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Neue Unübersichtlichkeit – Spanien nach den Wahlen

Holm Detlef Köhler

Die Wahlen vom 20. Dezember 2015 haben Spanien ein neues Parteiensystem gebracht, das die politische Fragmentierung in der Bevölkerung nun auch im Parlament widerspiegelt. Die sich seit den frühen 1980er Jahren abwechselnden Regierungsparteien PSOE (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) und PP (konservative Volkspartei) haben nun zwei fast ebenbürtige Konkurrenten bekommen: die linke Bewegungspartei Podemos (Wir Können) und die liberale bürgerliche Partei Ciudadanos (Bürger).

Wahlergebnisse in Prozent der Stimmen und Zahl der Abgeordneten

Partei

Abgeordnete

Prozent 2015

Prozent 2011

PP

123

28,72

44,63

PSOE

90

22,01

28,76

Podemos

69

20,66

-

Ciudadanos

40

13,93

-

ERC-CAT SI

9

2,39

1,06

DiL

8

2,25

4,17

PNV

6

1,2

1,51

(I)UP

2

3,67

6,92

EH Bildu

2

0,87

1,37

ERC-CATSI (Esquerra Republicana de Catalunya y la plataforma Catalunya Sí)) und DiL (Democràcia i Llibertat) sind katalanische Wahlgruppierungen, die aus den historischen Parteien Ezquerra Republicana und Convergencia i Unió hervorgegangen sind. PNV und EH Bildu sind baskische nationalistische Parteien.

Das Wahlergebnis lässt zwei konträre, gleichwohl gut begründbare Interpretationen zu. Die Tatsache, dass eine linke Bewegungspartei innerhalb weniger Monate aus dem Nichts und ohne finanzielle, administrative oder mediale Ressourcen mit 20 Prozent zur drittstärksten Parlamentsfraktion gewählt wurde, ist ein klarer Hoffnungsschimmer in einem Land, das in den letzten Jahren durch die gravierenden Folgen der Wirtschaftskrise, das Austeritätsdiktat der europäischen Troika und den korrupten Sumpf der etablierten Parteien zutiefst deprimiert wurde. Der jugendliche Volksaufstand in Form der „Indignados“ (Empörten), die 2011 monatelang alle zentralen Plätze der spanischen Städte besetzt hielten, hat nun endlich auch einen politisch-institutionellen Widerhall gefunden. Auf der anderen Seite aber bleiben die beiden in unzählige Korruptionsskandale verwickelten Mehrheitsparteien PP und PSOE die beiden stärksten Fraktionen und man fragt sich, was eigentlich passieren muss, damit die spanischen Wähler einer echten Alternative endlich eine Chance geben. Den laufenden Meinungsumfragen zufolge haben die beiden neuen Parteien Podemos und Ciudadanos zumindest vorläufig ihr Wählerpotential ausgeschöpft und treten seit Monaten auf der Stelle (Podemos) oder verlieren gar an Unterstützung (Ciudadanos).

Wer Spanien in Zukunft wie regieren wird, bleibt auf absehbare Zeit ungewiss und alles deutet auf Neuwahlen hin, ohne dass davon eine Klärung der Situation zu erwarten ist. Weder die amtierende PP noch die PSOE finden ausreichende Koalitionspartner für eine parlamentarische Mehrheit. Die von Bundeskanzlerin Merkel empfohlene Große Koalition wird von der PSOE aus strategischen Gründen abgelehnt. Sie käme einem Offenbarungseid gleich, mit dem diese bis 2011 regierende und die neoliberale Krisenpolitik einleitende Partei endgültig als politische Alternative abdankt. Der weitere Niedergang der Sozialisten wird allerdings kaum aufzuhalten sein. Der aus der Retorte hervorgezauberte ebenso smarte wie profillose Spitzenkandidat Pedro Sánchez weigert sich, wieder zu verschwinden, und versucht, ähnlich wie in Portugal, die Partei zum Zentrum einer breiteren politischen Alternative und Koalitionspartner für Podemos zu machen, eine Konstellation, die in mehreren Städten wie Madrid, Barcelona oder Valencia funktioniert. Die Parteibarone um die andalusische Ministerpräsidentin Susana Díaz lehnen dagegen eine Zusammenarbeit mit Podemos strikt ab und bereiten im Hintergrund die Abwahl von Generalsekretär Sanchez vor.

Hat Podemos auf diese Art eine tiefe Spaltung in der empfindlich geschwächten PSOE provoziert, so ist der Effekt für das linke Wahlbündnis Izquiera Unida noch viel nachhaltiger und womöglich tödlich. Die Mehrheit der in den 1980er Jahren aus der Kommunistischen Partei hervorgegangenen Koalition hat vergeblich versucht, ein Wahlbündnis mit Podemos zu schmieden, und ist mit dem neuen Label Unidad Popular auf ganze 2 Sitze und 3,6 Prozent zusammengeschrumpft. Viele Anhänger haben sich direkt Podemos angeschlossen, während der aktuelle Parteiführer Alberto Garzón über eine neue Parteigründung nachdenkt.

Podemos hat somit erfolgreich zur Spaltung und Schwächung der linken Parteien beigetragen, ist jedoch selbst weit davon entfernt, eine kohärente einheitliche Organisation zu sein. Immerhin gehören ein Drittel der Abgeordneten nicht direkt zu Podemos, sondern zu autonomen regionalistischen Listen, wie der katalonischen En Comú, der valencianischen Compromis, der galizischen En Marea oder der baskischen Podemos Gruppe, die in ihren jeweiligen Regionen Volksentscheide über eine mögliche Unabhängigkeit und Abspaltung von Spanien fordern. Nicht nur in diesem hochdelikaten Thema hat sich die Podemos-Führung extrem ambivalent verhalten und gleichzeitig das Recht auf regionale Volksentscheide - ein klarer Bruch mit der spanischen Verfassung - und die Einheit Spaniens verteidigt. Wahlstrategisches Taktieren und populistischer Opportunismus haben bei Podemos in den letzten Monaten klare programmatische Aussagen häufig verdrängt.

Das Paradebeispiel für die anhaltende Politikblockade in Spanien ist Katalonien, wo sich der amtierende Ministerpräsident Artur Mas zum Führer der in den letzten Jahren erstarkten Unabhängigkeitsbewegung erklärt hat und davon träumte, erster Präsident der Republik Katalonien zu werden. Seine Partei Convergencia i Unió ist darüber auseinandergebrochen und Mas ist nun Führer der nationalistischen Koalition mit dem Namen Junts pel Sí (Gemeinsam für das Ja zur Unabhängigkeit). Seit den Regionalwahlen im September 2015 verfügt die Koalition über knapp 40 Prozent der Stimmen und 62 der 135 Abgeordneten. Seit 2012 ruft die katalonische Regierung ständig zu Volksbefragungen, Unabhängigkeitserklärungen und Ungehorsam gegenüber dem spanischen Staat auf und verabschiedet Routen zur Unabhängigkeit, allesamt verfassungswidrige Maßnahmen, die vom spanischen Verfassungsgericht regelmäßig illegalisiert werden.

Zur Mehrheit im Parlament benötigte Mas die Stimmen der neuen linksradikalen Bewegung CUP (Candidatura d'Unitat Popular), die mit 8 Prozent der Stimmen über 10 Abgeordnete verfügt und eine Sozialistische Republik Katalonien außerhalb von Spanien, der EU und dem Euro verkündet, ein der konservativen Regierung diametral entgegengesetztes Unabhängigkeitsprogramm. Die Mehrheit der CUP, ein Sammelsurium linker Gruppen ohne Parteiorganisation mit Generalversammlungen und Abstimmungen als einziger Struktur, verweigerte Mas dementsprechend die Unterstützung zur Präsidentenwahl, was Neuwahlen unausweichlich erscheinen ließ. Am Sonntag, dem 10. Januar, wenige Minuten vor dem Ablauf der Frist zur Wahl des neuen Ministerpräsidenten, kam es zu einem überraschenden Manöver, bei dem Mas seine Kandidatur zurückzog, um so die Unterstützung der CUP möglich zu machen. Ein Teil der CUP Abgeordneten ermöglichte daraufhin die Wahl des Bürgermeisters der nordkatalonischen Stadt Girona und Vorsitzenden der Vereinigung der Städte und Gemeinden für die Unabhängigkeit, Carles Puigdemont, zum neuen Ministerpräsidenten. Sein Programm verspricht eine Intensivierung des Abspaltungsprozesses und damit des politischen Krieges gegen die spanische Regierung, gegen die „spanischen Invasoren, die es aus dem Land zu werfen gilt, damit Katalonien endlich frei und souverän werden kann“, so der neue Ministerpräsident.

Die Unabhängigkeitsfrage spaltet die katalonische Gesellschaft und ihre politischen Institutionen in zwei fast gleichstarke und sich immer unversöhnlicher gegenüberstehende Lager und verhindert jegliches politische Handeln. Nicht nur Katalonien, ganz Spanien und insbesondere die Zentralregierung werden dadurch von der katalonischen Unabhängigkeitsdrohung in Schach gehalten, ohne dass eine politische Kraft zur effektiven föderalen Neuordnung des Staates in Sicht wäre. Der Politzirkus ohne handlungsfähige Regierungen und voll hohler Rhetorik wird damit weitergehen, bis auch der Letzte überzeugt ist, dass Demokratie ein absurdes Theaterspiel ist.

Ein Land mit ständig neuen Parteien und Koalitionen, die nie Regierungsfähigkeit erlangen, könnte ja durchaus unterhaltsam und erfrischend sein, wären da nicht drängende soziale und wirtschaftliche Probleme, die nur durch gezielte Politik zu bewältigen sind. Spanien leidet seit acht Jahren unter einer Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent, einer Jugendarbeitslosigkeit von ca. 45 Prozent, einem Anteil prekärer Beschäftigung von 30 Prozent, einer enorm angestiegenen sozialen Ungleichheit und Armutsrate, der Abwanderung gut ausgebildeter Jugendlicher, einer hohen privaten und öffentlichen Verschuldung und vieler Folgeprobleme mehr. Die von der konservativen Regierung auf Betreiben der EU verfolgte Austeritätspolitik, der Abbau sozialer Rechte und die Deregulierung des Arbeitsmarktes haben diese Probleme nicht behoben, sondern verstärkt. Dass unter diesen Umständen die Unfähigkeit der politischen Klasse noch nicht zu rechtspopulistischen Alternativen wie in vielen anderen europäischen Ländern geführt hat, grenzt beinahe an ein Wunder.

Das Wahlergebnis belegt allerdings auch einen sich vertiefenden Graben zwischen dem urbanen, modernen und weltoffenen und dem traditionellen konservativen Spanien. Im ersten haben die neuen Parteien Podemos und Ciudadanos klar die Wahl gewonnen, doch das sehr ungleichgewichtige Wahlbezirksystem verleiht den Stimmen der ländlichen konservativen Regionen ein viel stärkeres Gewicht. So genügten der Baskischen Nationalistischen Partei PNV 50.200 Stimmen für einen Abgeordneten während die linke UP dafür 461.000 Stimmen benötigte.

Ob die Wahlen tatsächlich das Ende des Regimes von 1978 (Verabschiedung der geltenden Verfassung) und des Zweiparteiensystems und den Anbruch einer neuen Ära bedeuten, wird erst die Zukunft zeigen. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Zukunft von Podemos als linker Alternative. Dafür ist insbesondere politische Phantasie in den Rathäusern notwendig, in denen Podemos Regierungsverantwortung übernommen hat. Die generelle Pattsituation in der spanischen Politik lässt derzeit nur wenig Raum für linke Euphorie.

© links-netz Januar 2016