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Embedded in Reality

Kathy Laster und Heinz Steinert*

Einleitung: Der langweiligste Fernseh-Krieg

Die militärische Informationspolitik ist im Vietnam-Krieg und im ersten Golfkrieg aus entgegengesetzten Gründen gescheitert: Im Vietnam-Krieg gab es zu wenig Kontrolle und daher diese politisch ungünstig hässlichen Fotos – der Golfkrieg war überkontrolliert und reduzierte sich fürs Publikum auf ein Computer-Spiel. Das machte uns misstrauisch, es könnte sich hinter dieser Fassade Unordentlicheres abgespielt haben – und das hatte es auch. Diesmal verfiel das Pentagon auf eine neue Idee: in die Truppe „eingebettete” Journalisten, die mit den Soldaten und in ihren Panzern und Lastautos am Krieg teilnahmen und daher laufend Fernseh-Bilder produzieren konnten.

Es ist offensichtlich, dass die Planer im Pentagon inzwischen Reality TV gesehen hatten.

Das Ergebnis ist der langweiligste Mattscheiben-Krieg, den es je gab. Das hat sich auch in den Einschaltquoten gezeigt: Natürlich haben die Nachrichten-Kanäle, besonders CNN, zugelegt, aber weniger als bei früheren Gelegenheiten. Sogar Rumsfeld, so wird berichtet, hat in einer Pressekonferenz gestanden, dass ihm die erste Woche des Kriegs wie Monate vorkam.

Sollten wir, um eine solche Fehlkalkulation zu verstehen, vielleicht Reality TV als Form erst einmal genauer interpretieren? Könnte es sein, dass diese ganze Idee nicht ganz ausgereift ist? Vor allem: Wie verhalten sich Fernsehen und besonders die „Übertragung“ einer „Wirklichkeit“ zu Langeweile?

Man muss einen etwas größeren Bogen abgehen, um die Hinweise zusammenzutragen, die erklären, warum „Kriegs-Realitäts-Fernsehen” so langweilig ist.

I: Langeweile und wie man ihr entkommt

Jeder Teenager (und dann wieder jeder Achtzigjährige) weiß es: Das Leben ist in erster Linie langweilig. Wenn es nicht ohnehin in Warten besteht (und das in unbehaglichen, oft ausgesprochen unerträglichen Situationen), dann besteht es in immer wieder durchlaufenen Zyklen von banalen Tätigkeiten: Essen, Toilette, Schlaf, Begattung, Transport von A nach B, Saubermachen, Ordnung halten – alle diese Zeiten des Tages, über die man hinterher nichts erzählen kann. Was wir dagegen tun, ist, wir lenken uns ab und lassen diese Zeiten, über die es nichts zu sagen gibt, in größeren Aktionen verschwinden, in denen man sie überspringen kann: in einer Liebesgeschichte, einer Erfolgsgeschichte, einer Geschichte von Konkurrenz und Konflikt, einer Geschichte von Schuld und Rache, einer Geschichte von unwahrscheinlichen Vorkommnissen und von Übernatürlichem, einer Geschichte von Reise und Entwicklung, manchmal mögen wir auch ein wenig Versagen und Niedergang, und natürlich das Böse und seine Bestrafung. Häufig genug ist die einfache Ablenkung viel wirksamer als solcher Einbau in eine Geschichte: Durch Chemie oder Überanstrengung das Hirn auszuschalten oder uns durch kontrollierte Abstürze und starke Rhythmen einen „kick” zu geben, ist viel leichter und hilfreicher, als dem verkorksten Leben einen „Sinn” zu erfinden. Zumindest die Reizsucher unter uns wissen von der unvergleichlichen Durchschlagskraft einer Gefahrensituation, in die wir uns begeben, gegenüber der Metaphysik, die wir uns zusammenbasteln.

Aber natürlich soll man eine gute Geschichte, so wie einen Lacher, nie verachten. Die Geschichten unseres Lebens sind gleichzeitig Ablenkung und Sinngebung: Sie sind der Stoff, aus dem unsere eskapistischen Phantasien und unser wirkliches Leben gemacht werden. Wir träumen sie nicht nur, wir wollen sie (manchmal) auch leben. Wir füllen die Zeit mit davon inspirierten Projekten: eine berufliche Karriere, die Gründung einer Familie, eine Heldin oder ein Weiser zu werden, die Welt zu verändern. Diese Projekte verstricken uns ihrerseits wieder in Zeitprobleme: Wartezeiten, Routine-Zeiten, Zeiten, die wir (manchmal buchstäblich) „absitzen” müssen. Gewöhnlich bringen diese Projekte ein Kippen im Modus der Langeweile mit sich: von Langeweile als Warten zu Langeweile als hektische, disziplinierte, repetitive Routine-Aktivität. So brauchen wir wieder Ablenkung. Wir brauchen gute Geschichten, die uns begründen, warum diese Projekte den Aufwand lohnen, obwohl sie sich wie ermüdende Routine anfühlen. Sie hätten auch ganz anders verlaufen können, sie könnten noch immer ganz plötzlich eine andere Richtung nehmen, auch wenn es in unserem Fall „dumm gelaufen” ist, so gibt es doch glückliche Gegenbeispiele, in einer speziellen Kontrast-Phantasie verschafft uns jedes Versagen hier einen Gutpunkt in einer anderen Welt, einem Jenseits ... Im Kontrast zu einer guten Geschichte, die ein Ende (möglichst nach 90 Minuten) und einen komödienhaften oder dramatischen Schluss hat, geht das Leben immer weiter bis zu einer Ausblende ohne dramaturgische Funktion.

Die besten dieser kompensatorischen Geschichten sind die abweichenden: für den frustrierten Manager mittleren Alters die Geschichte, wie er plötzlich der Liebe seines Lebens begegnet, für den erledigten Arbeiter die Phantasie vom Toto-Zwölfer, für den schwächlichen Schüchti die Phantasie von Superman, Geschichten von Zerstörung und Wut für den ängstlichen Schalterbeamten, Don-Juan-Phantasien für den Verlierer mit der Frau, die ihn nie begehrt oder geachtet hat. Die meisten dieser Geschichten von Abweichung müssen zwei Leistungen zugleich erbringen: die Phantasie vom „ganz anderen“ Möglichen speisen und gute Gründe liefern, warum man besser so weiterlebt wie bisher, den Kitzel und die Bestrafung in unmittelbarer Abfolge. Manche von uns haben Glück: Sie sind die Verfasser ihrer eigenen Geschichten, die Regisseure ihres eigenen Films. Die meisten von uns begnügen sich mit den Geschichten, die das Fernsehen liefert.

II: Die optische Täuschung des Fernsehens

Durch das Fernsehen haben sich Ablenkung wie Geschichtenerzählen erstaunlich verändert. Das Fernsehen kann keine starken Erregungen vermitteln – wie es die Geschichte kann, die sich in den Bildern auf der Großleinwand in einem verdunkelten Raum entwickelt, wie es der Politiker kann, der seine Demagogik im Bierzelt spielen lässt, wie es jede Massen-Emotion kann, die wir miterleben. Diese selben Erregungen in Zwergengröße und hinter einer Glasscheibe im eigenen Wohnzimmer sind weder aufregend noch eine gute Geschichte: Sie erscheinen vielmehr als Wiederholungen der langweiligen Abschnitte, die wir aus unserem eigenen Leben so gut kennen. Schon die Idee, man könne eine Wirklichkeit eins zu eins an einen anderen Ort „übertragen“, damit sie dort betrachtet werden kann, ist absurd: Wirklichkeit wird zunächst gelebt und nicht betrachtet und jedenfalls hat sie in den beiden Aggregatzuständen ganz unterschiedliche Eigenschaften. Gelebter Wirklichkeit zuzusehen ist langweilig.1 Die eigenständigen Formate des Fernsehens waren aber immer schon „Übertragungen“: politische Versammlungen und Ansprachen, auffallende Ereignisse, Sportveranstaltungen. In einer Monarchie kann das Fernsehen die endlosen, langweiligen Rituale der Krönung, der Hochzeit, der Parlamentseröffnung und der Staatsbegräbnisse übertragen. Republiken haben nur wenig davon in abgewandelter Form retten können und unternehmen große Anstrengungen, um von Zeit zu Zeit funktionale Äquivalente, etwa als „State of the Union“-Ansprache (Kreisky sprach seinerzeit einfach „Zur Lage“), vorführen zu können.2 Unerreichtes Vorbild solcher öffentlicher Rituale ist natürlich die Religion, von der Heiligen Messe über die Verehrung von Orten, schwarzen Felsen, Bildern, Reliquien zu wohlorganisierten feierlichen Prozessionen durch die Stadt.3

Tatsächlich ist das Fernsehen für Schauspiele und Filme sehr geeignet und hat alle Eigenschaften eines guten erzählerischen Mediums: Intimität, angenehme Größe (nicht überwältigend wie das Kino), kann in (begrenzter) Gesellschaft rezipiert werden (und vermeidet damit die Einsamkeit des Buchs, die oft seine Stärke, manchmal aber auch seine Begrenzung ist), keine Ablenkung durch soziale Anforderungen (wie beim Theater oder gar der Oper), relativ billig und leicht zugänglich. Durch die Möglichkeiten der Video-Aufnahme ist das Material besonders „verfügbar“ und für alle Arten von Analyse zugänglich geworden, die über das Kino weit hinausgehen. Diese Stärke wird vom Fernsehen immer noch genutzt, aber unterschätzt (und wahrscheinlich sind die Filme zu teuer, so dass die Sender nach den großen Action-Kino-Hits greifen statt nach den Kammerspielen, die für das Medium Fernsehen viel besser geeignet wären).

Stattdessen hat Fernsehen sich auf die Entwicklung der Formate mit wenig erzählerischem Inhalt konzentriert. Davon gibt es drei Hauptformen: Tratsch, Litaneien und Übertragungen.

Das Musterbeispiel der Tratsch-Formate ist die Talk-Show, auch in ihren Varianten als weiland Fernsehfamilie (bis hin zu „Lindenstrasse“), heute Sitcom, bis zur gehobenen Diskussionsrunde. Die meisten Nachrichten sind auch nicht viel mehr als Tratsch, besonders wenn sie darin bestehen, dass Journalisten Journalisten interviewen, darunter solche, die statt Expertise für die jeweilige Frage vor allem Prominenz vorzuweisen haben.

Litaneien sind interessant, weil sie ideale Fernseh-Formate abgeben könnten. Viele Kulturtechniken zum Absitzen von leerer Zeit bestehen in ritualisierten repetitiven Aufgaben, die von denen, für die sie wirksam sind, besonders in Augenblicken von Schmerz und Erregung eingesetzt werden können: Gebete, Atemübungen, Yoga, Bewegungs-Stereotypien. Das Zusehen bei einem Tennis-Match könnte durchaus ein Äquivalent für beten sein. Ebenso bekannt ist die Faszination der Meeres-Brandung, der man stundenlang zusehen kann, wie sie kommt und geht, kommt und geht ... Kurz: Diese religiösen und pseudo-religiösen Übungen (der christliche Rosenkranz, das Schaukeln der Jüdisch-Orthodoxen, die tiefen Verbeugungen der Muslime, das Om mani padme hum der Tibeter) zeigen, wie man sich mit repetitiven Übungen den Kopf füllen (oder leeren) kann.

Einiges von dem, was Fernsehen bietet, kann als Äquivalent solcher Übungen verstanden werden – nicht primär zum Zusehen, vielmehr zum Teilnehmen. Die neueste Folge der Vorabend-Serie oder die Abendnachrichten könnten auch solchem Abschlaffen dienen und nicht primär der Unterhaltung oder Information. Zuschauer-Sport entspricht den Bedingungen für wirksame Litaneien sehr gut: bekannte Regeln, einfache Abläufe, kleine Variationen über endlose Wiederholungen. (Tennis, Golf, oder gar Cricket entsprechen dem besser als Fußball, der sich unter diesem Aspekt als hochintelligentes Strategie-Spiel erweist.) Das beste Beispiel waren die nächtlichen Pausenbilder, die es nicht mehr gibt, Kaminfeuer, Aquarien, S-Bahn-Fahrten, Meditations-Vorlagen, die damals angeblich Publikumsrenner waren.

Übertragungen (einer „Wirklichkeit“) könnten ähnliche Funktionen haben. Das aufgeklärte Gegenstück zum Gebet wird als Fernseh-Ereignis rund um die Welt „übertragen“. Fernseh-Langeweile führt die Erfahrung der Ereignislosigkeit des Lebens als Unterhaltung vor, ist aber zugleich ein Beispiel für die langweiligste Art, mit der Langeweile umzugehen: Man bekämpft sie durch repetitive Aktivitäten, die kaum Aufmerksamkeit erfordern.

In der Idee des Reality TV ist dieses Prinzip der Langeweile zu Selbstbewusstsein gekommen. Und diese Langeweile hat auch eine Klassendimension.

III: Die Rückkehr von Klassenkulturen – des Fernsehens

Lange bevor sie anfingen, hinter Polizeiautos, der Feuerwehr oder Rettungsfahrzeugen herzujagen, um „Männern bei der Arbeit“ zuzusehen, startete Reality TV als Proleten-Fernseh-Shows, in denen muskulöse, großmäulige und exhibitionistisch begabte Männer und Frauen in verschiedenen Stadien der Entkleidung auftraten. Sie mussten konkurrieren, manchmal auch kooperieren, vor allem aber sich preisgeben, und konnten Geld und Geldeswert und vor allem fünfzehn Minuten Berühmtheit (in ihrer Nachbarschaft) gewinnen. Es ging nicht primär um intellektuelle Verausgabung, sondern beruhte auf der Macht dessen, was die gemeine Normalität der Person und des Mediums aus rohem Exhibitionismus machen kann. Etwas später erschienen die nächtlichen Huren-, also Telefon-Sex-Werbe-Spots, dann auch früher am Abend strippende Hausfrauen (zuerst in den Berlusconi-Kanälen in Italien eingesetzt), das Fernseh-Gegenstück zur täglichen Nackten auf Seite drei der Boulevard-Zeitung. Sie waren die Fortsetzung und das extreme Ende der Proleten-Shows.

Aber den richtigen Durchbruch brachte erst die enorme Aufmerksamkeit, die „Big Brother“ erhielt – ein später Spross, der das alles auf die logische Spitze trieb. Das Besondere war die Aufmerksamkeit bei den Gebildeten, die von Exhibitionismus, Materialismus, und Gewöhnlichkeit dieser Spanner-Show angewidert waren. Es war sogar von Menschenfeindlichkeit die Rede. Sie kritisierten die Spiele von sozialer Ausschließung – fast so grausam wie im wirklichen Leben im Neo-Liberalismus. Sie kritisierten die Wettbewerbe in Exhibitionismus und wie die Kandidaten dazu angehalten wurden, sich selbst zu Idioten zu machen – fast so hart wie im wirklichen Show-Geschäft. Hauptsächlich wird uns freilich vorgeführt, wie das Fernsehen sich selbst feiert, wie es seine Allmacht feiert, die unwahrscheinlichsten Dinge geschehen zu lassen. Das Fernsehen feiert, wozu es uns alles veranlassen kann, was wir zu tun und anzusehen bereit sind, zu welchen Narren wir uns, auf beiden Seiten der Mattscheibe, machen lassen. Die erschreckten politisch korrekten Einwände der Kulturkritiker, darunter auch Politiker, wurden rasch zu einem Begleit-Genre zu „Big Brother“, das der Popularität nur zuträglich war – besonders bei dem Teil der Bevölkerung, der erst später in der Nacht fernsieht und sich nicht darum reißt, die merkwürdigen Sitten in Gruppen junger Proleten zu beobachten.

Reality TV in dieser neuesten Variante ist eine einfache und vorteilhafte Erfindung. Einfach: Man kreuze das Gewinn-Spiel mit einer Überlebens-Show. Der Schritt ist logisch, denn Gewinnspiele haben immer ein Überlebens-Element gehabt: Nur der erfolgreiche Kandidat steigt zum nächsten Spiel auf – und zur nächsten Preis-Summe, der erfolglose fällt hinaus. Vorteilhaft: Wie man aus der Talk-Show lernen konnte, drängen sich die Leute zur Teilnahme, sie konkurrieren darum, sich zu Narren zu machen, und sie tun das auch ohne Bezahlung, wie viel mehr erst mit. Und viele sehen das gerne. Wir bekommen die kombinierten Reize einer Exhibitionismus-Show und von Freistil-Ringen geboten und können zusätzlich noch daran teilnehmen, zumindest die Verlierer zu bestimmen und hinauszuwählen.

Die verschiedenen Formate innerhalb dieser allgemeinen Formel unterscheiden sich durch eine oder mehrere zusätzliche Attraktionen:

  • Die Plagen des Gemeinschafts-Lebens („Die Hölle, das sind die anderen“) in „Big Brother“4 gehören zur Grundausstattung. Das genügt schon, dass ein paar Leute ihr Gemeinschafts-Leben völlig öffentlich leben müssen, ohne einen Augenblick der Privatheit. Es ist die Situation des panoptischen Gefängnisses, allgemein der „totalen Institution“, nicht zuletzt der totalen Institution der traditionellen proletarischen Familie – oder des („Gast“-)Arbeiter-Quartiers, acht Männer in einem Raum, des Militärs, der geschlossenen Abteilung in der Psychiatrie (die allmählich ausstirbt). Die gebildeten Kritiker wissen schon, dass es alle diese Einrichtungen wirklich gibt, sie wollen nur nicht damit unterhalten werden. Die proletarischen Zuschauer sind dieser Wirklichkeit vielleicht näher und mögen ihre guten Gründe haben, daraus eine Form von Unterhaltung zu machen.
    Endlich können wir den gemeinen männlichen und weiblichen Proleten (tatsächlich sind es angehende Models, die Proleten spielen) in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten. Natürlich sind sie ziemlich langweilig, aber sie sind auch damit beschäftigt, ihre Langeweile zu bewältigen und erzählen oder agieren daher Mini-Geschichten. Manche davon werden von der Regie initiiert, aber in der Hauptsache sehen wir Gefangene mit ihrer Langeweile kämpfen. Wer das am erfolgreichsten tut, gewinnt.

Interessanterweise haben sich die Erfinder und internationalen Verkäufer nicht ganz auf ihre eigene Formel verlassen. Sie haben sehr rasch Varianten ausgedacht, die ihnen stärker „sexy“ vorkamen:

  • Die expliziteste Variante war eine Sex- und Konkurrenz-Partnersuche-Show: „Girls Camp“, ein kompletter flop, der nach ein paar Versuchs-Sendungen eingestellt wurde. Hier sollten die Schrecken des Gemeinschaftslebens einer Gruppe von ausgesuchten weiblichen Models in einem Luxus-Ambiente mit bitterer Konkurrenz in der Partnersuche kombiniert werden. Die Attraktivität hielt sich in Grenzen.
  • Weniger riskierte Ideen waren „Der Bus“ (das Gefängnis bewegt sich durch die Landschaft) oder das „Schwarzwald-Haus“ (das Gefängnis bietet den Komfort eines Bauernhauses im 19. Jahrhundert). Die logische nächste „totale Institution“ ist die Hochsee-Yacht und das militärische Ausbildungs-Lager (sicher mit einem weiblichen „Spieß“), auch eine Station im ewigen Eis wäre zu erwarten.
  • Der letzte verzweifelte Versuch von Endemol, nachdem die Einschaltziffern von „Big Brother“ abgestürzt waren, und der ebenso verzweifelten Moderatorin Schreinemakers, die nach ihrem Debakel mit Finanzamt und Sendern ein come-back brauchte, war „Big Diet“. Wir sollten einer Ansammlung von Personen mit 120 kg oder mehr dabei zusehen, wie sie unter den erschwerenden Bedingungen des totalen Gemeinschaftslebens abnehmen oder rückfällig werden. Interessanterweise blieb die moralische Empörung der politisch Korrekten diesmal aus, aber ebenso die Einschaltquote. Der Versuch wurde rasch abgebrochen.
  • Eine interessante und erfolgreiche Zusatz-Herausforderung wurde für die österreichische Produktion „Taxi Orange“ erfunden: die Schrecken der kleinbürgerlichen Produktionsweise (kombiniert mit denen von Gemeinschaftsleben und Zwangs-Partnerschaft). Das Format ermöglichte auch eine neue Art der Publikumsbeteiligung: Man konnte das Taxi tatsächlich rufen.
  • Die jüngste Erfindung ist „Starmania“, wo die Konkurrenz weit im Vordergrund steht, obwohl auch das Gemeinschaftsleben eine gewisse Rolle spielt.
  • Dazwischen gab es die „Survival“ Shows: der Wettbewerb um Überleben in einer unwirtlichen Wildnis in verschiedenen „Insel“- oder „Robinson“-Situationen (von einem kompletten TV-Team begleitet). „Robinson“ war eine irreführende Bezeichnung, denn es ging nie um das Aushalten von Einsamkeit, das schwer zu dramatisieren ist und erst nach langer Zeit sichtbar unerträglich wird. Reality TV bewährt sich hier in seiner Rolle als Zerstörer von schönen Phantasien: Die einsame Insel ist kein Paradies, sondern ein Ort, an dem man gerade mit Mühe überleben kann.
  • Im Gegensatz dazu hat der zur selben Zeit gestartete Film „Castaway“ (2000) das Robinson-Problem der Langeweise ganz eindrucksvoll dargestellt. Die Robinson-Figur, von Tom Hanks dargestellt, wird in der Einsamkeit langsam verrückt. Wo selbst die ursprüngliche Defoe-Geschichte über viele Jahre von Leiden, über das es nichts zu sagen gibt, mit wenigen Sätzen hinweggeht, hatte die Figur im Film immerhin diese schrecklichen körperlichen Leiden: die Wunden an den Beinen, die ordinären Zahnschmerzen, die in der Einsamkeit kaum auszuhalten, geschweige denn abzustellen sind, dazu wird er immer dünner. (Tom Hanks hatte sich für den Film viele Kilos hinaufgefressen und sie anschließend wieder heruntergehungert, was in Hollywood als hinreichender Grund für einen Oscar diskutiert wurde – der freilich ausblieb.) Außerdem dauert die Episode auch in Zuschauer-Zeit ziemlich lange. Der Film demonstriert die Notwendigkeit, „lange Dauer“ und „Langeweile“ sorgfältig zu inszenieren und zu schneiden, wenn daraus künstlerische Gegenstände und nicht nur Publikums-Zustände werden sollen, die der Film unfreiwillig herstellt.
  • Das Format erwies sich bald als uninteressant und wurde an immer exotischere Schauplätze verlegt, um etwas von dem ursprünglichen Exotismus zu retten. Aber selbst der Amazonas-Urwald und das Australische Outback konnten die Dürftigkeit der Show nicht kompensieren.

„Big Brother“ hat die Verflechtung von Fernsehen und Internet energisch vorangetrieben und damit zugleich der faden Idee den avantgardistischen Anstrich verpasst. Neben den inzwischen üblichen „spin offs“ („merchandising“, „making of ...“, „casting“, „reunion“ usw ad nauseam) entstand daraus der Versuch, eine Show rein im Internet zu produzieren: „Reality Run“ als Verfolgungsspiel in Berlin und am Computer. Wiederholt wurde dieses Spiel nicht.

Reality TV ist das selbstbewusste und aggressive Abfeiern des „gemeinen Manns“ und der „gemeinen Frau“, vorwiegend jugendlich, ohne alle erzieherischen oder kulturellen Absichten und Ansprüche. Hier geht es um „fun“ von der harten Art und im Medium des Körpers, inklusive seiner Schamlosigkeit. Wenn ein Kandidat Shakespeare für eine unbekannte Bier-Marke hält, macht ihn das nur bekannt und reich. (Und möglicherweise hat Zlatko diesen alten Witz nur verwendet, um sein erfolgreiches Proli-Image zu unterstützen.) Dazu gehört auch das selbstbewusste und aggressive Wissen darum, was hier Sache ist: Ich tu das für das Geld, was sonst? Schließlich ist das, was einem hier abgefordert wird, auch nicht demütigender als anderer Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft, eher im Gegenteil, und der Gewinn ist deutlich höher. Von allen denkbaren Arten der Prostitution ist diese die schmerzloseste und einträglichste. Von allen denkbaren Glücksspielen ist dieses das risikoärmste –wenn man darin überhaupt weiterkommt, ist irgendein Gewinn sicher. Was wollen die lächerlichen Figuren mit ihrer Weltuntergangs-Kulturkritik? Was soll in diesen neo-liberalen Zeiten eigentlich die ganze Aufregung?

Die entgegengesetzten Haltungen machen unmissverständlich klar, dass der alte Unterschied zwischen Hochkultur und Unterschicht-Kultur wieder existiert, und zwar im Fernsehen. Es gibt Hoch-Fernsehen – Informations / Probleme / Bildungs-TV – und Trash-Fernsehen – Fäuste / Titten / Spiele-TV – und natürlich viele und verschiedene Mischformen. Die Illusion der einen einheitlichen Nationalkultur, geprägt und gepflegt durch das eine nationale Edutainment-Fernsehen, ist nicht mehr zu halten, auch nicht in Europa. Es gibt wieder Klassen-Kulturen – beim Fernsehen.

Nicht dass die gebildete Klasse das Trash-TV gar nicht sehen würde, zumindest die Jungen tun das in großen Zahlen, aber sie tun es, um sich unterschiedlich scharf davon zu distanzieren. Die klassische Bildungs-Reaktion, die das abstoßend, ordinär, verdummend und entpolitisierend findet, tritt noch und wieder auf, während die Jungen diese Programme kennen müssen, sie aber uninteressant finden, und nur eine kleine Gruppe sie in negativem Snobismus besonders zu schätzen angibt. Und es gibt genug unter den Gebildeten, die Trash „zur Entspannung” sehen, die damit das gute alte „Slumming” pflegen: Das rauhe und ungehemmte Benehmen der unteren Klasse verschafft den Oberen die billigen Vergnügungen.

In der anderen Richtung gibt es wenig von solcher Doppelmoral: Das Bildungs-TV gilt als langweilig, d.h. man sieht es nicht. Es gibt in der Wissensgesellschaft jede Menge an selbstbewusster Ignoranz dessen, was einmal gebildete Hochkultur war – aber es wird immer schwieriger, die neuesten Moden des Trash-TV nicht zu kennen.

Die gebildete Klasse hat durch ihre enorme und schnelle Vergrößerung alle Ansprüche auf den Status einer kulturellen Elite abgegeben. Viele setzen ihre Ausbildung dafür ein, Wissen als Dienstleistung auch an die wenig Gebildeten zu verkaufen: Ein Anspruch auf „Aufklärung“ wird dabei höchstens im Sinn von Psycho- und Sex-Beratung erhoben. Die beiden Klassen verfolgen identische Ziele unter Einsatz ihrer unterschiedlichen Ressourcen, in der klassischen Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeit: Die einen erfinden und organisieren neue Ausscheidungs-Spiele in den elektronischen Medien, die anderen lassen sich als Teilnehmer in sie einspannen. Die neue Volksgemeinschaft ist eine von Spielern: vereint in der wilden Entschlossenheit, mit allen Mittel schnelles Geld zu machen und sich von der Langeweile nicht überwältigen zu lassen.5

„Big Brother” ist uns erstaunlich schnell sehr langweilig geworden.

Es geschieht nicht so oft, dass wir den Kapitalzyklus so schnell und vor aller Augen ablaufen sehen: Ein neues Feld der Investition wird von einem schlauen Investor (Endemol) eröffnet – er selbst und die Konkurrenz wiederholen die Idee auf der ganzen Welt – und ruinieren sie durch diese Über-Investition. Alle möglichen Klein-Investoren hängen sich an, in diesem Fall nicht zuletzt die Kulturkritiker, die sich daran begeisterten, das neue Format als menschenunwürdig zu denunzieren, als einen neuen Tiefpunkt im Unterhaltungs-Zynismus. Diese moralische Erregung machte Big Brother erst interessant: Auch die politisch Korrekten werden von Politisch Inkorrektem besser unterhalten.

Die Erregung ging an der Sache vorbei: Menschenwürde war nicht die Fragestellung. (Welche Menschenwürde sollte das nach Pornos und Splatter Movies, Talk Shows und strippenden Hausfrauen noch sein?) Die Fragestellung ist Langeweile. Big Brother war von Anfang an langweilig. Der „kick“ bestand darin, auf den ausbleibenden kick zu warten. Der kick bestand darin, anderen beim Leben mit extremer Langeweile zuzusehen. Der kick war, Langeweile ohne zu klagen auszuhalten. Bei Big Brother wurde die Mattscheibe zum Spiegel: identische Szenen auf beiden Seiten. Natürlich auch ein Einweg-Spiegel, aber das ist gar nicht so wichtig. Es gab keine aufregenden Geheimnisse zu sehen (es sei denn, man findet einen jungen Mann, der sich die Brust rasiert, eine Neuigkeit). Was wir zu sehen bekommen, sind vielmehr (leicht stilisierte) Wiedergänger unser selbst.

IV: Kriegs-Reality TV

Die Idee von Kriegs-Reality TV hat eine gewisse Logik: Soldaten sind ein Musterbeispiel für Unterschicht-Männer „bei der Arbeit”. Alle Kriege sind in erster Linie von den unteren Schichten gekämpft und erlitten worden.6 Mangels einer ausreichenden Analyse von Reality TV haben die Planer der „eingebetteten Journalisten” sich allerdings darüber getäuscht, dass die Realität, auch die des Krieges, in erster Linie langweilig ist. Auch das bekannte Sprichwort „Den Großteil seines Lebens wartet der Soldat vergebens“ scheinen sie nicht gekannt zu haben. Was wir daher von den „eingebetteten Journalisten” bekamen, waren endlose langweilige Bilder von endlosen langweiligen Fahrten durch endlose Wüsten. Die seltenen Augenblicke, in denen aus dem Panzer ein menschliches Wesen gesichtet wurde, mussten daher im Fernsehen dauernd wiederholt und auf diese Weise absurd und langweilig gemacht werden.

Sogar die Wirklichkeit des Kampfes ist nicht heroisch, sondern aus dem Blickwinkel des einzelnen Panzerfahrers, sogar des Kommandeurs, den des gemeinen Soldaten gar nicht zu erwähnen, konfus, unklar, manchmal panisch, gewöhnlich ferngesteuert. Die wichtigste Aktivität ist es, klare Befehle von jemandem zu bekommen, der hoffentlich den Überblick hat und daher weiß, was hier eigentlich abgeht: Wo bin ich? Wohin soll ich vorrücken? Was soll ich tun? Wer ist Freund, wer Feind? (Bezeichnenderweise waren in diesem wie im ersten Golfkrieg die größten Gefährdungen der Westmächte-Truppen Unfälle und „friendly fire”.)

Die Bilder dieser merkwürdigen Kriegs-Realität wurden von den „eingebetteten Journalisten” ohnehin nicht geliefert. Sobald die Soldaten in die großen Städte, besonders Bagdad einrückten, hörten die Bilderflüsse auf. Wurden die Journalisten zurückgelassen, sobald der Krieg mehr als eine Fahrt durch die Wüste wurde? Wurden sie zensiert? Jedenfalls blieben uns die Details vorenthalten. Sie wären auch nicht sensationell gewesen. Die rohe Wirklichkeit, auch die des militärischen Kampfes, hat keine theatralischen Qualitäten.

Hollywood weiß ganz genau, dass sie daher Kriege auf Kommando-Aktionen kleiner Gruppen reduzieren müssen, in denen auf wunderbare Weise jedenfalls die Anführer (und das Publikum) immer den Überblick haben – den der wirkliche gemeine Soldat nicht hat.

Die andere Illusion ist die vom „sauberen” Krieg. Auch die kann man sich nur im Überblick machen. Aus der Nähe sehen wir notwendig die dreckige, staubige, grausame, blutige, erschreckende Seite des Krieges. Nachdem die Erwartung, die Irakis würden die Befreier freudig begrüßen, vorsichtigerweise erst erfüllt wurde, als die Sieger feststanden, sah sogar die Festnahme von drei Überläufern hässlich und grausam aus, gewiss nicht heldenhaft. Schon gar nicht heldenhaft ist, aus der Nähe gesehen, der Umgang mit Verletzten. Al-Jazeera hat diesen Aspekt von Kriegs-Reality TV aus den unterausgestatteten (und dann noch geplünderten) Spitälern Bagdads übertragen. Das Irakische Fernsehen, so lange es noch sendete, zeigte Bilder von verängstigten US Kriegsgefangenen. Die Planer des Center Command taten alles, um die Übertragung solcher Bilder zumindest in die USA zu verhindern.

Ein Ergebnis spricht für die „Einbettungen”: Keiner von den zwölf in diesem kurzen Krieg getöteten Journalisten (eine unerhört hohe Zahl) war „eingebettet”. Im Gegensatz zu dem Verdacht, den manche Journalisten vorher hatten, dass sie nämlich Informations-Versuchskaninchen für den Nachweis von Saddams Massenvernichtungs-Waffen sein sollten,7 war die „Einbettung” eine relativ sichere Situation. Der Preis dafür ist offenbar Zurückhaltung.

Eine unzensierte Dauer-Übertragung der Bilder, auf die die „eingebetteten Journalisten” stießen, hätte einem breiten Publikum vorgeführt, wie dreckig, langweilig, konfus und grausam Krieg ist. Jeder Heroismus hätte sich verflüchtigt.

Das Militär-Erlebnis ist eine erniedrigende, autoritäre, angsteinflößende, harte und brutale Erfahrung, sogar im Frieden. Den Soldaten wird als Lösung Ich-Vergrößerung durch Selbst-Verleugnung angeboten, sie sollen namenlose Bolzen und Räder in einer gut geölten Maschinerie werden und auf diese überwältigende Maschine und ihre Selbstaufopferung für sie stolz sein. Der terminus technicus dafür ist „Identifikation mit dem Aggressor”. Je mehr Qualen sie ohne zu klagen aushalten können, umso größer werden sie in ihrem Dienst für das Große & Ganze. Nach außen wird eine Fassade von stolzer Männlichkeit aufgebaut, die auch den einzelnen Soldaten schützt, besonders in Gesellschaft seiner „Kameraden”. Im Inneren wird der Soldat zu einem Nichts gedemütigt, nach außen darf er sich als starker und harter Mann präsentieren. Das Geheimnis des Preises, den er als Selbst-Verlust zahlt, bricht manchmal in nächtlichen Alpträumen durch.8 Bei Tageslicht können Soldaten gewöhnlich ihre Erniedrigung nicht zugeben, sie können auch den Hass nicht zugeben, den sie auf die Offiziere haben, die sie schinden. Es ist nicht leicht zuzugeben, sich selbst wie anderen, dass man drangekriegt wurde. Man schämt sich dafür. Man trifft sehr wenig Soldaten, die zugeben, dass der Staat ihnen einen nicht unbedeutenden Teil ihrer Jugend gestohlen und dass derselbe Staat, dessen demokratischer Souverän sie sind, sie einem autoritären Degradierungs- und Demütigungs-Ritual unterzogen hat. Lieber machen sie daraus eine Erinnerung an die großartige Erfahrung der Kameradschaft und an die durchgedrehten Situationen von kollektiven Heldenmut (der sie im Ernstfall in unkontrollierte Wut und damit in höchst gefährliche Lagen – für sich selbst und für andere – bringen kann). Sie verdrehen die Erinnerung lieber in Patriotismus, patriarchale Männlichkeit und eine harte, aber abenteuerliche Phase ihres Lebens. Niemand widerlegt sie: Die das könnten, haben selbst ein Interesse an der Fassade, und andere, besonders ihre weiblichen Begleiterinnen, wissen es nicht und dürfen das Geheimnis nie erfahren. Autoritäre Männlichkeit lebt weiter.

Fortlaufende Übertragungen aus der Alltags-Banalität des Soldatenlebens hätten eine Menge dazu tun können, diese Fassade abzubauen. Wir alle, die wir kein Interesse an der Heroismus-Show haben, hätten die endlose Langeweile und die kurzen Momente von Panik und Grausamkeit sehen können, aus denen das Leben „da draußen” besteht. Keine Hollywood Heldentaten, nur Staub, Schmerz und Erniedrigung. Das hätte eine Menge dazu tun können, alle Möglichkeiten der Glorifizierung von Krieg und Kriegsteilnahme auf lange Zeit zu blockieren.

Daher war es nur logisch, dass die „eingebetteten” Reporter zensiert werden mussten. Vor allem wird ihre Selbst-Zensur gut funktioniert haben, denn entweder werden sie in dieser Situation auch in das Kameradschafts-System „eingebettet” und müssen daher das elende Geheimnis der Soldaten-Männlichkeit teilen und bewahren, oder sie werden zu Außenseitern – und daher wenig Information bekommen, vor allem aber „da draußen” ziemlich einsam sein.

V: Saving Private Lynch

Reality TV verändert sich in der Perspektive von Leuten, die dabei ihre Freunde, Männer, Frauen, Söhne und Töchter auf der Mattscheibe erkennen wollen. Leute in Amerika und England haben das Kriegs-Reality TV dazu benützt, um Informationen über ihre Angehörigen zu bekommen. Dementsprechend benützt das Militär dieses Medium, um seine fürsorgliche Haltung jedem einzelnen Soldaten gegenüber herauszustreichen. Wir holen sie alle heraus, keiner wird zurückgelassen.

Alle kennen das Drama von Spielbergs „Saving Private Ryan”. Durch einen glücklichen Zufall konnte es neu aufgelegt werden. Am 23. März, der Krieg war erst ein paar Tage alt, nahm ein Konvoy der 507th Maintenance Company „eine falsche Abzweigung von der Schnellstraße” (wie in allen Berichten betont wird) und wurde in der Nähe von Nasirija überfallen. Danach war das Schicksal mehrerer Soldaten unklar, darunter das von Private Jessica Lynch, 19, aus Palestine, West Virginia. Eltern und Nachbarn, das ganze Örtchen Palestine, die alle auf Nachrichten über die hübsche junge Frau warteten, für sie hofften, sich um sie sorgten, das war großartiges Material für das US Fernsehen. Im Gegensatz zu anderen Dramen dieser Art, die in Trauer und Depression endeten, nahm dieses eine glückliche Wendung: Am 1. April stürmte ein Spezial-Kommando ein Irakisches Spital und befreite dort mehrere Kriegsgefangene, darunter Private Lynch. Sie war verwundet, aber am Leben, und sie war sicher ihren Feinden aufrecht gegenübergetreten, wie eine echte amerikanische Soldatin (und nicht jämmerlich, wie andere Gefangene, die das Irakische Fernsehen vorgeführt hatte). Auch Eltern und Nachbarn waren überglücklich. Private Jessica Lynch war dafür prädestiniert, eine amerikanische Ikone dieses Kriegs zu werden.

Diese Geschichte wurde uns nicht vom Kriegs-Reality TV der „eingebetteten Reporter” präsentiert. Sie beruht auf einem Stoff, der einer Hollywood-Inszenierung entspricht. Sie konnte mit viel Glück und sehr wenigen Bildern, die meisten nichts Dramatischeres als Private Lynch auf einer Tragbahre, nachgestellt werden. Falls jemand einen Beweis gebraucht hat, diese Kriegsepisode führt ihn: Wir brauchen eine gute Geschichte, um aus der Realität einen erträglichen Anblick zu machen.

In den USA hatte das Kriegs-Reality TV einen ganz anderen Charakter als in Europa. Dort haben Eltern, Freunde und Nachbarn in einigem Detail die Hässlichkeit dessen zu sehen bekommen, was ihre Söhne und Töchter, Freunde und Nachbarn „dort draußen” tun und aushalten mussten. Mit ein wenig Glück sieht man die eigene Tochter rennen oder hinter ihrer Waffe auf dem Bauch liegen. Mit ein wenig Pech könnte man den eigenen Sohn sterben sehen. Es ist ein Teil dessen, worum es bei Proli-TV immer geht: Man ist „im Fernsehen” und wird von Freunden und Nachbarn gesehen. Nur ist es diesmal nicht ganz so spielerisch. Es kann sogar ziemlich ernsthaft werden. Die „eingebetteten Journalisten” haben den Leuten in den USA eine neue Dimension von Krieg eröffnet: Die Angehörigen warten nicht mehr und hoffen, dass es keine Nachrichten gibt, sondern sie können selbst zusehen und in den Bildern nach „ihren” Soldaten suchen. Nur: Die Söhne und Töchter winken nicht fröhlich in die Kamera mit einem Gruß an Ma in Palestine, W.Va. Der Krieg kommt in einer ganz neuen Weise nach Middle America.

Anmerkungen

* Dieser Aufsatz ist Teil VIII der Reihe „Analysen zur globalisierten Kulturindustrie“, die in der österreichischen Zeitschrift wespennest erscheint. Kathy Laster (Melbourne) und Heinz Steinert (Wien/Frankfurt) analysieren darin regelmäßig Kulturindustrie-Ereignisse, die auf beiden Seiten des Globus wahrgenommen werden.Zurück zur Textstelle

  1. Der Spanner, neudeutsch Stalker, ist kein Gegenbeweis. Wohl wahr, er kann sich daran erregen, dass er einer Wirklichkeit zusieht, die er nicht sehen soll. Aber diese Erregung begründet sich nicht so sehr aus dem, was er sieht (gewöhnlich eine unterschiedlich unbekleidete Frau – das könnte er in dieser Kultur leichter haben), als aus der Machtposition, dass er sieht, ohne gesehen zu werden. Zurück zur Textstelle
  2. In Österreich ist das international wirksamste wahrscheinlich das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker (und das Musical „Sound of Music”). Vgl. Laster und Steinert, 2001, New Year’s Sound of Music, Wespennest 122.Zurück zur Textstelle
  3. Das alles ist natürlich längst auch vom Fernsehen übernommen, inklusive der verschiedenen päpstlichen Segnungen.Zurück zur Textstelle
  4. Die Idee stammt offensichtlich von dem berühmten Zimbardo-Experiment (an der Stanford University in den 70ern – heute würde ein solches Experiment von der Ethik-Kommission verhindert werden), in dem ein simuliertes Gefängnis bei den Rollenspielern völlig unsimulierten, „wirklichen” Sadismus hervorbrachte. Nicht lang nach „Big Brother” erschien der deutsche Film „Das Experiment” (2001), nach einem Roman von Mario Giordano, in dem das Zimbardo-Experiment als Doku-Drama vorgeführt wird, mit Dr. Frankenstein, einem anti-autoritären Helden und einer Liebes-Geschichte angereichert. Offensichtlich ist auch die Verwandtschaft mit dem berühmten Milgram-Experiment. Stanley Milgram ist in diesem Zusammenhang interessant, weil er nicht nur als Professor für Sozialpsychologie, sondern auch als Filmregisseur arbeitete. Experimente dieser Art können wahrscheinlich nur von Psychologen erfunden werden, die eine Neigung zum Theatralischen haben und dazu, in ihren Versuchsanordnungen den Regisseur (also Gott) zu spielen.Zurück zur Textstelle
  5. Die Quiz Shows, ein weiteres Format, das in letzter Zeit blüht und auf der ganzen Welt imitiert wird, passen glänzend zu dieser Haltung, sind aber ansonsten ein Phänomen, das scharf von den Langeweile-Shows zu unterscheiden ist. Zurück zur Textstelle
  6. Der Verlust einer ganzen Generation von Intellektuellen im Ersten Weltkrieg war eine Anomalie, hervorgebracht von der ungewöhnlichen Kriegsbegeisterung auch der jungen Gebildeten und von dem hohen Risiko, in der – relativ unerfahrenen, aber exponierten – Leutnants-Position im Grabenkrieg umzukommen.Zurück zur Textstelle
  7. Im New Yorker, March 24, 2003, berichtet ein Journalist aus der Vorbereitung für die „Einbettung” die folgende Ansprache des Offiziers: „Wir wollen Sie dabei haben, damit sie das Gas und das andere Zeug in Saddams Arsenal dokumentieren. Wenn er das tatsächlich hat oder es, was Gott verhüten möge, einsetzt, wird die Welt der US Army nicht glauben. Aber sie werden Ihnen glauben.” (S. 31) Er beginnt sich, wie er sagt, zu fühlen „wie eine Labor-Ratte, die großartige chemische Experimente vor sich hat”. Er hat es vorgezogen, sich lieber nicht „einbetten” zu lassen.Zurück zur Textstelle
  8. In den USA ist der Vietnam-Veterane für seine Anfälligkeit für dieses Syndrom bekannt geworden, auch in Filmen, von „Rambo I” bis „Deer Hunter”. Aber das Syndrom ist universell: Ich erinnere mich gut an die nächtlichen Hilferufe meines Vaters aus dem Schlaf heraus, nachdem er aus Jahren von Krieg und Kriegsgefangenschaft in Russland zurückgekommen war. Ich habe ihn erst während meines eigenen Militärdienstes, harmlos wie er beim Österreichischen Bundesheer in den 60er Jahren war, verstehen gelernt.Zurück zur Textstelle
© links-netz Juni 2003