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Überheblichkeit und Untergriff

Reinhard Kreissl

Da sind sie wieder unsere Sündenböcke. Diesmal, besonders apart vom Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ins Spiel gebracht. Kurt Beck entdeckt die Menschen, die durch nichts und zu nichts mehr zu bewegen sind. Es sind die Bewohner der sozialen Hängematte, bildungsfern, faul und nicht mehr motivierbar für die Rolle des Citoyen. Ihr Anteil an der Bevölkerung steigt stetig an, nicht zuletzt durch die fürsorgliche Fütterung an den Versorgungsquellen des Wohlfahrtsstaats. Natürlich kommt hier der Applaus von den üblichen Verdächtigen. Die Reichsbedenkenträger des Feuilletons sind entzückt, wittern sie doch einen Konsens über die ideologischen Gräben hinweg, der da lautet: die haben staatliche Unterstützung nicht verdient und schuld sind sie selber.

Erstaunlich daran ist die kollektive Amnesie, die darin sich ausdrückt. In regelmäßigen Abständen wird im Namen der robusten Leistungsgesellschaft ein neuer Sündenbock durchs Dorf gejagt, dem man alle Übel der Gegenwart anhängt. Und jedes Mal wird so getan, als habe man hier ein Problem von gesellschaftssprengenden Ausmaßen entdeckt. Von Arbeitslosen bis Zuwanderern gab es wohl keine Randgruppe, die noch nicht als bedrohlich für Staat und Gesellschaft stilisiert wurde.

Wir bildungsnahen Schichten können jetzt entweder Karl Marx zitieren, dem wir die klare Einsicht verdanken, dass das Sein das Bewusstsein verstimmt. Passend auch Bert Brecht: Erst das Fressen, dann die Moral. Oder wir könnten mit Friedrich Nietzsche fragen: Wer spricht? Ob die sich erregenden Edelfedern jenseits der selbst produzierten medialen Berichterstattung jemals mit einem Exemplar der Gattung bildungsferne Schichten Kontakt hatten, darf man wohl bezweifeln. Und auch Herr Beck schüttelt vermutlich bestenfalls im Wahlkampf kurz die Hand eines Bildungsfernen. Hier versichert man sich gegenseitig der Ressentiments gegenüber jenen, mit denen man ohnehin nichts zu tun haben will. Und was die Diagnose anbelangt, es gäbe in diesem Land Menschen, die davon leben, dass sie geschickt die Vorteile des Systems ausnutzen, da braucht man gar nicht bis zu dem soeben von uns gegangenen Friedrich Karl Flick zurückzugehen, um auch in anderen Schichten fündig zu werden.

Die Logik dieser Art der Volksbeschimpfung hat der Ökonom Kenneth Galbraith auf den Punkt gebracht: Die Demokratie wird stabil bleiben, solange 51 Prozent der Wahlbevölkerung das Gefühl haben, sie hätten ihren Vorteil davon. Die restlichen 49 Prozent kann man getrost abschreiben. Zu der Arithmetik ist auch ein Parteivorsitzender fähig.

Solche Gesellschaftsdiagnosen nach Gutsherrenart verkennen eines: in der kritisierten Bildungsferne und Faulheit spiegelt sich eine völlig rationale Kalkulation. Es handelt sich bei den ins Visier genommenen Schichten um jene, die der Rhetorik des Leistung-muss-sich-wieder-lohnen-und-jeder-ist-seines-Glückes-Schmied mit guten Gründen nicht mehr glauben. Die am eigenen Leib gemachten Erfahrungen dieser Menschen haben ihnen jene Illusionen geraubt, mit denen die wohlfeile Kritik an ihrer Lebensführung argumentiert. Man muss hier nicht in Sozialromantik verfallen und von den armen Opfern der post-fordistischen Ökonomie reden, von den Überflüssigen, Abgeschriebenen, Ausgegrenzten. Es genügt der kalte Blick auf den Status quo. Solange es noch Geld für ein vom Arbeitsmarkt zwangsweise entkoppeltes Leben gibt, wird es dazu verwendet, um sich in den Falten des Wohlfahrtsstaats bequem und häuslich einzurichten. Ist das nicht mehr der Fall, dann wird man sehen was passiert. Zwei Dinge sollte man bedenken: erstens man glaube nicht, dass diejenigen, die sich jetzt echauffieren, anders handeln würden, kämen sie in diese Situation und selbst auf hohem Niveau wird an staatlichen Leistungen mitgenommen was geht, seien es Diäten, Pensionen oder Abfindungen. Den impliziten Gesellschaftsvertrag, auf den man sich beruft, hält man selbst nicht ein. Zweitens bleibt gar nichts anderes übrig als Überwachung, Brot und Spiele für diejenigen, die nicht mehr gebraucht werden. Wie weit man die Brotrationen kürzen kann, wie schlecht das Angebot an Spielen werden kann, und wie weit man die Überwachung treiben kann, bis es auch den Saturierten zu viel wird, das wird sich weisen. Aber keine Politik, kein Appell an die Werte der Wohlstandsgesellschaft wird die sich abzeichnende Spaltung und Zersplitterung der Gesellschaft überwinden. Die einen haben ihre Lösung gefunden, sie pfeifen auf die Arbeitsgesellschaft. Die anderen halten ihr Glück, auf der richtigen Seite gelandet zu sein, für ihre eigene Leistung. War das nicht schon immer so?

Dass es den einen nicht so gut ginge, wenn es den anderen nicht so schlecht ginge, mit dieser an sich einfachen Überlegung ist derzeit kein Blumentopf zu gewinnen und bei der Art von Bildung, die derzeit an die Kinder derjenigen vermittelt wird, denen es noch gut geht, besteht auch wenig Hoffnung, dass sich das in absehbarer Zeit ändert.

© links-netz November 2006