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Ich AG – Du Moral

Reinhard Kreissl

(Dieser Beitrag wurde gesendet im „Politischen Feuilleton“ des DeutschlandRadio Berlin.)

Warnende Stimmen erhoben sich, als die ersten Eisenbahnen fuhren. Fachleute befürchteten allerlei Gefahren. Die Kühe auf den Weiden neben den Bahngleisen würden saure Milch geben, es sei mit Fehlgeburten zu rechnen, wenn die Züge mit der atemberaubenden Geschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern durch die Landschaft rasten. Auch London, so befürchtete man im Neunzehnten Jahrhundert, werde bei weiterer Zunahme des Droschkenverkehrs in absehbarer Zeit unter einer Decke von Pferdemist versinken. Alle Grenzwerte sind vorläufig und die Zukunft ist offen. Der Kapitalismus hat diese Lektion gelernt und sich damit global durchgesetzt. Wirtschaftliche Entscheidungen in diesem System haben die Form Kaufen oder nicht Kaufen und sind immer eine Wette auf die Zukunft.

Soweit die herrschende Ideologie. Klingt gut, hat aber einen Fehler. Es könnte nämlich auch sein, dass die Option Nicht Kaufen vorteilhafter ist – man weiß es schließlich nicht. Die grundsätzliche Zukunftsoffenheit, die gegen das Festhalten an Traditionen ins Feld geführt wird, sagt eben noch nichts darüber aus, wie sich alles entwickeln wird.

Im Moment heißt es, wir sollten uns von alten Vorurteilen trennen, von liebgewordenen, in langen Kämpfen gewachsenen Traditionen und Sicherheiten. Die eminente Beschleunigung des global zirkulierenden Kapitals fördere und fordere den Abbau von Gewissheiten und ansonsten – der Markt wird’s schon richten. In der bestechenden Einfachheit des Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage klingt das inzwischen sogar in manchen sozialdemokratischen Ohren glaubwürdig. Geschichte ist das was vorbei ist und Traditionen sind nur mehr Brennholz, um das Feuer der Innovationen und Investitionen anzuheizen.

Interessant wird das Ganze, wenn man in Rechnung stellt, dass Traditionen, Verpflichtungen, trägheitsfördernde Hemmschwellen und kulturell geprägte Zögerlichkeiten nicht nur die Entfaltung der guten Marktkräfte, sondern auch den Ausbruch weniger guter Regungen verhindert haben. Der Abbau traditioneller Hemmschwellen bringt nicht nur den dynamischen Unternehmer seiner selbst, Chairman und Shareholder der Ich AG hervor, sie bereitet auch das Feld für den Heckenschützen, den Geschwindigkeitsübertreter, den Börsenschwindler. Als nutzenmaximierender Homo Oeconomicus kalkuliere ich beim Versuch, mein Vergnügen zu maximieren, die Risiken gegen die Chancen. Was mich von Mord, Diebstahl und Betrug abhält, sind nicht die Risiken der Bestrafung. Wirksam sind vielmehr vollkommen irrationale Kräfte: erstens die Überschätzung des Risikos, erwischt zu werden, das ist weit geringer, als die Polizei erlaubt und zweitens, die als Überzeugung, Angst oder Scham wirksame Kraft eingelebter kultureller Traditionen: Du sollst nicht töten, stehlen oder falsches Zeugnis ablegen wider Deinen Steuerberater.

Hier nun versucht der Zeitgeist zu sortieren: Die schlechten Traditionen sollen abgebaut, die guten beibehalten werden. Das führt dann oft zu bizarren Kombinationen: no risk no fun, tönt es auf dem einen und sei vorsichtig und handle vorausschauend auf dem anderen Kanal: Das ist Stereo für Schizophrene. Treibe Vorsorge für die Zukunft und konsumiere, so viel Du kannst. Sei flexibel und mobil, aber halte die Werte von Ehe, Familie und Eigenheim hoch. Verlasse Dich nicht auf den Staat, aber gehorche seinen Gesetzen.

Ja was nun? Vorbei sind die Zeiten des einfachen Katechismus, die alten Formen des Widerstands in seinem Namen wirken putzig, das Drohpotential von Streiks geht in der post-industriellen Ökonomie stetig gegen Null. Aber die Vorstellung des radikal auf das eigene Fortkommen bedachten Einzelkämpfers und Selbstunternehmers, wie ihn sich die herrschende Heilslehre wünscht, der jede Erniedrigung schluckt und sie zur Herausforderung für das weitere Fortkommen umlügt, hat eine dunkle Seite und die ruft nach einer neuen Moral. Die ist jedoch mit den einfachen Formeln des Neoliberalismus nicht zu haben. Sicherlich ist der nostalgische Ruf nach der Rückkehr zu den alten Tugenden keine Lösung, aber die Forderung sie ersatzlos zu streichen, ist es ebenso wenig. Und mehr wird im Moment nicht geboten. Die großen Fragen nach der gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, nach der Anerkennung des Einzelnen in der Gemeinschaft, nach der Berücksichtigung der Nebenfolgen des eigenen Tuns für räumlich und zeitlich weit entfernte Andere geht in Kostenkalkulationen nicht ohne Rest auf.

Der Staat reagiert hilflos mit einer nur scheinbar paradoxen Kombination von Deregulierung und Kontrolle. Bereichert Euch, tönt es da und gleichzeitig werden diejenigen, die es nicht schaffen, unter Kuratel gestellt. Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, aber auch Autofahrer, Urlauber, Steuerzahler, Wohnungsmieter, Studierende, Nutzer öffentlicher Einrichtungen durchlaufen immer mehr und immer dichter werdende Kontrollen, müssen sich ausweisen mit Pin-Codes und Plastikkarten, müssen ihren Körper und ihr Gepäck durchsuchen lassen, Fragebogen ausfüllen, Erklärungen unterschreiben, sich von Videokameras beobachten lassen und ganz allmählich wird aus dem vormals souveränen Staatsbürger, der über das Recht der Anerkennung und freien Entscheidung im Rahmen der herrschenden Ordnung verfügte, das grundsätzlich und bis auf weiteres verdächtige Subjekt. Im Schatten der politischen, ökonomischen und moralischen Deregulierung wächst das Unkraut der Kontrolle, die jede scheinbar gewonnene Freiheit wieder kassiert, um ihren Missbrauch zu verhindern.

Aber die ökonomischen Igel sind all schon da, wenn der überwachte Hase durch den Metalldetektor hechelt, denn mit der Produktion und dem Vertrieb von solchen Kontrollapparaturen lassen sich Arbeitsplätze schaffen und Steuern kassieren, lässt sich Geld verdienen und wieder investieren und darum, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger geht es doch letztlich, denn die Freiheit ist immer nur die, für die wir auch bezahlen können.

© links-netz August 2004