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Jetzt lesen sie wieder – mehr als Kaffeesatz?

Anmerkungen zur Rolle von Internationalen Vergleichsstudien anlässlich der Iglu-Studie

Jürgen Klausenitzer

Es ist wieder high time für bildungspolitische Auguren: Die öffentlichen Kommentare zur Iglu-Studie (Internationale Untersuchung zum Leseverständnis in der Grundschule) fallen diesmal eher euphorisch aus als diejenigen zu den früheren internationalen Vergleichsstudien wie TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) oder PISA (Programme for International Student Asessment der OECD). Der Grund dafür liegt auf der Hand: In den immer wieder fabrizierten Ranking-Listen befindet sich Deutschland diesmal auf einem als passabel und nicht mehr katastrophal wahrgenommenen Platz.

Heißt das nun, dass über internationale Vergleichsstudien, deren Ergebnisse und Bedeutung in Ruhe und ernsthaft öffentlich nachgedacht wird, um daraus begründete Schlüsse zu ziehen? Weit gefehlt!

In den letzten Jahren hat es eine Reihe von internationalen Vergleichsstudien zu Schulleistungen gegeben, z.B. die 1991 durchgeführte Internationale Lesestudie der IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement), die Studien von Andy Green und Hilary Steedman (durchgeführt 1993), TIMSS (IEA, 1995), PISA (OECD, 2001), und jetzt Iglu (Internationale Untersuchung zum Leseverständnis in der Grundschule, 2003). Hier ist nicht der Ort, auf diese Studien im Einzelnen einzugehen. Es kann aber dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass der Tatbestand, dass diese verschiedenen Studien zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen kommen, wie etwa im Hinblick auf die Lese-Leistungen von Schülern, nicht ernsthaft öffentlich diskutiert wird. So schreibt etwa Hans Brügelmann: „Wie passen die schlechten Ergebnisse (bei PISA, JK) dazu, dass deutsche Dritt- und AchtklässlerInnen 1991 in der Internationalen Lesestudie (IEA) noch im Mittelfeld gelandet sind? (...) In den zitierten Befunden zeigen sich Ungereimtheiten, die aufzuklären sind, ehe man Urteile über den relativen Leistungsstand fällt und Schlüsse über deren Ursachen zieht.“ (Freitag, Dez. 2001, Nr. 52, S. 9) Eben diese Aufklärung findet aber nicht statt. Die Ergebnisse der zitierten Studien werden nicht in Beziehung zueinander gesetzt und einer genauen Analyse unterzogen. Dies gilt auch für die Iglu-Studie. Deshalb kann man gut nachvollziehen, wenn der Doyen der deutschen empirischen Schulforschung und Spezialist für Schulleistungstests, Karlheiz Ingenkamp, zu dem Schluss kommt: „Diese PISA-Ergebnisse (man muss das heute auf die IGLU-Studie erweitern, JK) sind ohne Zweifel ein wichtiger Hinweis, der mit anderen, ähnlichen Untersuchungen zu verbinden wäre. Aber sie sind auf keinen Fall eine abschließende Analyse der Leistungsfähigkeit aller Stufen unseres Schulsystems. Auf ihrer Basis allein Änderungen des ganzen Schulsystems, des föderalen Systems und der Verfassung zu fordern, ist leichtfertig und verantwortungslos.“ (Empirische Pädagogik, Nr. 16 (3), 2002, S. 415) Dies aber geschieht zur Zeit, indem die internationalen Vergleichsstudien zu Steinbrüchen gemacht werden, aus denen sich die neo-liberalen Umbau-Ingenieure willkürlich Daten zur Legitimation der verschiedensten bildungspolitischen Maßnahmen herausbrechen. Deshalb stellt sich die Frage: Warum ist das so?

Die oben genannten internationalen Vergleichsstudien haben sicher interessante Detail-Informationen zutage gefördert, aber sie sind Momentaufnahmen, die gewisse Korrelationen deutlich machen, aber über Gründe und Ursachen wenig aussagen. Und im Kern sind sie nicht neu. Wer über den Zustand des deutschen Bildungswesen sich in Kenntnis setzen wollte, konnte das auch schon vorher tun, so z.B. über die Zahl der ohne Abschluss von der Hauptschule abgehenden Schüler, die Zahl von Jugendlichen, die keine Lehrstellen finden oder die (über Jahrzehnte kaum veränderte) Anzahl von Kindern aus Arbeiterfamilien, die erfolgreich einen Universitätsabschluss ablegen konnten: Alles wesentliche Indikatoren für die Qualität eines Bildungswesens. Die ebenfalls deutlich unterdurchschnittlichen deutschen Ergebnisse der im Jahr 1974 publizierten First International Science Study (FISS) hat in diesen Jahren niemand groß interessiert.

Der Kommentar zur PISA-Studie von Karlheiz Ingenkamp („Die(se) Reaktionen von Politikern und Journalisten sind die wahre PISA-Katastrophe.“) beschreibt den Charakter der veröffentlichten Meinung richtig, geht aber an der (politischen) Sache vorbei. Es wird hier dagegen die These vertreten, dass das Katastrophengemälde von Qualitätsdefiziten und Verkrustungen, Bürokratismus und organisierter Verantwortungslosigkeit im Bildungsbereich jetzt organisieren soll, was Alt-Bundespräsident Roman Herzog mit seiner sogenannten Adlon-Rede vom Juni 1997 nicht gelungen ist: Nämlich den gesellschaftlichen Druck zu organisieren zur Restrukturierung des Sozialstaats im Allgemeinen und des öffentlichen Bildungswesens im Besonderen. Der von Herzog eingeforderte gesellschaftliche „Ruck“ zur Einleitung einer gesellschaftlichen Modernisierung verhallte Ende der 90er ohne größere Resonanz. Erst der von der PISA-Studie in einer Art von bench-marking System öffentlich gemachte Modernitätsrückstand des deutschen Bildungswesens gegenüber anderen OECD-Ländern und die damit vermuteten Defizite im Wettbewerb um globale Märkte führten unter der Perspektive von „Qualitätssicherung, Effizienzmaximierung und Wettbewerb“ zu ersten Restrukturierungsschritten, wie z.B. die Durchführung von Pilotprojekten zur „Selbständigen Schule“, Budgetierung, aber auch die Bereitstellung von Geldern für die Einrichtung von Ganztagsschulen, Förderung von sprachlicher Frühförderung etc. Die über Jahre hin bekannten Defizite des deutschen Bildungswesens werden nun aber vor allem zum Anlass und Vorwand genommen, im Einklang mit Rationalisierung und Privatisierung in anderen Bereichen öffentlicher Dienstleistungen den institutionellen Rahmen der Bildungsverwaltung zu restrukturieren: von der input- (Lehrpersonal, Gebäude, Curricula, Verwaltung) zur output- oder Ergebnis-Steuerung.

Dabei sind (neben den „normalen“ Rationalisierungen wie Extensivierung, Intensivierung und Prekarisierung der Arbeit) im Wesentlichen zwei, manchmal zusammenfallende, Entwicklungen zu beobachten:

1.eine verschärfte Selektivität des bestehenden 3-gliedrigen Schulwesens (z.B. durch erhöhte Leistungsanforderungen, Einführung zentraler Abschlussprüfungen, Schulzeitverkürzung); und

2.eine zunehmende Verbetriebswirtschaftlichung (unter dem Motto „Autonomie und Eigenverantwortung“ z.B. in Form von Neuer Verwaltungssteuerung, Teil-Autonomisierung von Bildungsinstitutionen, der Planung von Standards und Qualitätsindikatoren zur Ergebnissteuerung des Bildungswesens).

Die Verbetriebswirtschaftlichung ist Teil einer Strategie zur Modernisierung der Steuerungsfunktion der Bildungsverwaltung, die allerdings die zentralen Funktionen des Bildungswesens unberührt lässt.

Jenseits der Validität und Inhalte der Aussagen von internationalen Vergleichstudien dienen diese der Legitimationsbeschaffung einer Restrukturierung des Bildungswesens, die sich weniger an Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit orientiert als an einer möglichst effektiven Produktion von Humankapital. Angesichts der oben angedeuteten Entwicklungsperspektiven der gegenwärtigen Bildungspolitik dürfte das auch für die Iglu-Studie und die diversen noch ausstehenden Nachfolger der PISA-Studie der OECD gelten.

Die Logik dieser Bildungspolitik erschließt sich, wenn man sie in den Kontext des allgemeinen Umbaus des Sozialstaats stellt. Im Wesentlichen bedeutet er - neben der Rationalisierung - eine zunehmende Verlagerung der Kosten von Ausbildung, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit auf Privathaushalte und damit die (endgültige) Aufkündigung des Anspruchs auf die Realisierung des Solidarprinzips. Eine solche Bildungspolitik bedeutet eine zunehmende Individualisierung von Risiken und Chancen für Erfolg und Versagen auch im Bildungswesen. Dies bedeutet eine Entwicklung zu Lasten der sogenannten „bildungsfernen Schichten“, die in eben dieser Distanz gehalten werden sollen und zum Vorteil der mit „höherem kulturellen und materiellem Kapital“ ausgestatteten Mittelschichten, für die der Markt ein Mittel zur Wahrung ihrer Klasseninteressen darstellt.

© links-netz Juni 2003