Lösungen: Bildungsgutscheine werden für mehr Gerechtigkeit sorgen, Wettbewerb zwischen den Schulen wird die Standards anheben, alle Eltern werden zu aktiv Entscheidenden, sobald sie nur die Möglichkeit dazu haben. Das ist soziologisch gesehen naiv und ignorant gegenüber der Komplexität sozialer Probleme. Zudem romantisieren solche Argumentationen die Funktionsweise kommerzieller Märkte, die entgegen der Theorie meist doch hierarchisch, segmentiert, ungerecht und ineffizient sind.

Dasselbe scheint auch für das zu gelten, was Blair die New-Labour-Bildungsstrategie nennt: nicht Strukturen, sondern Anforderungen. Die Anforderungen anzuheben macht nur dann Sinn, wenn man davon ausgeht, dass es eine große Nachfrage nach Hochqualifizierten gibt, um auf dem Weltmarkt Konkurrenzvorteile zu haben. Diese Strategie verfolgen zwar alle OECD-Staaten, aber gibt es tatsächlich Anzeichen dafür, dass es eine starke Nachfrage nach Hochqualifizierten in den Industriestaaten gibt?

Ball: Es gibt Anzeichen dafür, hier und da. Es gibt gewisse Engpässe bei der Besetzung von Stellen in bestimmten Bereichen von Wissenschaft und Computertechnologie, außerdem in der Medizin und im LehrerInnenbereich. Aber auch das sind Probleme, die sich nicht durch eine einzelne Maßnahme lösen lassen. Zum Beispiel nimmt trotz steigender Beteiligung an höherer Bildung die Zahl der AbsolventInnen im mathematischen Bereich immer weiter ab. Und natürlich gibt es eine Überkapazität in anderen Bereichen der Hochschulausbildung. So bilden wir in Großbritannien Jahr für Jahr 3.000 JuristInnen mehr aus als gebraucht werden und in den 1990er Jahren waren 40% unserer qualifizierten ArchitektInnen arbeitslos. Es gibt eine Menge Rhetorik bezüglich der angeblich wissensbasierten Wirtschaft, einer Ökonomie der hohen Qualifikation, aber in Wirklichkeit fand der Beschäftigungszuwachs der 1990er Jahre im Freizeit- und Dienstleistungssektor statt, also im Bereich meist gering qualifizierter und schlecht bezahlter Arbeit.

Der entscheidende Punkt bezüglich der Anforderungen - auch das ist ein weltweiter Trend - ist die Hinwendung der Regierungen zu Ziel- und Leistungsindikatoren im Bildungssystem. Dies lässt sich wiederum in Nordamerika, in Lateinamerika, Großbritannien, Europa und dem fernen Osten beobachten. Ich war kürzlich in Hong Kong, wo gerade ein zielorientiertes Curriculum eingeführt worden ist. Grundlage all dieser Bemühungen ist die Annahme, dass das, was mittels solcher Indikatoren gemessen wird, eine tatsächliche und realistische Verbesserung der Anforderungen darstellt. Aber es beginnt sich abzuzeichnen, dass innerhalb solcher Systeme vor allem eine Verbesserung in der Fähigkeit auftritt, die Zielvorstellungen zu erfüllen, die zur Bestimmung der Indikatoren verwendet werden. Wenn Schulen Zielvorgaben gemacht werden, werden sie ihre Aktivitäten auf die Erreichung dieser Zielvorgaben richten. Sie werden ihre SchülerInnen dazu befähigen, die Tests oder Prüfungen oder Leistungen zu bewältigen, die von den Indikatoren verlangt werden. Die meisten dieser Indikatoren sind jedoch per Definition sehr aufgabenzentriert, sie sind hochgradig kontextabhängig, äußerst individuell und haben außerhalb der Schulsituation wenig Relevanz. Damit bekommt man zwar einerseits bessere Tests von den SchülerInnen, aber was sie dafür lernen, ist hochgradig kontextabhängig, ohne Bezug zu realen Lebenssituationen und kaum übertragbar. Es ist einigermaßen schwierig, das in Übereinstimmung zu bringen mit den Ausführungen von Ökonomen und Politikern, die die neue Generation flexibler und hochqualifizierter Arbeitskräfte beschreiben.

Ich danke für das Gespräch.
© links-netz Juni 2003