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Gesundheits- und Sozialpolitik für eine gerechte Ungleichheit

von Eva-Maria Krampe, Alexandra Manzei und Christa Sonnenfeld

Fasziniert beobachten wir seit etwas mehr als zwei Jahren, wie die rot-grüne Regierungskoalition ihr postmaterialistisches Projekt entfaltet. Neben einem für die Bundesrepublik, wenn auch nicht für Deutschland absolutem Novum, einen Angriffskrieg zu führen, hat sich die muntere Meute um Schröder einige weitere säkulare Umwälzungen ausgedacht. Mit der begonnen Umstrukturierung des Sozialversicherungs- und Gesundheitssystems setzt sie den Hebel an, die in langen Kämpfen und harten Auseinandersetzungen erreichte soziale Absicherung zu zerstückeln, um bestenfalls einige Rudimente, wie sie selbst sagen "das Notwendige" zu erhalten. Dieses Vorgehen wird entsprechend populistisch und mediengerecht hochpoliert zur "Bewahrung der Solidargemeinschaft". Da sind sich Rot-Grün meistens einig: Sie kämpfen für die sozialen Grundrechte wie niemand sonst!

Der Abbau zentraler Institutionen des Wohlfahrtsstaates hat begonnen, und zwar nicht aus der Erkenntnis heraus, dass dieser nur unzureichende Instrumente zur Beseitigung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit entwickelt hatte. Dass auch das immerhin ein Grund für dessen Abschaffung oder Veränderung hätte sein können, ist jedoch nicht nur den SozialdemokratInnen und Grünen aus dem Blickfeld geraten. Heute gilt der Grundsatz, dass die wohlfahrtsstaatliche Fürsorge den Menschen als Unternehmer seiner eigenen Existenz in seiner Entwicklung hindere. In dieser Hinsicht zumindest scheint heute ein parteiübergreifender und die Mehrheit der Bevölkerung umfassender Konsens zu bestehen.

Erstaunlich ist, dass es erst dieser "linken" Regierung gelingt, die Grundfesten der Solidargemeinschaft erfolgreich zu schleifen. In 16 Jahren hat die Kohl-Regierung viel darüber geredet und immer wieder schüchterne Versuche unternommen, doch nie den großen Streich gewagt. Welche veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse und Diskurse ermöglichen der jetzigen Koalition solche Einschnitte?

Und noch etwas gilt es im Auge zu behalten: Es gibt in den zentralen Fragen der Gesundheits- und Sozialpolitik, sieht man einmal von den immer stärker in den Mittelpunkt geratenden medizin-ethischen Fragen ab, keinen ernsthaften Dissens mehr in unserer Gesellschaft. Die früheren Akteure des Protestes, denen es gelang, die Interessen breiter Bevölkerungsgruppen zu bündeln und zu artikulieren, sind heute entweder in die Regierungspolitik eingebunden (siehe Gewerkschaften) und/oder schlicht und ergreifend verschwunden (siehe alternative Gesundheitsbewegung). Opposition und auch ernsthaften Widerstand gegen die Umstrukturierung erleben wir heute einzig und allein von den Interessensgruppen, die unmittelbar von den Veränderungen betroffen sind. Das sind von der Ärzteschaft über die verschiedenen Patienten – und Arbeitsloseninitiativen bis hin zu den Kassen und der beteiligten Industrie viele, unterschiedlich starke Gruppen. Keiner von ihnen gelingt es, allerdings versucht es bis auf die Ärzte auch niemand, einen breiteren Protest zu organisieren. Vielmehr geschieht insbesondere in der Gesundheitspolitik etwas, was bisher überwiegend aus internationalen Kontexten bekannt ist: die De-Regulierung wird von den beteiligten Interessensgruppen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der demokratischen Instrumentarien ausgehandelt. Zu diesem Zwecke stärkt die rot-grüne Koalition denn auch die sog. Selbstverwaltung. Ärztekammern, Kassenverbände, Organisationen anderer Heilberufe, die Verbände der Medizinindustrie und zunehmend auch die PatientInnen werden beauftragt, selbst Lösungen zu finden und eventuelle Umverteilungskämpfe miteinander auszutragen. Die Privatisierung der sozialen Absicherung schließt also auch eine Privatisierung der Auseinandersetzung um die Sozial- und Gesundheitspolitik ein. Auch in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum diese Regierung solche Strategien realisieren kann. Warum gibt es keine massiven Proteste weder gegen die Veränderungen, noch über die Art und Weise, wie diese durchgesetzt werden? Warum wird die Entdemokratisierung widerspruchslos hingenommen?

Im Bereich der Gesundheits- und Sozialpolitik geht es darüber hinaus nicht allein um versicherungsmathematische Probleme; schließlich soll hier einer der größten Wirtschaftssektoren in der BRD, der immer weiter expandiert, neoliberal reformiert werden. Die beabsichtigten Veränderungen gehen einher mit sich wandelnden Kapital- und Verwertungsinteressen und der Erprobung der dazu notwendigen Regulationsmechanismen. In der Diskussion um "Lebenswissenschaften", in den vielfältigen Ansätzen der Legitimierung und Legalisierung von Genforschung und in den "body politics" ganz allgemein lassen sich die strukturellen Verschiebungen bereits ablesen. Und gerade hier, wenn die Diskussionen um die Organtransplantation, die Bekämpfung von Erbkrankheiten und die Sterbehilfe gehen, zeigt sich, dass die diskursive Vorbereitung großer Taten erst in den Anfängen steckt. Während die Diskussion, die immer auch die grundsätzliche Frage der Euthanasie impliziert, erfreulicherweise heftig und kontrovers ist, formiert sich auf der anderen Seite die Industrie wieder einmal hinter dem Standort-Motto. Während im Gesundheitssektor Ethikdiskussionen und Ethikkommissionen en masse initiiert werden müssen, weil der notwendige Wandel anders kaum durchsetzbar erscheint, befleißigen sich Industrie, Politik und Medien gemeinsam, die Menschen darüber aufzuklären, dass hier nur zu ihrem besten geforscht werde. Mit dem Auswechseln der Gesundheitsministerin, die ja keineswegs am BSE-Skandal gescheitert ist, sondern daran, dass es ihr nicht gelungen ist, den Modernisierungsschub im Gesundheitswesen zur Zufriedenheit der interessierten Industrie durchzuziehen, wird noch deutlicher, welcher Entwicklung der Weg bereitet werden soll. Zumindest lassen die ersten Äußerungen der Fischer-Nachfolgerin nur wenige Zweifel aufkommen. Nicht zu vergessen ist auch, dass sich die Dame Schmidt ihre Sporen als eine Architektin der neuen Rentenpolitik verdient hat.

Auch wenn es innerhalb der jeweiligen Politikfelder durchaus heftige Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Interessen gibt, so ist doch unverkennbar, dass es der Regierung zu gelingen scheint, große Mehrheiten davon zu überzeugen, dass sie das Richtige tut. Sie kann relativ unbestritten grundlegende gesellschaftliche Veränderungen durchziehen und sich dabei auch noch als gerechte, humanitäre und moralische Macht präsentieren. Es ist mehr als spannend, die Gründe dafür aufzuspüren und zu fragen, wo die Grenzen des relativ erfolgreichen Begründungsdiskurses liegen könnten.

Die Privatisierung sozialer Sicherungssysteme und der Gesundheitsversorgung, die auch mit einer Entstaatlichung der Steuerungsmechanismen einhergehen soll, kommt nicht unerwartet. In geradezu nachholender Entwicklung wird jetzt in der BRD das durchgesetzt, was die USA im Zuge des Reaganism und Großbritannien in der Phase des Thatcherism mit großer Rigorosität und gegen zumindest zeitweisen offenen Widerstand durchgesetzt wurde. Diese verspätete "Modernisierung" ist nicht nur der der von England und USA sehr differenten ökonomischen Entwicklung zu danken, sondern auch der offensichtlichen Unfähigkeit der Kohl-Regierung, diese anti-wohlfahrtsstaatlichen Maximen gegen die Widerstände in der eigenen Partei, gegen die Oppositionsparteien und gegen die Mehrheiten in der Bevölkerung zu realisieren. Interessant an diesem internationalen Vergleich ist es, dass diese Veränderungen im anglo-amerikanischen Raum nur unter der unverhohlenen Machtaufbietung der Konservativen durchsetzbar waren, während bei uns eine sozialdemokratisch-grüne Regierung dafür benötigt wurde. Die vor einigen Jahren viel beschworene internationale Wende zu sozialdemokratischen oder doch liberal-demokratischen Parteien stand in den USA und in Großbritannien unter umgekehrten Vorzeichen wie bei uns. Dort sollten die gröbsten Schäden konservativer Sozialpolitik, die sich allmählich auch als eine ernsthafte Behinderung für die Entwicklung des Kapitals erwiesen hatten, beseitigt oder geglättet werden. Deshalb wurden Clinton und Blair gewählt; sie konnten sich dann als die klügeren Modernisierer profilieren. In der BRD hingegen kommt die völlige Abkehr von traditionell wohlfahrtsstaatlichen Werten wie der Solidargemeinschaft und von der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für Krankheit und Arbeitslosigkeit erst mit der rot-grünen Wende.

Dies ließe sich zum einen dadurch erklären, dass hier keine Wende stattgefunden, sondern eine langsame, gewissermaßen schonende Entwicklung vorangetrieben wurde. Anfangend bei der sozial-liberalen Schmidt-Regierung und in 16 Jahren von der christlich-liberalen Koalition in wahrhaft meisterlicher Form vorangetrieben, findet die Abschaffung des sog. Sozialen unter Rot-Grün nun unter allgemeinem Beifall ihren Abschluss. Andererseits aber konnte es der Kohl-Regierung aufgrund noch sehr anderer Interessenslagen, gerade auch in der eigenen Partei, einer ungleich eindeutigeren und geschlossenen Lobbypolitik und einer halbwegs funktionierenden Opposition nicht gelingen, diesen Konsens herbeizuführen. Dennoch hat nicht zuletzt ihre Gesundheits- und Sozialpolitik entscheidend dazu beigetragen, den anti-sozialen Diskurs zu etablieren.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten hat sich der herrschende Diskurs von einer gesamtgesellschaftlichen Strategie zur Lösung sozialer Probleme ab- und der Frage nach den "MißbraucherInnen des sozialen Netzes" zugewendet. Statt Debatten um eine Umverteilung von Arbeit zu initiieren und die permanent hohe Arbeitslosigkeit überhaupt ernsthaft zu thematisieren, setzten sich mit Unterstützung der Medien Diskriminierungsdiskurse und Ausgrenzungsmechanismen durch, die nach und nach deutliche Verschlechterungen und zunehmende Repressionen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger legitimierten. Die mediale Darstellung der Arbeitslosen, die sich nicht nur schuldig gemacht haben durch den Verlust des Arbeitsplatzes, sondern außerdem noch dadurch, dass sie ohne Leistung Gelder annehmen, erlaubte die Projektion von eigenen Ängsten und legitimierte Hass und Verachtung und eben Strafe. Diese Art der Präsentation wurde im Zuge der um sich greifenden Neoliberalisierung zumindest teilweise einem deutlichen Wandel unterzogen: Die Situation der Arbeitslosigkeit wird auch interpretiert als ein bedauernswerter Zustand der Abhängigkeit, der verlorenen Autonomie, des Verlustes der Selbstachtung. Da ist Hilfe gefordert, nicht Strafe! Und Hilfe heißt dann, dass man Arbeitslosen auch gegen ihren Willen die Möglichkeit geben muss, ihr Selbstwertgefühl wieder zu finden. Nur darum scheint es zu gehen, um das durch Arbeit vermittelte Selbstwertgefühl, das offenbar auch dann über einen kommt, wenn man zwangsweise unterbezahlte Arbeiten verrichten muss! Obwohl eine erschreckend steigende Armut in unserer Gesellschaft selbst von unverdächtigen Instituten festgestellt wird, wird auch im Bereich der Sozialhilfe in vergleichbarer Weise ausgegrenzt und moralisiert. Während in den rechten Medien über das Schmarotzertum lamentiert wird, beladen sich liberalere Kreise mit der Verantwortung dafür, diese armen, in staatliche Abhängigkeit geratenen Menschen aus ihrer Apathie zu reißen und sie bei der mehr oder weniger freiwilligen Rückkehr in die Gesellschaft zu unterstützen. Mit der Individualisierung des sozialen Risikos und der Verteilung von Schuld wächst so auch eine paternalistische und damit repressive Grundhaltung heran, die anstelle einer rechtlich abgesicherten sozialen Sicherung Transferleistungen an Arbeitsverpflichtungen und Kontrollen koppelt ("Fördern und Fordern”, der "aktive” Staat), wobei die Leistungen selbst sukzessive abgesenkt wurden und werden. Grundrechtliche Erwägungen haben hier keinen Platz. Zuletzt zeigte die EU-Grundrechtecharta vom Dezember 2000 exemplarisch, dass der Sozialstaatsanspruch keine Erwähnung mehr findet. EU-weit wird eine sog. soziale Harmonisierung auf unterstem Niveau angestrebt.

Die diskursive Abfederung des Wandels im Gesundheitssektor verläuft parallel dazu. Die aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit sinkenden Einnahmen der Krankenkassen wurden von Anfang an umgedeutet in eine "Kostenexplosion", die eine Suche nach Einsparungspotenzialen auslöste. Schnell war entdeckt, dass das Gesundheitswesen rationaler und kostengünstiger zu betreiben sei, wenn es nur privatisiert werde und der Markt die Beziehungen zwischen Leistungserbringer und Leistungsnehmer regele. Das alles selbstverständlich zur Entlastung der Versicherten, die ja dann auch nur noch gemäß ihrer tatsächlich benötigten Gesundheitsleistungen bezahlen sollten. Diese Ideen umzusetzen oder zumindest durch eine ansatzweise Strukturreform im Gesundheitswesen vorzubereiten, traten unter Kohl diverse GesundheitsministerInnen an, die alle scheiterten.

Den größten Widerstand leisteten jenseits der Medienscheinwerfer die Pharmaindustrie und die medizin-technischen Unternehmen, die überhaupt gerne hinter den Kulissen bleiben und dies auch dank der hervorragenden Verwaltung ihrer Interessen durch die Mehrheit der Ärzteschaft gut können. Ihnen war es offensichtlich nicht entgangen, dass sie in den Ländern, in den Marktelemente in das Gesundheitswesen eingeführt wurden, dramatisch geringere Profite erzielen konnten. Den freien Markt für freie BürgerInnen forderte wohl irrtümlicherweise ein großer Teil der Ärzteschaft ein – glaubend, wenn sie alle quasi nur noch PrivatpatientInnen bedienen könnten, würde sich ihr Einkommen unversehens vermehren. Doch seit im zahnmedizinischen Bereich die Kassen ihre Zuzahlungen merkbar reduzierten, die PatientInnen entsprechend ihrer Vermögensverhältnisse Zahnarztleistungen einzukaufen begannen, dadurch weniger Zahnersatz abfragt wurde und die Einnahmen sanken, hört man die Ärzte inklusive ihrer Verbandsvertreter nicht mehr vom freien Markt sprechen. Während Anfang der 90er Jahre die Ärzteschaft am lautesten für eine Gesundheitsreform plädierte, ist sie jetzt zur entschiedenen Gegnerin mutiert; sie gehört zu den wenigen, die heute die Einnahmenseite in der Krankenversicherung wieder zur Sprache bringen. Sie dürfte inzwischen erkannt haben, dass auf dem freien Markt operierende Ärzte nicht nur weniger PatientInnen haben, sondern dass sie auf dem freien Markt auch der Konkurrenz, dem Preiskampf, dem Konkurs und der Monopolisierung ausgesetzt sein werden. Als die potenziellen oder sogar sicheren Verlierer einer Umformung des Gesundheitswesens im Sinne postfordistischer Regulationsmechanismen bildet die Ärzteschaft das schärfste Bollwerk gegen einen Wandel, während der medizin-technische, pharmazeutische Komplex nur noch halbherzig und vorübergehend die ehemals enge Liason aufrecht erhält, bis er auf dem neu sich formierenden Gesundheitsmarkt den einflussreichsten Partner ausmacht.

Doch eben diese unverhohlene Interessenspolitik der Ärzteschaft dürfte dazu beigetragen haben, dass sich ein gesellschaftlicher Konsens hergestellt hat, dieses Gesundheitswesen als reformbedürftig zu definieren. Das Entsetzen sowohl über die maßlosen Forderungen als auch über die offenbar werdende politische Macht gepaart mit dem festen Glauben an die "Kostenexplosion" hat dazu geführt, dass es kaum noch jemanden gibt, der nicht felsenfest davon überzeugt ist, dass wir ein anderes Gesundheitssystem brauchen; selbst überzeugte AnhängerInnen der Gesetzlichen Krankenversicherung stellen heute nicht mehr die Frage danach, ob es nicht angemessen und richtig sein könnte, einen noch höheren Prozentsatz des Bruttosozialproduktes für das Gesundheitswesen auszugeben. Auch die Möglichkeit einer Umverteilung der Mittel innerhalb der öffentlichen Haushalte zugunsten des Gesundheitswesens wird von niemandem – außer den ÄrztInnen – mehr erwogen.

Gleichzeitig erleben diejenigen, die in der Tat auf dieses "Solidarsystem" angewiesen sind, nämlich Pflegebedürftige, chronisch Kranke und Behinderte, dass ihre Versorgung unzureichend ist und bei jeder sog. Reform weiter beschnitten wird. Sie versuchen ihre Interessen zunehmend über die jeweilige am Krankheitsbild orientierten Selbsthilfegruppen und politische Lobbyarbeit zu artikulieren und durchzusetzen. Unterstützung finden ihre Kampagnen – sieht man von einigen wenigen Patientengruppen ab – nicht.

Das Gerede von der Kostenexplosion in Kombination mit der Erkenntnis, dass das Gesundheitswesen und die Gesundheitsversorgung in kaum geahnten Ausmaß das Objekt ökonomischer Begierden ist, hätte durchaus zu einer kritischen Revision führen können, mit dem Ziel eine Kostensenkung durch die Kontrolle der mächtigsten Akteure herbeizuführen. Das Gegenteil ist der Fall! Von Anfang an gelang es, solchen Tendenzen offensiv zu begegnen. Die Eigenverantwortung der PatientInnen/Versicherten wurde eingefordert. Die Behauptung, die Individualisierung des Gesundheitsrisikos entlaste das Krankenversicherungssystem in demselben Maße wie es die Versicherten zu risikoverringerndem und damit kostensparenden Verhalten bringe, gewann zunehmend an Glaubwürdigkeit. Allerdings ist es bisher weder gelungen, die dazu notwendige Befähigung der Versicherten, die so von Leistungsempfängern zu Leistungsnehmern werden, herbei zu führen, noch eine Transparenz des Leistungsangebots zu schaffen, dem sich die beteiligten Interessensgruppen des medizin-technischen Komplexes weiterhin vehement widersetzen. An diesem Scheidepunkt mussten die GesundheitsministerInnen der Kohl-Regierung aufgeben. Und zu Anfang des Jahres auch die grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer.

Dennoch hat Andrea Fischer einen Keil in das bisher gut funktionierende Gefüge Gesundheitssystem, das sich den marktkonformen Modernisierungstendenzen widersetzt, treiben können. Sie hat die bereits vom damaligen Gesundheitsminister Seehofer intendierte Strukturreform gegen den entschiedenen Willen der Industrie und der mit ihr verbündelten Ärzteschaft Gesetz werden lassen. Für immerhin ein Jahr lang (Gesundheitsreform 2000) ist es der rot-grünen Koalition gelungen, Mehrheiten für die Modernisierung hinter sich zu versammeln, indem sie den von den Vorgängern eher sachlich nüchtern eingeleiteten Diskurs der Individualisierung des Krankheitsrisikos auf eine überzeugende moralische Ebene überführen konnte. Als ErbInnen einer Ideologie kollektiver Lösungen für gesellschaftlich verantwortete Sozial- und Gesundheitsrisiken gelang es der gegenwärtigen Regierung, die Selbstverständnisse heutiger "Leistungsträger", nämlich die Idee der individuellen Verantwortung jenseits eines gesellschaftlichen Kontextes, und traditionalistischer (linker und konservativer) Solidaritätsgläubiger, die noch immer von gesellschaftlichen Zusammenhängen reden, miteinander zu verbinden. Das Bekenntnis zur Solidargemeinschaft ging plötzlich bruchlos einher mit der Proklamation der individuellen Verantwortung: Denn wenn man die Solidargemeinschaft erhalten will, dann muss alles tun, um diese nicht zu belasten, so reden Gesundheitsministerinnen und Sozialminister, die die Privatisierung der Rentenversicherung verkaufen wollen.. Also: Indem ich mich privat gegen alle Risiken versichere bzw. alles tue um diese zu vermeiden, bin ich ein verantwortungsbewusstes Mitglied der Gemeinschaft. Das überzeugt doch?

Diese Argumentationsweise mag pervertiert erscheinen, dennoch ist sie für eine große Mehrheit in der Bevölkerung überzeugend und einsichtig und wird auch von den Eliten, die sich medienöffentlich artikulieren, geteilt. Der Blick auf die Sachzusammenhänge wird nicht mehr gewagt, obwohl er leicht zugänglich wäre. Im Gegensatz zu den komplexen naturwissenschaftlichen Zusammenhängen, die z.B. in der Genforschung vorausgesetzt werden, verbirgt sich dem Laien das Wissen um Kosten und Nutzen des Gesundheitswesens nicht sonderlich. Nur eine Ebene oberhalb der gängigen Zeitschriften und Zeitungen sind die Experteneinschätzungen abrufbar. Aber wer will sich schon noch mit epidemiologischen Erkenntnissen quälen, die sehr wohl Auskunft geben könnten über die vorgebliche individuelle Verantwortung für Krankheiten. Auch die ebenso schlichte Sichtweise sozialpolitischer Problemlagen, die sich anhand von Strukturwandel und Monopolisierung aufzeigen ließen, hat sich durchgesetzt. Denn wie viel lieber ist es uns zu glauben, wir könnten unsere Schicksale selbst in die Hand nehmen, als zu erkennen, dass unsere Handlungsspielräume begrenzt sind.

Diese Erkenntnisse politischer Ohnmacht und den Wunsch nach passenden Konzepten, die diese verhüllen, hebt die rot-grüne Koalition auf, um sie zur Bestätigung für einen Modernisierungsdiskurs umzudefinieren. Damit gelingt ihr eine durchaus erfolgreich Gratwanderung zwischen der vermeintlichen Bedienung der Interessen ihrer Klientel und der Erfüllung der Forderungen des Kapitals.

Wenn es dann doch zu Stockungen im neoliberalen Projekt kommt wie jetzt in der Gesundheitspolitik (und demnächst auch wieder bei dem rasanten Durchmarsch in der Agrarpolitik), so hat das weder etwas mit einer breiten gesellschaftlichen Opposition noch mit politischen Gegnern mit anderen Konzepten zu tun. Vielmehr setzen sich die gegenwärtig noch mächtigen Verlierer einer Modernisierung zur Wehr. Ein Gesundheitswesen, das auf der sogenannten Eigenverantwortung der Versicherten aufbaut, dass die Prävention von Krankheit als vom Individuum zu leistende Anstrengung zum obersten Gebot macht, braucht kein Ärztenetz wie das gegenwärtige, sondern die aufstrebende alternative Wellness- und Gesundheitsindustrie oder dann in ferner Zukunft Gentechniker. Wenn die neue Gesundheitsministerin Schmidt ihr Amt mit Kompromissangeboten an die Ärzte beginnt, so deutet das zunächst nicht mehr an, als die Absichtserklärung, einen etwas weniger auf Konfrontation abzielenden Dialog zu führen. Die Absichten der Ministerin liegen jedoch weiterhin auf der Linie, die Andrea Fischer und vor ihr Horst Seehofer und vor dem Gerda Hasselfeldt und vor ihr Norbert Blüm, einzuschlagen versuchten. Das solidarische Gesundheitssystem, zu dem sich die rot-grüne Regierung gerne zweimal täglich bekennt, soll auf ein Minimum zusammengeschnitten werden, um alles, was außerhalb der minimalen Grundversorgung ("das medizinisch Notwendige") benötigt wird, auf dem freien Markt anzubieten. Wie die Verteilung der Restmittel und die Ausgrenzung von Gesundheitsleistungen in Zukunft jedoch aussehen wird, das soll demnächst der sogenannten Selbstverwaltung (Kassen, Ärztekammern, Krankenhausgesellschaften etc.) im freien Spiel der Kräfte übertragen werden. Die Beteiligten selbst dürfen dann miteinander aushandeln, wie die Restgelder verteilt werden sollen.

Ganz klar zeigt der Wechsel der Ministerinnen außerdem, dass das Modernisierungsprojekt im Gesundheitswesen in der Tat identisch ist mit den Interessen der Genforschung und des dahinterstehenden Kapitals. Vier Wochen nach dem Wechsel von der grünen zur roten Gesundheitsministerin fand ein Schulterschluss zwischen Gesundheits- und Forschungsministerium statt. Mittel und Infrastruktur für diesen neuen Sektor werden geschaffen, und zwar schneller als zunächst beabsichtigt.

Der schönen Doppelpässe in der Gesundheits- und Sozialpolitik gab es noch mehrere zu bewundern. Das Paket aus dem Hause Riester bestendend aus der Teilprivatisierung der Renten und damit der erstmalige Angriff auf die paritätisch finanzierten sozialen Sicherungssysteme, der Verschlechterung der Absicherung bei Erwerbsunfähigkeit und der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes kam auch nicht schlecht an. War es doch ebenfalls geeignet, den Anschein des Interessenausgleichs zu bewahren.

Es scheint relativ einfach, in dieser Gemengelage die Interessen der Industrie, zum einen die der Pharma-, gen- und medizintechnischen Konzerne, zum anderen die der Industrie als immer unwilligerer Arbeitgeber, zu erkennen und zu interpretieren. Am Rande sei nur ein weiteres Detail vermerkt, nämlich dass der neue Vorsitzende der Industrieverbände der Inhaber eines hoch diversifizierten Unternehmens der Medizinprodukteindustrie ist – immerhin ein Symbol für die sich verschiebenden Machtzentren auch innerhalb der Industrie.

Weniger einfach hingegen ist es zu identifizieren, wo sich Widerstand gegen diese Entwicklungen formiert, der mehr als ein partikulares Interesse einzelner Betroffener beinhaltet. Dabei sollte selbstverständlich der Frage nachgegangen werden, warum auch linke Kritik an diesen gesellschaftlichen Veränderungen, die doch zentrale Interessen der Linken betreffen, nur noch in kleinen, wenig wahrgenommenen Expertenkreisen stattfindet. Von zentraler Bedeutung dürfte es aber sein, die Ursachen dafür zu finden, dass in der Tat von liberalen bis hin zu linken Eliten alle davon überzeugt zu sein scheinen und sich auch entsprechend öffentlich äußern, dass der Weg der rot-grünen Koalition der vernünftige, der richtige und der gerechte ist. Interessante Beiträge zu einer solchen Diskussion erwarten wir von den VertreterInnen der Gouvernmentalitätstheorie. Darüber hinaus erscheint es dringend erforderlich, den Sektor der Genforschung, sowohl im Hinblick auf die ökonomischen Interessen als auch auf den begleitenden gesellschaftlichen Diskurs einer genaueren Analyse zu unterziehen. Bei den weiterführenden Diskussionen, die sich an diesen Beitrag anschließen sollten, müsste aber immer auch ausgeleuchtet werden, wo die Widersprüche der angedeuteten Entwicklungen liegen und wo der Konsens noch keineswegs herbeigeführt oder doch ein sehr brüchiger ist.

© links-netz April 2001