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Vom Scharfmachen und Weitermachen

Entwicklungen und Perspektiven europäischer Flüchtlingspolitik

Karl Kopp und Thomas Kunz

Nachdem am 3. Oktober 2013 vor der Insel Lampedusa ein Schiffsunglück mit mehr als 360 Todesopfern die öffentliche Aufmerksamkeit auf das tägliche Sterben im Mittelmeer und die katastrophale Situation von Flüchtlingen lenkte, sahen sich Politikerinnen und Politiker auf nationaler wie auf EU-Ebene – nicht zuletzt auch durch das vorübergehende Erstarken europaweiter Proteste gegen die bisherige EU-Grenzpolitik – genötigt, Position zu beziehen. Allerdings zeigte sich relativ schnell, dass die Katastrophe von Lampedusa keine Wende bringen würde. Mehr noch: Nachdem die Situation im Mittelmeerraum den Weg in die Prime-Time-Ausgaben der Nachrichtensendungen fand, wurde deutlich, dass solche Katastrophen eigentlich der Regelfall sind und fatalerweise auch weiter sein werden, wenn auch das Ausmaß dieses Mal besonders erschreckend gewesen sein mochte. Darüber hinaus schuf die Tragödie ein gesellschaftliches Klima, in dem die EU- (und mit dieser auch die bundesdeutsche) Flüchtlingspolitik sowie die offensichtliche Doppelmoral im politischen Umgang mit Flüchtlingen verstärkt kritisch hinterfragt wurden. Auch wenn die Diskussion mittlerweile (und erwartungsgemäß) wieder abgeflaut ist: Die Fragen, die aufgeworfen wurden, bleiben weiter drängend und mit ihnen das Nachdenken darüber wie eine andere europäische Flüchtlingspolitik aussehen müsste.

Ultima ratio herrschender Flüchtlingspolitik: Die Inkaufnahme von Toten

Auch wenn das Flüchtlingsdrama vor Lampedusa die unmittelbaren Konsequenzen des fortschreitenden Ausbaus der „Festung Europa“ und die Kritik hieran in den Fokus der öffentlichen Diskussion rückte, war es doch nur eine Frage der Zeit bzw. des Vergessens, wann sich die Empörung wieder legen würde. So gesehen kann die Katastrophe in mehrfacher Hinsicht als exemplarisch gelten. Sie führte einmal mehr und eindrücklich die medialen Mechanismen vor Augen, die den Verfechterinnen und Verfechtern einer weiteren Verschärfung der europäischen Antizuwanderungspolitik in die Hände spielen. Denn aus deren Sicht galt und gilt es, medienwirksam unverbindliche Betroffenheit mit den Opfern zu zeigen und gleichzeitig Kritik am mörderischen Grenzregime der EU unter Rückgriff auf ressentimentgeladene Flüchtlingsszenarien zu delegitimieren – und die bisherige Abschottungspolitik weiter zu betreiben.

Diese Ambivalenz aus kurzzeitiger Aufmerksamkeit und institutionellem Beharrungsvermögen erschwert die Bewertung der Situation aus kritischer Sicht. Aber obwohl das schnelle Übergehen zur Tagesordnung absehbar war, bleibt doch in der Rückschau zumindest festzuhalten, dass wenigstens für eine kurze Zeit die institutionellen Rahmenbedingungen, die wesentlich Verantwortung für die größer werdenden Seefriedhöfe tragen, in den Blick rückten und zum Gegenstand einer EU-weit vernehmlichen Proteststimmung werden konnten.

Wäre der Anlass hierfür nicht so schrecklich gewesen, wäre man geneigt zu sagen „endlich”. Denn gestorben wird schon seit langem, zahlreich und täglich an Europas Außengrenzen. Für viele Flüchtlinge endet der Traum von Europa tödlich, noch bevor sie ihren Fuß auf europäischen Boden setzen können. Was verschwiegen wird: Letztlich wird genau das in Kauf genommen. Denn es ist die Konsequenz einer europäischen Flüchtlingspolitik, die schnelle Einigungen bei der Fortentwicklung der Abwehrpolitik erzielt, aber heillos zerstritten ist, wenn es um die Flüchtlingsaufnahme geht. Das gemeinsame Asylsystem in der EU ist weiterhin Flickwerk, ein menschenrechtskonformes und solidarisches Schutzsystem noch immer in weiter Ferne.

Die sogenannte Dublin-Verordnung sieht vor, dass in der Regel derjenige Staat für ein Asylverfahren zuständig ist, der die Einreise „verursacht“ hat, der – mit anderen Worten – beispielsweise seine Grenze nicht „ordentlich“ geschützt hat. Würde diese Regelung funktionieren, wären meist die Außengrenzstaaten für die Asylprüfung zuständig.

Die Toten im Mittelmeer, im Atlantik und anderswo sind also Opfer einer europäischen Außengrenzpolitik, die auf Abschottung, massive paramilitärische Aufrüstung und Überwachung setzt. Seit 1988 sind nach Angaben der kritischen Online-Beobachtungsplattform Fortress Europe mindestens 19.372 Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten (Stand vom 11. Oktober 2013) an den europäischen Grenzen gestorben – die Dunkelziffer ist hoch. Flüchtlinge, die es dennoch schaffen, vegetieren unter unwürdigen Bedingungen in Elends- oder Haftlagern. Die europäische Abschottungspolitik, die immer auch Abschreckungspolitik sein soll, ist, zynisch betrachtet, also ein Erfolgsmodell – faktisch und moralisch ist sie dennoch gescheitert (vgl. Fortress Europe 2013). Moralisch ist sie gescheitert, angesichts all der Toten und der menschenunwürdigen Behandlung der Flüchtlinge, die es lebend schaffen. Faktisch ist sie gescheitert, da die Abschottungsstrategie Zuwanderung zwar erheblich erschwert, aber nicht in dem Maße wie es die Verfechter des restriktiven Zuwanderungsregimes eigentlich beabsichtigen. Die Verantwortlichen für diese Politik haben nicht zuletzt auch aus diesem Grunde ein fortbestehendes Interesse daran, die Festungsmauern immer höher zu ziehen. Die martialischen Befestigungsanlagen in Melilla und Ceuta, den spanischen Enklaven in Nordafrika und die Toten, die dort beim Versuch, die Grenzen zu überwinden, zu beklagen sind, stellen einen weiteren Beleg für diese menschenverachtende Politik dar.

Die EU nach Lampedusa: Weiter wie bisher?

Drei erschütternde Aspekte charakterisieren den eingeschlagenen Weg europäischer Flüchtlingspolitik: der tägliche Tod, die Inhaftierung von Schutzsuchenden und die Verweigerung von Verantwortung für den Flüchtlingsschutz. Die europäischen Staats- und Regierungschefs wollen alles beim Alten lassen – für eine Neuausrichtung der EU-Flüchtlingspolitik sahen sie auch nach den Katastrophen vor Lampedusa keinen Anlass. Auf ihrem Treffen am 25. Oktober habe man nicht über „qualitative Veränderungen” gesprochen, so Bundeskanzlerin Angela Merkel (Tagesschau 2013). Die Bundesregierung hatte sich schon im Vorfeld gegen eine grundlegende Änderung der EU-Flüchtlingspolitik verwahrt.

Der Beschluss des Europäischen Rates enthält unter Punkt 46 zum Thema „Migrationsströme” (sic!) zwar eine kurze Betroffenheitsbekundung, doch dann folgen Beschlüsse getreu dem Motto „weiter so“. Statt einer Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik setzt Europa auf die verstärkte Kooperation mit Transit- und Herkunftsstaaten, auf den Ausbau der europäischen Grenzagentur Frontex, die schnelle Umsetzung des Grenzüberwachungssystems European border surveillance system (Eurosur) und die verstärkte Bekämpfung von sogenanntem Menschenschmuggel. Eine Bereitschaft, Flüchtlinge aktiv aus dem nordafrikanischen Transit aufzunehmen, um den Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea, Somalia und anderswo den gefährlichen Weg übers Mittelmeer zu ersparen, ist nicht in Sicht. Und hinsichtlich der Frage nach einer anderen, solidarischen Aufnahmepolitik innerhalb der EU lautet die Antwort ebenfalls: Fehlanzeige.

Eurosur: Perfektionierung der Abschottung

Eurosur ist ein Projekt, das Hans Lucht vom Danish Institute for International Studies, in einem Kommentar in der New York Times vom 7. Oktober 2013 treffend als Traum von Sicherheits-Hardlinern und der internationalen Waffenindustrie („a dream of security hard-liners and the global weapons industry“; New York Times 2013) bezeichnete. Das System sieht vor, die Grenzsicherung durch Vernetzung bestehender Grenzsicherungseinrichtungen und moderner Technologien auszubauen. Dabei sollen Drohnen, sogenannte Offshore-Sensoren, Satellitensuchsysteme etc. zum Einsatz kommen. In der Debatte nach Lampedusa wurde Eurosur von politischer Seite wiederholt als Technologie zur Seenotrettung ins Spiel gebracht. Neben der Behauptung, Eurosur trage zur Rettung und zum Schutz von Flüchtlingen bei, schlug z.B. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström vor, im gesamten Mittelmeerraum eine Frontex-Operation zur Rettung von Flüchtlingen ins Leben zu rufen.

Doch vorrangiges Ziel von Eurosur ist laut Artikel 2 der Verordnung – der das Europaparlament am 10. Oktober und der EU-Ministerrat am 22. Oktober 2013 bereits zugestimmt haben – die „Aufdeckung, Prävention und Bekämpfung von illegaler Einwanderung und grenzüberschreitender Kriminalität” (EU 2013: 14). Zur Seenotrettung heißt es im gleichen Artikel lediglich vage und nachgeordnet, die Verordnung leiste einen „Beitrag zur Gewährleistung des Schutzes und der Rettung des Lebens von Migranten“ (ebd.). Weitere Bestimmungen laufen der vorgeblichen Seenotrettung sogar zuwider. So müssen Grenzschützer die nationalen Seenotrettungszentren zwar über Seenot-Vorfälle informieren, es gibt aber keine Verpflichtung zur Zusammenarbeit. Eurosur wird am bestehenden europäischen Verantwortungsvakuum bei der Seenotrettung von Flüchtlingen folglich nichts ändern. Bisherige Frontex-Operationen im Verbund mit den Mitgliedsstaaten haben Schutzsuchende auf immer gefährlichere Routen getrieben. Weder die Frontex-Operation Hermes noch die lückenlose Überwachung durch Natoverbände während der Libyenkrise 2011 im zentralen Mittelmeer haben den Tod von über 2.300 Flüchtlingen verhindert.

Das Grenzüberwachungssystem sieht außerdem eine Intensivierung der Einbindung von Drittstaaten in die Flüchtlingsabwehr vor: Mithilfe von Eurosur soll Frontex künftig die nordafrikanischen Küsten mit Satelliten und anderen Überwachungstechnologien kontrollieren. Drittstaaten sollen so über aufgespürte Flüchtlingsboote vor ihren Küsten und auf dem Mittelmeer informiert werden, um die Boote frühzeitig abzufangen. Eurosur zielt auf effektivere Flüchtlingsabwehr und Migrationskontrolle und verlagert diese tendenziell auf die Verfolgungsbehörden der Drittstaaten vor. Die Folge: Es werden sich lediglich die Orte des Flüchtlingssterbens verschieben und die Verantwortung für die Toten wird an Drittstaaten abgeschoben.

Konkret bedeutet dies, dass die Fluchtrouten durch den Ausbau von Frontex und den „Kampf gegen Schleusung und Menschenhandel” immer länger und gefährlicher werden. So führte bereits die im letzten Jahr erfolgte Abriegelung der türkisch-griechischen Landgrenze durch Frontex in Zusammenarbeit mit dem griechischen Grenzschutz zu einer deutlichen Verlagerung von Fluchtrouten auf gefährliche Überfahrten über die Ägäis und das zentrale Mittelmeer. Die weitere Abschottung der Außengrenzen durch Eurosur und Frontex wird daher das Sterben von Schutzsuchenden auf der Flucht nach Europa nicht verhindern. Und selbst wenn das Mandat von der Migrationsverhinderung zur Rettung von Flüchtlingen abgeändert würde, ist ungeklärt, welche EU-Staaten von Frontex gerettete Flüchtlinge aufnehmen würden. EU-Staaten wie etwa Malta weigern sich immer wieder, gerettete Flüchtlinge an Land gehen zu lassen.

Der Evergreen: Die Kooperation mit den Transit- und Herkunftsländern

Die geplante Verstärkung der Kooperation mit Transitstaaten bedeutet in der Praxis, dass nordafrikanische Staaten wie Libyen und Ägypten trotz ihrer politisch instabilen Lage, der äußerst problematischen Menschenrechtssituation und der fortgesetzten Missachtung von Flüchtlingsrechten verstärkt dazu angehalten werden, Schutzsuchende von der Flucht nach Europa abzuhalten.

Die geplante „Kooperation mit Herkunftsstaaten” reicht tendenziell noch weiter. In der Praxis würde dies heißen, dass die Europäische Union unter anderen mit dem syrischen Assad-Regime, mit dem eritreischen Diktator Isayas Afewerki sowie somalischen Warlords in Verhandlungen treten müsste. Denn nach Angaben des UNHCR (2013a) sind unter Schutzsuchenden, die Italien in den ersten neun Monaten 2013 mit dem Boot erreichten, syrische und eritreische Flüchtlinge die größten Gruppen (mit jeweils 7.500), gefolgt von somalischen Schutzsuchenden (3.000).

Europa bleibt dicht

Am 15. November 2013 rief der UNHCR die internationale Staatengemeinschaft, „im besonderen die Europäische Union, dazu auf, nicht den Grenzschutz, sondern den Schutz von Menschen in den Vordergrund zu stellen” (UNHCR 2013b). Anlass für den Appell waren Berichte, dass Schutzsuchende – vor allem aus Syrien – Opfer von sogenannten Push-Backs (Zurückdrängungen) und Abweisungen an der europäische Außengrenze werden. Maßnahmen, die verhindern sollen, dass Asylsuchende auf das EU-Gebiet gelangen, müssen nach Auffassung des UN-Flüchtlingshilfswerks unverzüglich gestoppt werden.

PRO ASYL hat am 7. November 2013 hierzu den Bericht „Pushed back” veröffentlicht. Zentrales Ergebnis der Recherchen: An der türkisch-griechischen Land- und Seegrenze werden Flüchtlinge systematisch völkerrechtswidrig zurückgewiesen. Push-Backs finden in griechischen Gewässern, von griechischen Inseln aus und an der Landgrenze statt. Diese Zurückschiebungen auf See, von Inseln oder an der Landgrenze gefährden in der Art und Weise, wie sie durchgeführt werden, das Leben der Betroffenen. Maskierte Sonderkommandos misshandeln Flüchtlinge beim Aufgriff, inhaftieren sie ohne ein rechtliches Verfahren – diese Flüchtlinge sind nicht existent – und verfrachten sie gewaltsam zurück in die Türkei. In Fällen von Push-backs von der Insel Farmakonisi grenzt der Grad der Misshandlungen an Folter. Alle Interviewten betonten, dass die griechischen Behörden ihnen keine Möglichkeit gaben, ein Schutzgesuch zu stellen. Den grundsätzlichen Einwand gegen Push-backs fomuliert die EU auch selbst: „Push-backs are simply not allowed. They are not in line with EU and international obligations. Member states cannot, shall not and should not carry out any push-back” (EurActiv 2013) so Michele Cercone, Sprecher der EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström am 19. November 2013 in Brüssel.

Die Mehrheit der Opfer sind syrische Flüchtlinge, die Europa erreichen wollen, um Schutz zu suchen und zu ihren Familien in Ländern wie Deutschland, Schweden oder Großbritannien zu gelangen. Während die EU öffentlich ihre Solidarität für syrische Flüchtlinge bekundet, werden deren grundlegende Menschenrechte an europäischen Grenzen (wie zum Beispiel in Griechenland deutlich wird) verletzt. Der Bericht betont zudem die weitergehende europäische Komplizenschaft bei dieser Praxis. Das gesamte griechische Flüchtlingsabwehrprogramm wird weitgehend von der EU finanziert. Auch Frontex ist dort seit Jahren im Einsatz.

Die Deutsche Innenpolitik trägt dabei eine entscheidende Verantwortung. So hatte der damalige deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich maßgeblichen Anteil an der beschriebenen Entwicklung in dem Grenzabschnitt zur Türkei. Während Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner im März 2012 drohte, Griechenlands Grenze sei „offen wie ein Scheunentor”, sekundierte ihr Friedrich in einer gemeinsamen Pressekonferenz, indem er Griechenland mit der Wiedereinführung innereuropäischer Grenzkontrollen drohte, sollten weiterhin Flüchtlinge über die griechisch-türkische Landgrenze in die EU gelangen (Focus vom 8. März 2012). Der Druck, den Deutschland, Österreich und andere EU-Staaten auf Griechenland ausübten, zeigte Wirkung. Im Sommer 2012 entsandte die griechische Regierung 1.800 zusätzliche Polizeikräfte in die Evros-Region. In Zusammenarbeit mit der europäischen Grenzagentur Frontex wurde die Grenze abgeriegelt. Neue Haftlager für Flüchtlinge wurden errichtet – alle weitgehend von der EU finanziert. Ein 10,5 Kilometer langer Sperrzaun wurde im Dezember 2012 fertig gestellt. Die folgende Verschiebung der Fluchtrouten in die Ägäis hat zum Tod vieler Menschen geführt – die meisten von ihnen syrische und afghanische Flüchtlinge, darunter zahlreiche Kinder.

Seit dem 1. Januar 2014 hat Griechenland die EU-Präsidentschaft inne. Das berechtigte Eintreten für mehr Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme müsste das Land seinerseits durch die Beachtung von Flüchtlings- und Menschenrechten untermauern. Aus den bisherigen Beobachtungen lassen sich folgende Forderungen ableiten: Die völkerrechtswidrigen Praktiken der Zurückweisung und Misshandlungen von Schutzsuchenden müssen beendet werden. Flüchtlinge und Asylsuchende, die in Griechenland festsitzen, brauchen ein Recht auf eine legale Weiterreise in andere europäische Staaten, wo ihre Familien leben und wo sie eine Chance haben, Schutz zu erhalten.

Alternativen zum inhumanen und technokratischen Dublin-System

Die sogenannte Dublin-Verordnung sieht bislang vor, dass derjenige EU-Staat für ein Asylgesuch zuständig ist, über den der bzw. die Asylsuchende in die EU eingereist ist. Dadurch wird die Hauptverantwortung für den Flüchtlingsschutz auf die EU-Grenzstaaten abgeschoben. Länder wie Malta, Griechenland oder Italien reagieren darauf mit einer Strategie der Abschreckung. Die Verweigerung von Seenotrettung, illegale Push-Back-Operationen, die Inhaftierung von Asylsuchenden, menschenunwürdige Aufnahmebedingungen sind wesentlicher Teil dieser Praxis. So sehr diese Menschenrechtsverletzungen auf das Konto der jeweiligen Nationalstaaten gehen mögen, sie sind Folge des unsolidarischen Dublin-Systems. Die Staaten im Zentrum der EU, wie Deutschland, die am Dublin-System festhalten, sind für diese systematischen Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich. Sie müssen dazu gebracht werden, ihren Widerstand gegen eine grundlegende Veränderung der Asylzuständigkeitsregelung, die die Bedürfnisse der Schutzsuchenden in den Mittelpunkt stellt, endlich aufzugeben. UN-Flüchtlingskommissar António Guterres forderte in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt – erschienen am 27. Oktober 2013 –, dass sich Flüchtlinge innerhalb der EU frei bewegen dürfen sollten. „Die Drittstaatenregelung und Dublin II müssen geändert werden. Die Grundannahme dieser Gesetze ist, dass überall in der EU gute Bedingungen für Flüchtlinge herrschen. Diese Grundannahme ist aber falsch”. PRO ASYL hat im Frühjahr 2013 mit mehreren Organisationen einen eigenen Vorschlag für einen menschenrechtlichen Umbau des Zuständigkeitssystem unterbreitet. Die Organisationen fordern Wahlfreiheit für Asylsuchende. Das heißt, sie sollen selber entscheiden können, in welchem Land sie Asyl suchen wollen. Und anstatt Flüchtlinge hin und her zu schieben, sollten die Staaten Europas durch einen Finanzfonds etwaige Ungleichgewichte bei der Aufnahme ausgleichen.

Das Sterben beenden

Aus heutiger Sicht wäre die aktuelle politische und moralische Aufgabe wie folgt zu formulieren: Europa muss endlich asylfähig werden. Das bedeutet ein gemeinsames EU-Asylrecht mit hohem Schutzniveau und die aktive Aufnahme von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten. Ziel muss ein europäisches Asylrecht sein, welches garantiert, dass ein Zugang zum europäischen Territorium nicht länger unter Lebensgefahr stattfindet. Um den größten Menschenrechtsskandal in der europäischen Flüchtlingspolitik – das tausendfache Sterben an den Grenzen – zu beenden, reicht es nicht, die Seenotrettung zu verbessern. Gefahrenfreie und legale Wege in die EU zu schaffen, bedeutet auch, das bestehende Visa-Regime zu hinterfragen. Schon Manfred Kanther, der frühere deutsche Innenminister, hat einmal gesagt, die Visumspflicht sei das „schärfste Schwert des Ausländerrechts” (Kanther zit. n. Leuninger 2011). Als die Visumspflicht für die Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen in Deutschland eingeführt wurde, fragten einzelne Richter, auch konservative, ob damit nicht das Asylrecht abgeschafft würde. Denn wenn es keinen Zugang zum Territorium gäbe, könne auch kein Asyl gewährt werden. Dieser Befund gilt auch heute noch. Erst wenn man Schutzsuchenden legale Wege eröffnet, würde die sogenannte Schlepperindustrie Profite einbüßen und – was am wichtigsten ist – Schutzsuchende müssten auf der Flucht nicht ihr Leben aufs Spiel setzen. Nach dem moralischen Versagen in der Flüchtlingspolitik der letzten zwei Dekaden, kann Europa nur dann Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, wenn es aufhört, Flüchtende abzuwehren. Die Öffnung des Zugangs nach Europa sowie eine menschenwürdige Aufnahme statt der Inhaftierung Schutzsuchender und die freie Wahl des Asyllandes werden der „Lackmustest“ sein, um in Zukunft zu prüfen, inwieweit der exklusive Club der 28 EU-Mitgliedsstanden zu einer menschenrechtlichen Neuausrichtung seiner Flüchtlingspolitik bereit ist.

Der Kern bundesdeutscher Asyl- und Zuwanderungspolitik

Der tödlichen Flüchtlingsabwehr an den Außengrenzen entsprechen bestimmte Haltungen und Positionen in der bundesdeutschen Politik. Diese erheischen Einsicht in und Zustimmung zum eingeschlagenen Weg der EU-Grenzaufrüstung. Die amtlichen Betroffenheitsbekundungen angesichts der Toten von Lampedusa in Verbindung mit der unmittelbar darauf folgenden Betonung eines angeblichen Missbrauchs von Freizügigkeit innerhalb der EU waren der durchsichtige Versuch, in der öffentlichen Diskussion unterschiedliche Zuwanderungspraxen miteinander zu vermengen (die Flucht nach Europa über das Mittelmeer sowie die EU-Binnenwanderung aus Bulgarien und Rumänien). Durch diesen Kniff sollte neben der Flucht durchs Mittelmeer die verbriefte Freizügigkeit für EU-Bürger – zumindest für Angehörige aus bestimmten EU-Mitgliedstaaten – gleich mit delegitimiert werden. Diese und ähnliche Versuche verweisen auf die Doppelmoral ebenjener Politik und die Widersprüche eines europäischen Selbstbildes, das sich ansonsten bevorzugt Menschenrechte und humanistische Werte auf die Fahnen schreibt.

In Reaktion auf die Unglücksmeldung sprach beispielsweise der zu diesem Zeitpunkt amtierende Innenminister Friedrich in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt von wachsendem Missbrauch der Freizügigkeit innerhalb der EU sowie vom Erschleichen von Sozialleistungen. Der Minister räsonierte über Armutseinwanderung und plädierte für mehr Härte gegenüber Einwanderern. (Vgl. Die Welt 2013) Friedrich verschob die weitere Bearbeitung der Thematik einmal mehr auf das bekannt-bewährte Feld von Sicherheitspolitik und machte mit seinen Kommentaren deutlich, wes Geistes Kind die herrschende Asylpolitik und deren Menschenbild ist. Diese Positionen fügen sich in ein Welt- und Gesellschaftsbild, welches Zuwandernde vor allem unter Verwertungs- und Nützlichkeitsaspekten wahrnimmt und einordnet oder sie als Bedrohung zurichtet.

Der angeschlagene Ton korrespondierte indes nicht nur zu jenem hegemonialen Bild sondern auch zu einer Asylpolitik, die eine weiter zurückreichende Tradition besitzt. Besagte Formulierungen variierten – staatstragend lediglich ein wenig abgewandelt – Parolen, die vor 20 Jahren einem rassistischen Mob als Motivation für die Jagd auf Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten dienten und die Anfang der 1990er Jahre in den Pogromen von Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) sowie den Mordanschlägen von Mölln (1992) und Solingen (1993) kulminierten. Es sollte nicht vergessen werden, dass sich damals im Vorfeld der geplanten Grundgesetzänderung zum Asylrecht weite Teile der etablierten Parteien mit besagtem Mob einen Überbietungswettbewerb in einer von rassistischen Aussagen durchzogenen Debatte zur weitgehenden Entkernung des Asylrechts lieferten. Die von der NPD organisierten Proteste gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen im sächsischen Schneeberg, Mitte November 2013 zeigten jüngst, wie gegenwärtig und mobilisierbar diese neorassistisch aufgeladenen Vorbehalte immer noch sind (vgl. Spiegel online 2013).

Hier zeigte sich also durchaus eine historische Kontinuitätslinie, die bei der Analyse der politischen Reaktionsmuster entsprechend zu berücksichtigen ist. Die Doppelmoral zwischen Betroffenheit im Angesicht von Flüchtlingskatastrophen und dem Aufrechterhalten dieser ressentimentgeladenen Bilder bildet den Kern der von Abschottung geprägten deutschen Asyl- und Flüchtlingspolitik.

Literatur

EU – Europäische Union (2013): Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 22. Oktober 2013 zur Errichtung eines Europäischen Grenzüberwachungssystems (EUROSUR), Amtsblatt der Europäischen Union L 295 vom 6. Nov. 2013, S. 11-26. (eur-lex.europa.eu)

EurActiv 2013: „Commission: Refugee push-backs are illegal“ (www.euractiv.com, 28.12.2013)

Focus (2012): „,Offene’ Griechenland-Grenzen. Friedrich verärgert über griechische Grenzpolitik“ (www.focus.de, 8. März 2012)

Fortress Europe (2013): „Immigranten, die an europäischen grenzen starben“ (fortresseurope.blogspot.de, 1. Okt. 2013)

Leuninger, Herbert (2011): PRO ASYL wird 25. Kommentar von Herbert Leuninger. Veröffentlicht auf migration-online, der Internetseite des Bereichs Migration & Gleichberechtigung des DGB Bildungswerkes (www.migration-online.de, 15. Nov. 2013)

New York Times (2013): „The Watery Tomb Europe Tolerates” (www.nytimes.com, 7. Okt. 2013)

PRO ASYL (2013): „Pushed Back. Systematic human rights violations against refugees in the aegean sea and at the greek-turkish land border“ (www.proasyl.de, 15. Nov. 2013)

Spiegel online (2013): „Protest gegen Flüchtlinge: Rechter Aufruhr in Schneeberg” (www.spiegel.de, 4. Nov. 2013)

Tagesschau online (2013): „EU-Gipfel berät über Flüchtlingspolitik. Alles beim Alten” (www.tagesschau.de, 25. Okt. 2013)

UNHCR (2013a): Refugees Daily. Refugees Global Press Review. „New EU migrant operation after Lampedusa disaster“ (www.unhcr.org, 8. Okt. 2013)

UNHCR (2013b): „UNHCR besorgt über Push-Backs an EU-Außengrenzen“ (www.unhcr.de, 15. Nov. 2013)

Die Welt (2013): „Friedrich fordert Härte gegen Einwanderer” (www.welt.de, 8. Okt. 2013)

Karl Kopp ist Europareferent von PRO ASYL und Vorstandsmitglied im Europäischen Flüchtlingsrat ECRE (European Council on Refugees and Exiles).

Thomas Kunz arbeitet im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachochschule Frankfurt (Main).

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die leicht geänderte und ergänzte Fassung eines Artikels, der im Heft 1/2014 der Zeitschrift „Migration und Soziale Arbeit“ erscheint. Vorveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Beltz-Juventa-Verlags Weinheim.

© links-netz Januar 2014