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Trau schau wem

Reinhard Kreissl

Beim morgendlichen Blick auf die Welt durch das Fenster unserer Medien sehen wir Erschreckendes. Mütter bringen ihre neugeborenen Kinder zu Tode, Väter sehen dabei zu und die Nachbarn schweigen. All das in ganz normalen Städten und in einem Land wie dem unserem. Man kennt dergleichen Geschichten – von Kindstötung, Fememorden und sonstigen Gewalttaten aus exotischen Regionen. Der Inder verbrennt die Witwe, der Albaner praktiziert die Blutrache und in Afrika werden Mädchen beschnitten. Wir, die wir unter zivilisierten Bedingungen leben, blicken mit Abscheu auf dergleichen Gräueltaten, denn bei uns, nein, bei uns kann dergleichen nicht passieren. Tut es nun aber doch und tat es eigentlich immer schon. Nur hat sich keiner darüber so erregt und das einzige, was früher anders war: es gab nicht den Erregungsverstärker einer auf Auflage und Gewinn zielenden Medienindustrie.

Die kulturellen Praktiken der gezielten Kindstötung auf den Dörfern waren grausam, in den Arbeitersiedlungen verhungerte früher auch bei uns so manches Kind und es ist ein alter Spruch in Polizeikreisen, dass Friedhöfe hell erleuchtet wären, wenn auf jedem Grab eine Kerze brennen würde, in dem eine Leiche liegt, die eines unnatürlichen Todes gestorben ist.

Halten wir fest, das Leben ist gefährlich und in jedem Menschen lauert die Bestie, die unter entsprechenden Umständen sich von der zivilisatorischen Kette losreißen kann. Aber mit dieser Haltung lässt sich schlecht leben. Wer hinter jedem Baum den Räuber vermutet, hinter jeder Ecke den Mörder, wer in jedem Mann einen potentiellen Vergewaltiger und in jeder werdenden Mutter eine zukünftige Kindsmisshandlerin sieht, der wird seines Lebens nicht mehr froh. Und mit der Arbeitshypothese, dass der Mensch an sich zum Guten neigt, kommt man schließlich im Alltag auch ganz gut über die Runden.

All die armen Opfer, die geschlagenen, missbrauchten, ermordeten Kinder und Frauen, deren Existenz man nicht leugnen soll und deren Hinterbliebene jedes Mitgefühl verdienen, sind zugleich auch Menschenopfer auf dem Altar symbolischer Politik. Jedes getötete und misshandelte Kind, dessen Geschichte durch den medialen Fleischwolf gedreht wird, ruft grimmig besorgte Politiker auf den Plan. Es wird gehandelt, Kommissionen werden eingesetzt, Verordnungen erlassen und dann weiter gewurstelt bis zum nächsten Vorfall. Es ist dies die gleiche Logik, die wir auch von den großflächigen Kontrollmaßnahmen nach realen oder befürchteten Terroranschlägen kennen. Man erhöht die Sicherheitsmaßnahmen, nachdem etwas passiert ist. Und wenn dann wieder etwas passiert, dreht man weiter an der Kontroll- und Überwachungsschraube.

Mehr Kontrolle soll die reale, wie die gefühlte Sicherheit erhöhen. Beides ist falsch. Selbst wenn es eines Tages so weit kommt, dass man nur mehr in Unterwäsche und ohne Handgepäck ein Flugzeug besteigen darf, wenn die letzte Bahnhofstoilette mit Videomonitoren überwacht ist und jedes Elternpaar sein Kind allwöchentlich einer fürsorglichen Sozialarbeiterin vorführen muss, die es auf Spuren von Misshandlung untersucht – es wird dies alles nichts helfen.

Reale Verbrechen, Anschläge und Missetaten werden weiterhin geschehen und sicherer wird sich die Welt auch nicht anfühlen. Eher das Gegenteil wird eintreten, die präventive Paranoia verbreitet sich, jeder, der auch nur den Hauch des Andersartigen verströmt, wird sofort zum Verdächtigen erklärt. Die verdachtsgeleitete Wirklichkeitskonstruktion führt zur ontologischen Unsicherheit. Das aber könnte ein durchaus erwünschter Nebeneffekt sein. Denn unter dem Deckmantel der Gefährdung und Bedrohung lässt sich manches durchsetzen, lassen sich Zumutungen, Beschränkungen und Eingriffe begründen, die ansonsten an der Würde des Menschen, dem Datenschutz oder schlichtweg an den Traditionen zivilisierter Umgangsformen scheitern würden. All die Maßnahmen, die uns Politik, Unternehmen und Sicherheitsbehörden im Namen der bedrohten Sicherheit zumuten, addieren sich zu einer Erniedrigung der Ängstlichen und jeder, der sich darüber erregt, stellt sich außerhalb der Gemeinschaft der zu Recht Besorgten. Er wird selbst zum Verdächtigen. Denn gemäß der Logik der Sicherheitskräfte lässt der, der nichts zu verbergen hat, sich auch alles gefallen. Dieses Sicherheitsdenken aber kennt keine Stoppregeln, es ist selbstverstärkend und dehnt sich in alle Bereiche aus und seine kulturell-politischen Folgen können irgendwann wirklich problematisch werden, wenn es nämlich schon als Gefährdung gilt, die Existenz der Gefährdung in Frage zu stellen.

© links-netz September 2006