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Warum bleibt die Straße leer?

Reinhard Kreissl

Wenn das Sein das Bewusstsein verstimmt, wäre es dann jetzt nicht an der Zeit, dass etwas passiert? Wenn die ehemals arbeitenden Massen, die Millionenschar der Kassenpatienten und Rentenbezieher um ihren ohnehin spärlichen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum gebracht werden, warum rührt sich dann kein Widerstand? Wenn sich der Bundesfinanzminister öffentlich darum sorgt, dass die großen Versicherungskonzerne genug verdienen und dafür den Arbeitslosen die Unterstützung zusammenstreicht, wenn die Analysten der Staatsfinanzen die Erhöhung des Renteneintrittsalters fordern und die Personalabteilungen der Unternehmen Mitarbeiter über fünfundvierzig als potentielle Entlassungskandidaten vormerken, wenn es ohne Rücksicht auf die Belange und Interessen der Vielen möglich ist, die Privilegien der Wenigen zu sichern und der Kanzler die Sozialhilfe nach den Schlagzeilen der Bild-Zeitung reformiert, dann sollte man meinen, ginge endlich ein Ruck durch die Gesellschaft und der Bürger auf die Straße.

Doch es herrscht Ruhe im Land. Das heißt, es gibt genügend allgemeine Aufregung, aber die konzentriert sich auf die geschwärzten Stellen in den Biographien der nationalen Pop-Ikonen. Die Dynamik von Protest und Erregung hat sich scheinbar von dem, was früher einmal die materielle Basis der sozialen Existenz hieß, abgekoppelt.

Die Sache hat, wie so oft, mindestens drei Seiten. Vielleicht ist ja alles nur Einbildung: solange die Seniorenflüge nach Mallorca ausgebucht und die Wartezimmer der Ärzte voll sind, kann es so schlimm nicht sein. Vielleicht mangelt es an Energie, sind die Alten schon so alt, die Kranken so krank und die Armen so arm, dass sie gar nicht mehr wirkungsvoll zum Protest organisiert werden können. Vielleicht aber wirkt hier auch nur eine fatale Psychologie der Massen, die alle, jenseits von Klasse und Standort im Angesicht eines strafenden Gottes vereint. Möglicherweise sehen wir in der Schizophrenie des politischen Alltags nur eine Variante der Bigotterie, wie sie jeder Götzenkult hervorbringt. Wenn Politiker mit Verweis auf die eherne Logik des Marktes – dort wo es um reale Kosten und erwartete Gewinne geht – ihren Wählern erzählen, es müsse den Armen die Unterstützung gekürzt werden, damit die Profite der Unternehmen wieder stiegen, denn erst dann könne es wieder mehr Arbeit, wenn auch für weniger Lohn geben, dann muss man schon auf die alte theologische Formel des credo quia absurdum zurückgreifen. Man muss solche Absurditäten nicht verstehen, man kann sie glauben. Deutungshilfe liefert die Kaste der Hohepriester aus den Wirtschaftsforschungsinstituten, die mit drohenden Worten vor den Folgen des Ungehorsams gegenüber den ökonomischen Notwendigkeiten warnen.

Dreiviertel der Wirtschaft ist Psychologie und Angst ist die dominante demokratische Tugend. Und die bringt die Menschen zur Räson, genauer gesagt, zur Staatsräson. Nahezu mittelalterlich muten die beschwörenden Bußpredigten an, wenn der Wirtschaftsminister wie weiland Savonarola auffordert, den Gürtel enger zu schnallen, anderenfalls das Wachstumsklima sich weiter verschlechtere. Im vorauseilenden Gehorsam spitzt die politische Klasse das Ohr, um das Raunen der Märkte zu erheischen und in neue Sparprogramme umzumünzen. Die religiöse Metapher liegt nahe: Sind der Markt oder die Märkte nicht wie Gott oder die heilige Dreifaltigkeit – entstanden aus der kollektiven Phantasie derer, die an sie glauben? Und die wenigen Auserwählten, die Sehenden, Weisen und Wissenden verbreiten die frohe Botschaft, die, wie bei jeder Religion, aus paradoxen Forderungen an die Gläubigen und der Warnung vor dem Sündenfall besteht. Denkt an Euren Profit, aber stimmt der Kürzung Eurer Einkünfte zu und wer das nicht tut, von dem wird das Heil abfallen.

Bleiben wir im Bild: Es gibt Ketzer und Opfer, die jedem vor Augen führen, dass mit den herrschenden Mächten nicht zu spaßen ist. Es gibt Heilige und Kreuzzüge gegen die Ungläubigen. Es gibt die Sacra Rota und die Inquisition in der Form von Weltbank und Internationalem Währungsfonds und es gibt die kleinen Andachten der Aktiensparer, die den Gnadenstand an den Schwankungen ihres Depots ablesen können.

Vor allen Dingen aber gibt es einen aus der Angst erwachsenden Glauben und Gehorsam im Angesicht der Gebote des globalen wirtschaftlichen Sachzwangs. Die nun wiederum sind unwiderlegbar. Denn gemäß des ökonomischen Katechismus gilt der Satz, dass ein jeder für sich Kosten und Nutzen kalkuliert und nach seinen Präferenzen handelt und wer gewinnt, hat recht. Wer auf einer aus seiner Sicht angemessenen Bezahlung für geleistete Arbeit beharrt, damit aber keine Stelle bekommt, der hat eben keine marktkonformen Erwartungen ausgebildet. Ist der Faktor Arbeit zu teuer, dann droht der Faktor Kapital, seinen Profit woanders zu erwirtschaften. Und diese Drohung wirkt, weil sie als Naturgesetz auftritt. Wer wollte schon den Gesetzen der Schwerkraft trotzen und sich in den freien Fall begeben.

Doch die Gesetze des Marktes sind keine Gesetze, sondern Vereinbarungen, die im Prinzip auch anders ausgehandelt werden könnten. Es ist nicht ohne Ironie, wenn die Politik den Bürgern vermittelt, sie sollten sich auf eine unsichere Zukunft einstellen, um im gleichen Atemzug verlässliche Investitionsbedingungen für Unternehmen zu fordern und es bedarf schon eines fast mystischen Glaubens in die Kräfte des Marktes, wenn bei sinkenden Realeinkommen die Forderung nach mehr Konsum erhoben wird. Die gekonnte Mischung aus Heilsversprechen und Drohung formt das marktkonforme Denken der Gläubigen. Schließlich könnte es sein, dass sich Leistung lohnt und gegenwärtiger Verzicht zukünftigen Ertrag verspricht, aber ganz sicher ist, dass mangelnder Leistungswillen und nicht marktkonforme Forderungen geradewegs in die Hölle der gekürzten Sozialhilfe führen.

Da halten wir es lieber mit Blaise Pascal, der zwar auch nicht wusste, ob es Gott gibt, aber im Angesicht dieser Unsicherheit doch lieber sonntags in die Kirche ging, denn sollte es ihn wirklich geben, dann lieber einmal wöchentlich in die Messe, als im Jenseits auf der falschen Seite zu sitzen.

Oder vielleicht sollten wir doch bei einem späteren Philosophen nachlesen, der meinte, dass die Geschichte von den Menschen selbst gemacht wird. Aber das ist nun wieder eine ganz andere Geschichte.

© links-netz Juli 2004