Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Deutsche Zustände Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Datenschutz und Terrorangst

Reinhard Kreissl

In den Büchern zum Thema Überwachungsstaat lesen Sie seit vielen Jahren immer wieder, wie der moderne Staat mühsam erkämpfte Schutzgarantien abbaut, um seine Bürger auszuspähen. Zu Recht sollte man sich da Sorgen machen über Datenschutz, Privatsphäre und die Tendenz zum gläsernen Bürger.

Aber Vorsicht: Sie schauen dabei möglicherweise in die falsche Richtung. Die Angst vor überbordender staatlicher Kontrolle konzentriert die Aufmerksamkeit auf einen engen Teilbereich. Natürlich muss man sich als Bürger gegen jede Form von Ausdehnung der Kontrolle wehren, beherzt der Datensammelwut der Sicherheitsbehörden entgegentreten und jede Maßnahme kritisch auf ihre Notwendigkeit hin überprüfen. Aber, wenn Sie ihr Buch zum Beispiel über das Internet gekauft haben, im Buchladen mit Kreditkarte gezahlt oder gar als Besitzer einer Bonuskarte sich für den Kauf Punkte haben gutschreiben lassen, dann haben sie damit mehr Daten preisgegeben als alle Schäubles dieser Welt jemals von Ihnen verlangen werden – auch wenn sie den Rechtsstaat weiterhin im Eiltempo demontieren.

In der Welt des Konsums geht der Kunde ganz ohne den Eingriff eines Großen Bruders viel lockerer mit seiner Privatsphäre um und verhält sich so, wie es jeder sammelwütige Staat gerne hätte. Das geschieht quasi nebenher, als Nebenfolge der Abwicklung von kommerziellen Transaktionen und des Einsatzes moderner Datentechnologie. Wenn Sie ihre Bestellung im Online-Shop aufgeben, dann will der erst mal ziemlich viel von Ihnen wissen und damit sind ihre Daten dort registriert. Die Bestellung wird weitergereicht an den Lieferanten, der die Ware vorrätig hat, bei dem sind Sie dann ebenfalls registriert. Und der wiederum beauftragt ein Logistikunternehmen, das ihnen die Ware zustellt. Auch die wissen dann viel über Sie. Nicht zu vergessen Ihre Bank, über die der Online-Shop die Abrechnung abwickelt.

All das geschieht nicht, um Sie zu kontrollieren. Kontrolle ist praktisch ein Nebeneffekt der Strategie von Unternehmen, die ihre Geschäfte möglichst kostengünstig und reibungslos abwickeln und dabei die Kundenwünsche befriedigen wollen. Die Beispiele sind Legion. Autoversicherer experimentieren mit GPS-Systemen. Man bietet den Kunden maßgeschneiderte Tarife an: wer viel fährt und schnell auf gefährlichen Straßen, der zahlt mehr. Die Sonntagsfahrer, die ihr Fahrzeug nur für den Kaffeeausflug nutzen, entsprechend weniger. Wollen Sie in den Genuss dieses Rabattsystems kommen, dürfen Sie sich ein satellitengestütztes Ortungssystem in ihr Auto einbauen. Aus dessen Daten errechnet die Versicherung dann ihre Prämie. – Klingt gut? Konsumentenfreundlich? Dienstleistungsorientiert? Aber wenn das System irgendwann flächendeckend eingeführt ist, dann geht nichts mehr ohne.

Das Problem dabei ist: Wir werden alle per definitionem zu Verdächtigen, die sich erst einmal identifizieren müssen. Und wer sich nicht ausweisen kann, durch Pin-Codes, Kunden- oder Kreditkartennummern, Plastikkarten, Fingerabdrücke oder Iris-Scans, dem wird der Zutritt verweigert: kein Geld aus dem Automaten, keine Bestellung im Netz, keine Lieferung vom Pizzaservice. Die gute Nachricht: Es trifft alle gleichermaßen. Den Geldautomaten interessiert es nicht, ob sie unrasiert sind und nach Alkohol riechen oder in einer Rasierwasserwolke im Dreiteiler daherkommen. Er will nur den PIN-Code wissen, bevor er Geld freigibt. Die schlechte Nachricht kennen wir: Jede Transaktion hinterlässt eine Spur im Datenraum und ein Fremder, der es drauf anlegt, kann mehr über Sie in Erfahrung bringen als jeder, der sie persönlich gut kennt. Und die ganz schlechte Nachricht lautet: Das Netz dieser automaten- und datengestützen Formen von Kontrolle wird immer enger, weil immer weniger Menschen an der Schnittstelle zum Kunden arbeiten.

Unsere Bereitschaft zur Auskunft über uns selbst geht aber noch weiter: In diversen höchst erfolgreichen Kennenlern- und Kontaktpflege-Programmen machen vorwiegend junge Leute mit Freude nicht nur ihre Grunddaten, sondern Aktivitäten, Vorlieben, ihr Netzwerk von Bekannten und womöglich noch Fotos von all dem öffentlich. Jeder Personalchef, in dessen Firma sie sich irgendwann bewerben, das Finanzamt, das sich für ihre wirtschaftlichen Unternehmungen interessiert, und natürlich die polizeiliche Fahndung kann sich aus diesen freiwillig bestückten Datenbanken bedienen. Veröffentlichungen zu Fragen von Religion, Politik und Gesellschaft sind immer schon von Staatsorganen verwendet worden, um bei ihren Schreibern staatsgefährdende Gesinnungen auszumachen und entsprechend mit ihnen zu verfahren. Heute, unter Bedingungen der Freiheit von Meinung und Wissenschaft, macht die Polizei nicht nur inhaltliche, sondern linguistische Analysen und schließt aus der Verwendung von ihr nicht so geläufigen Wörtern wie „Gentrifizierung“ (seinerzeit war „Kriminalisierung“ ein solcher Indikator) und dem Zugang zu Bibliotheken auf die Fähigkeit, zu den Zielen einer „terroristischen Vereinigung“ beizutragen. Im neuesten Stadium von Kulturindustrie darf nicht nur alles gesagt und geschrieben werden, ohne dass es jemand inhaltlich ernst nähme, was man veröffentlicht, kann darüber hinaus als Indikator für „Umtriebe“ formal ausgewertet werden. Und in dieser Funktion hat sich das Veröffentlichen demokratisiert: Im Internet tun es alle durch ihre Homepages, ihre blogs oder durch ihre mails, die bekanntlich so privat sind wie es seinerzeit Postkarten waren: Jeder, der sie in die Hand bekommt, kann sie lesen. Davon, dass sich die Polizei gern auch den Hacker-Zugriff auf unsere Festplatten verschaffen würde, braucht man gar nicht zu reden: Wenn sie das freiwillig Veröffentlichte mit geschickten Programmen auswertet, genügt das schon.

Um das ein wenig zu sortieren: Wir stellen unsere Daten Privaten (von persönlich Bekannten bis zu Wirtschaftsunternehmen), der Öffentlichkeit und dem Staat zur Verfügung. Und wir tun das großteils freiwillig, zu einem anderen Teil, weil es zur Voraussetzung für Leistungen und versprochene Vorteile gemacht wird, die wir haben wollen oder brauchen, zu einem kleinen Teil, weil es uns herrschaftlich abverlangt wird. Wir tun das alles recht bedenkenlos, weil es im einzelnen harmlose Transaktionen sind, von denen man sich kaum unangenehme Folgen vorstellen kann. Aber wir hinterlassen dabei eine breite Datenspur, die wir nicht mehr kontrollieren können und auf die unter Umständen der Staat mit seinen herrschaftlichen Möglichkeiten zugreifen kann. Die Beispiele, dass Telefonbetreiber unsere Gesprächsdaten erstens aufbewahren, zweitens sie für Fahndungszwecke herausrücken müssen, oder dass die Polizei oder das Finanzamt sich im Internet über uns informiert, brauchen nicht konstruiert zu werden. Umgekehrt sollten wir nicht darauf vertrauen, dass Private uns höchstens mit gezielter Werbung belästigen werden: Zumindest wenn wir einen Kredit brauchen oder uns um eine Stelle oder einen Auftrag bewerben, kann auch „privat“ die frei verfügbare Information über uns ziemlich brisant werden. Und bei verschiedenen Privaten verstreut und in der Öffentlichkeit gibt es viel mehr Information über uns, als der Staat in seinen Dateien aufbewahren kann.

Warum aber regen sich dann alle über Schäuble auf? Was ist so schlimm daran, wenn der Staat sich einer Technologie bedient, die in der Industrie gang und gäbe ist und die wir gern zur Selbstdarstellung benützen – und das noch dazu auf einem Niveau, das jedem modernen Marketingexperten lächerlich erscheinen muss? Warum unterstellt man dem Staat, dass er Schindluder treibt, während man der Neugierde jedes Anbieters von Waren und Dienstleistungen bedenkenlos nachkommt? Vielleicht liegt es an der Fiktion der Freiwilligkeit und dem Irrglauben von der Souveränität des Konsumenten. Blauäugig geben wir preis, was wir dem Staat gerne vorenthalten würden. Wir fürchten, er könnte es für Zwecke der sozialen Diskriminierung nutzen – aber das ist nur die öffentlichrechtliche Formulierung für das, was in der Wirtschaft Customer Relation Management heißt und dort fortlaufend praktiziert wird.

Das ist kein Votum für den allumfassenden staatlichen Zugang in unsere Betten und Flure. Es ist auch keine Rechtfertigung von erniedrigen Maßnahmen des Abfummelns auf Flughäfen und des Video-Voyeurismus im öffentlichen Raum. Es ist nur eine Aufforderung, sich bei der Diskussion über Datenschutz und Privatsphäre nicht von den Mysterienspielen der Sicherheitsfanatiker und Terrorbekämpfer aufs falsche Gleis lenken zu lassen. Der wirkliche Abbau der Privatsphäre hat schon längst stattgefunden und zwar ganz ohne staatliche Kontrolle. Wer es sich leisten kann, bleibt natürlich auch heute noch anonym, der zahlt bar, kauft die Fahrkarte für richtiges Geld zu einem höheren Preis am Bahnschalter, verweigert Kreditkarten und Mobiltelefone. Das macht das Leben teuer und aufwendig. Aber es war schon immer ein Privileg der Bessergestellten, sich mehr oder weniger diskret abschotten zu können. Alle anderen lassen sich ihre Vorlieben und Wünsche freudig und für ein paar Cent freiwillig auf ihre Kundenkarten tätowieren und demonstrieren dann gegen den Überwachungsstaat.

© links-netz August 2007