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Hier bitte nichts verändern! Österreich nach der Wahl

Reinhard Kreissl

Die Wahlen in Österreich haben es bis in die New York Times geschafft. Die medial herausragende Figur eines jugendlichen Kandidaten, der einer im behäbigen Korporatismus dahin dümpelnden Volkspartei ein neues Image verpasst hat, war vielen Medien außerhalb Österreichs einen Bericht wert. Sebastian Kurz, in Wahlstimmen der Sieger des letzten Urnengangs, hat die gemäß österreichischer Farbenlehre vormals als „Die Schwarzen“ titulierte Österreichische Volkspartei ÖVP frisch angestrichen. Sie strahlt jetzt Türkis und nennt sich „Neu“ und „Bewegung“. Was auf den ersten Blick ein bisschen wie Macrons En Marche in Frankreich klingt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als strategischer Winkelzug aus Ratlosigkeit. Kurz ist das letzte personelle Aufgebot des politischen Arms eines rechts-konservativ wirtschaftsliberalen Establishments, das in reformresistenter Umklammerung einer großen Koalition mit der SPÖ sowohl den sozialen Frieden als auch den wohlbedachten Vorteil der eigenen Funktionäre und Unterstützer über die Jahre hinweg sichern konnte. Dieses sklerotisch gewordene fordistische Gleichgewicht hielt sich hier aufgrund der spezifischen Konstellation länger als in anderen Ländern. Österreich hat etwas weniger Einwohner als London und etwa halb so viel wie Istanbul, geriert sich aber als voll entwickelter Staat mit einer Bundes- und neun Landesregierungen, Bezirks- und Gemeindeverwaltungen und hat somit vier Ebenen politischer Steuerung, wobei die öffentliche Ämter bekleidenden Akteure auf den verschiedenen Ebenen alles daran setzen sich bei passender Gelegenheit Vorteile zu verschaffen, zugleich aber gegenseitig jede Reformbemühung torpedieren, die solche Gelegenheitsstrukturen verändern könnte. Es wäre wohl nur eine milde Übertreibung, den Staat Österreich als ein politisches Gebilde in Geiselhaft mafiös strukturierter Parteinetzwerke zu stilisieren, quasi als Lehrbuchbeispiel eines „Deep State“. Zwei symbiotische Lager – die „Roten“ und die „Schwarzen“ – stabilisierten sich hier wie kollektive Akteure in einem Gefangenendilemma zum gegenseitigen Vorteil bei in etwa gleichbleibenden Mehrheitsverhältnissen. Die Klientel der einen rekrutiert sich aus dem konservativ-katholischen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Milieu sowie der im Bauernbund versammelten ländlichen Bevölkerung, die der anderen aus der traditionellen Arbeiterschaft, vertreten durch politisch mächtige, aber immer zum Konsens bereite Gewerkschaften und deren Vorfeldorganisationen. Quer dazu fungiert die föderale Zersplitterung in neun Bundesländer als Bremse, um im Namen regionaler Machtbalance jegliche Veränderung zu verhindern. Der für Österreich typische übergreifende Konsens über ideologische Differenzen hinweg ließe sich in der Formel zusammenfassen: Hier bitte nichts verändern! Über diese austarierte Machtbalance und den für die üblichen Verdächtigen profitablen Status quo wacht im Hintergrund die Raiffeisengruppe, ein weit verzweigtes Konglomerat mit Schwerpunkt im Bereich Finanzdienstleistungen.

Wie stellt sich die Situation nach den Wahlen dar? Die Verschiebungen in der politischen Orientierung der Wählerschaft sind einerseits nicht sehr groß, haben andererseits aber vielleicht neue Möglichkeiten für die Gestaltung der zukünftigen Politik eröffnet. Bei den letzten Wahlen zum österreichischen Nationalrat teilte sich das langfristig stabile Potential rechts der Mitte auf mehrere Parteien auf: von der rechtskonservativen FPÖ hatte sich eine Gruppierung namens BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich) mit Schwerpunkt in Kärnten, dem ehemaligen Kernland des Rechtspopulisten und FPÖ Vorsitzenden Jörg Haider abgespaltet. Sodann investierte ein in Österreich geborener und in Kanada zu Geld gekommener Industrieller in eine eigene, nach ihm benannte Liste, das „Team Stronach“. Beide zogen ins Parlament ein, pulverisierten sich aber im Lauf der letzten Legislaturperiode selbst. Addiert man die dadurch freigewordenen Stimmen so erhält man in etwa den Zuwachs, den FPÖ und ÖVP jetzt erreicht haben. So gesehen hat sich an den Mehrheitsverhältnissen nicht viel geändert. Am anderen Ende des Spektrums haben die Sozialdemokraten auch dank ehemaliger Grün-Wähler mehr oder weniger ihren Stimmenanteil gehalten, fielen aber aufgrund der Konsolidierung am rechten Ende auf den zweiten Platz deutlich hinter der ÖVP und knapp vor der FPÖ zurück. Die österreichischen Grünen wurden ein Opfer fehlender Themen und interner Querelen. Nach dem Abtritt der nicht unumstrittenen Parteivorsitzenden und dem Austritt eines ihrer prominenten Abgeordneten, der zudem erfolgreich mit eigener, leicht linkspopulistisch schillernder Liste (Liste Pilz) antrat, fielen sie unter den für den Einzug ins Parlament erforderlichen Stimmenanteil von 4 Prozent. Ebenfalls mit leichten, durch Rekrutierung einer prominenten Spitzenkandidatin bedingten Zugewinnen im Parlament vertreten sind die NEOs, eine wirtschaftsliberale Partei, die sich den schlanken Staat und die Entfesselung der Marktkräfte auf die Fahnen geschrieben hat. Man kennt dergleichen aus Deutschland. So gesehen also nothing to write home about.

Allerdings ebnet die Konsolidierung des rechtskonservativen Blocks aus ÖVP und FPÖ Differenzen ein und verschiebt die anstehende Koalitionsregierung der beiden sehr wahrscheinlich populistisch noch weiter nach rechts. Österreich hatte bereits anderthalbmal eine solche „schwarz-blaue“ Koalition. Die erste Auflage hielt über die gesamte Legislaturperiode, die zweite löste sich auf und es kam zu Neuwahlen, die dann zurück zur bewährten Zusammenarbeit von ÖVP und SPÖ führte. Die nach der Ernüchterung über Schwarz-Blau wiederinstallierte große Koalition eierte über die Jahre vor sich hin und fand jetzt durch vorzeitige Neuwahlen und nach einem häufigen Wechsel der jeweiligen Führungsfiguren (in Österreich als Parteiobmann bezeichnet) ihr zähes Ende.

Übrigens: Die juristische und strafrechtliche Aufarbeitung der von Korruption geprägten Politik der Schwarz-Blauen Regierung dauert heute, über zehn Jahre nach dem Eintritt der FPÖ in die Regierung immer noch an.

Im Wahlkampf unter der Führung ihres neuen Frontmanns Sebastian Kurz, näherte sich die Rhetorik der ÖVP zusehends der rechtspopulistischen FPÖ an. Die reagierte mit einem Wahlplakat auf dem ihr führender Kandidat H.C. Strache als „Vordenker“ tituliert wurde, da angeblich alle Themen und Vorschläge, für die er und seine Partei seit Jahren werben, von der neuen, türkisen ÖVP übernommen wurden. Und in der Tat fand das von der FPÖ abgekupferte Konglomerat von dumpfem Fremdenhass, Sicherheitspanik und ethnisch kodiertem Sozialneid, dargebracht von einem jugendlich gestylten Spitzenkandidaten, der für einen nicht näher konturierten Neuanfang warb, ausreichend Anklang bei der Wählerschaft. Die Zuspitzung auf den einen Kandidaten und die Ausblendung inhaltlicher Positionen jenseits der gebetsmühlenartig wiederholten Forderung nach Schließung der Flüchtlingsrouten, ließ die ÖVP – über Jahre das Synonym für fehlenden Reformwillen – als Alternative zum Stillstand der Großen Koalition erscheinen. Aktuelle Themenkomplexe wie Klima, Globalisierung, Arbeitsmarkt, Infrastruktur und Bildung kamen de facto nicht vor, oder wurden über den Leisten: Schuld sind die Flüchtlinge! geschlagen.

Im Windschatten des unbarmherzig von der FPÖ betriebenen islamophoben Flüchtlingsbashings warb vor allem die ÖVP für Einschränkungen basaler sozialer Leistungen, die, wenn sie umgesetzt würden auch die bio-österreichische Bevölkerung träfen. Für den aus xenophober Erregung gespeisten Applaus, der aktuell eine Mehrheit weit rechts der Mitte sichert, nimmt man langfristige Kosten sozialer Desintegration in Kauf. Mangelnde Investitionen in Integrationsmaßnahmen und soziale Infrastruktur schiebt man rhetorisch jenen in die Schuhe, die solcher Maßnahmen am dringendsten bedürfen. Die altbekannte Leier von den Sozialschmarotzern, die den Staatshaushalt belasten, lässt sich über entsprechende mediale Strategien parallel dazu immer wieder erfolgreich aufwärmen.

Interessant ist die Situation in Wien, wo etwa ein Viertel der Wählerstimmen bei Nationalratswahlen zu vergeben ist. Hier regieren seit ewigen Zeiten die Sozialdemokraten, nach dem Verlust der absoluten Mehrheit in Koalition mit den Grünen. Der populäre Wiener Bürgermeister Häupl hat sich im Gegensatz zu anderen Spitzenfunktionären der SPÖ bereits vor dem Wahlkampf vehement einer Politik der sozialen Spaltung, der Ausländerfeindlichkeit und des sozialstaatlichen Kahlschlags widersetzt. Bei den Nationalratswahlen konnten die Sozialdemokraten in Wien ihr Ergebnis von der letzten Wahl mehr oder weniger halten. Interessanterweise aber waren die Verluste in jenen Bezirken am größten, in denen die lokalen Funktionäre von Häupls Linie abgewichen waren und sich dem allgemeinen rechtspopulistischen Trend angeschlossen hatten. An der Situation in Wien lässt sich das bekannte Dilemma der sozialdemokratischen Parteien studieren. Ihre Stammwählerschaft, für deren politisch-ökonomische Rechte die Partei eintrat, ist von den Ideen einer kulturellen Modernisierung wenig begeistert und daher liefen viele traditionelle SPÖ Wähler zu den Rechtspopulisten der FPÖ über, die sich als neue soziale Heimatpartei präsentiert. Der Spielraum der Sozialdemokraten für eine Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen ist unter den derzeit herrschenden Bedingungen auf null geschrumpft und in der Rolle der kulturellen Besitzstandwahrer und Nationalstaatsromantiker machen die Rechtspopulisten einfach eine bessere Figur.

Die aktuelle Mehrheit ist das Ergebnis gezielt geschürter Ängste und des faktischen Versagens der (nationalen und europäischen) politischen Eliten im Angesicht von Problemkonstellationen, die eine radikalere und vorausschauende Politik auf allen Ebenen erforderlich machen würden. Die Fraktionen sozialstaatlich demokratischer Modernisierung sind ins Hintertreffen geraten und die Bühne scheint frei für eine neue, eher rechtspopulistische, eher nationalistisch verengte Politik. Wie könnte diese in Österreich aussehen? Ausländerfeindlichkeit und eine gefährlich emotionalisierte Feindbildrhetorik sind für sich genommen noch kein Regierungsprogramm. Bevor es an die Sachthemen geht, wird die neue Koalition zunächst ihre eigene Klientel bedienen und ihren Funktionären den Zugang zu den staatlichen Fleischtöpfen ermöglichen. Darüber hinaus jedoch könnten die interessenspolitischen Programmatiken von ÖVP und FPÖ schnell zu Konflikten führen. Für die Entlastung der Unternehmen – von Steuern und Vorschriften – treten zwar beide Seiten ein. Aber wie die beklagte neo-korporatistische Lähmung abgebaut werden soll und wie die angekündigte Entlastung zu finanzieren ist, dafür ist keine Strategie in Sicht. Hier sind Konflikte mit den Bundesländern vorprogrammiert, die Initiativen der Bundesregierung torpedieren können. Die FPÖ muss darauf keine Rücksicht nehmen, da sie in den Landesregierungen kaum vertreten ist. Ebenso dürften die einflussreichen Funktionäre der diversen Kammern und Bünde, die in der ÖVP – ob sie nun Schwarz oder Türkis daherkommt – nach wie vor ein gewichtiger Machtfaktor sind, bei einer „Entfesselung“ der Wirtschaft ihren Einfluss schwinden sehen und ein Veto einlegen. Zudem sind den im Wahlkampf etwas halbstark vorgeschlagenen „Österreich zuerst!“ Initiativen durch europäische Regelungen enge Grenzen gesetzt. Auch hier wird der als nationaler Tiger gesprungene Jungdynamiker Kurz wohl eher als europäischer Bettvorleger landen.

Bleibt der Bereich der symbolischen Politik in der Beschwörung von Feinden und Gefahren, vor denen uns die neue Regierung tapfer schützen muss und die ebenso martialische wie marginale Initiativen hervorbringen wird. Klassische Kandidaten sind der Kampf gegen den Terrorismus, den politischen Islam, den Sozialmissbrauch, die Kriminalität und die Überfremdung des kulturellen Lebens. Das wird schmerzhaft zu spüren sein bei den Aktivisten der politischen Gegenöffentlichkeit ebenso wie bei jenen Randgruppen, auf die solche Symbolpolitik für die sogenannte breite Masse zielt. Diese Massenloyalität ex negativo wird aber vermutlich nicht von lange vorhalten. Wahrscheinlich ist ein Szenario in dem jeder Koalitionspartner zunächst mit je spezifischen eigenen Problemen konfrontiert sein wird: Der strahlende Jungpolitiker Kurz wird von der eigenen Partei demontiert werden, sobald er versucht seine Reformankündigungen umzusetzen und die realen Machtverhältnisse im ÖVP Netzwerk zu verändern. Die FPÖ steht vor dem Problem, dass ihr der Schafspelz, den sie übergeworfen hat, vermutlich bald zu eng wird und die unverhohlen rechtsnationalistischen Elemente ihr Recht auf folgenreiches politisches Gehör einfordern und dabei an die Grenze der Verfassung stoßen. Beides wird sich auf den Koalitionsfrieden nicht unbedingt positiv auswirken und damit ist der erste Schritt zur Demontage der Koalition, wenn nicht gar zu Neuwahlen getan. Wie sich die Dinge danach entwickeln hängt nicht zuletzt von der politischen Entwicklung in Europa ab und da hilft im Moment vermutlich nur Hoffen und Beten.

© links-netz November 2017