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Hurra, wir leben länger – aber wovon?

Reinhard Kreissl

Manche Leute rauchen nicht und trinken nicht und haben auch sonst kein Laster und zur Strafe werden sie hundert Jahre alt. Solche Postkartenweisheiten gewinnen im Angesicht der ökonomisch-demographischen Entwicklung eine böse Aktualität. Was geschieht mit jener wachsenden Zahl alter Menschen, die nicht mehr als Konsumenten in der florierenden Geronto-Animations-Kultur mithalten können? Die sich keine Seniorenreisen leisten können, denen das Geld für die Altersresidenz im Grünen mit Rund-um-die-Uhr Pflege und Betreuung fehlt? Alt werden an sich ist kein Problem, solange man es sich leisten kann. Selbst die in den Schreckensszenarien immer wieder zitierten umherirrenden Altersdementen, die Parkinson-Opas und Alzheimer-Omas könnten in Würde dem Ende entgegenzittern, wenn sie angemessen versorgt und untergebracht werden. Das aber ist nicht gewährleistet.

Man kann in der derzeitigen Politik der Altersversorgung eine großangelegte Umverteilungsaktion sehen. Die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu bescheidenem Wohlstand gekommen ist, wird jetzt zur Kasse gebeten, um sich ihr Leben im Alter jenseits der staatlich garantierten Minimalversorgung erträglich zu gestalten. Wir verkaufen unser Oma ihr klein Häuschen – damit sie ihren Platz im Altenheim finanzieren kann. Pflege der Alten und Kranken, traditionell im sozialen Nahraum familiärer Generationenverhältnisse angesiedelt, findet heute in Heimen statt, wird von privaten Diensten angeboten und kostet Geld, das viele Alte nicht haben.

Viele Diskussionen – sei es über sozial verträgliches Ableben, den Zerfall der Familie oder die angebliche demographische Katastrophe durch eine wachsende Anzahl von Methusalems – gehen am Problem vorbei und das ist vermutlich kein Zufall. Denn an den Alten könnte schnell deutlich werden, was auch anderen Bevölkerungsgruppen widerfährt: Sie werden nicht mehr gebraucht, nicht als Arbeitskräfte, und als Konsumenten nur, solange sie über die entsprechenden Mittel verfügen. Mit dem in Frage gestellten Generationenvertrag wird im Grunde genommen der Gesellschaftsvertrag zur Disposition gestellt. Der besagt, dass Menschen nicht nur als Eigentümer, Kontoinhaber oder Arbeitskräfte gesehen werden sollen, sondern dass sie als Bürger Anspruch auf angemessene Teilhabe am Leben auch dann haben, wenn sie von den Wirrnissen der wirtschaftlichen Entwicklung betroffen sind – als Kinder, Jugendliche, Arme, Alte, Arbeitslose und Kranke.

An den Alten kann man studieren, wie sich aus dem Zerfall des Sozialen Geld machen lässt. Mit hundert armen einsamen Alten lässt sich durchaus ein profitables Altenheim betreiben und jedes weitere Jahr durchschnittlicher Lebenserwartung erhöht die Umsätze der Pharmaindustrie bei Schlaftabletten und Beruhigungsmitteln. Private Altenheime können ebenso erfolgreich wirtschaften wie privat betriebene Gefängnisse, man muss nur die Kosten niedrig halten und für ausreichende Auslastung sorgen. Gemäß der Logik von Kosten und Gewinnen sind die Alten also durchaus ein lukratives Investitionsfeld. Der Rest bleibt den Sonntagsreden vorbehalten, die Sozialpolitiker in Vorwahlzeiten an das wachsende Wählerpotential der rüstigen Rentner richten. Man werde sich einsetzen, sorgen und sicherstellen, dass Missstände abgestellt und Standards eingehalten werden und auch in Zukunft niemand im Alter auf der Straße leben müsse. Diejenigen, die schon dort gelandet sind, gehen ohnehin nicht mehr wählen.

© links-netz November 2006