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Höhere Gewalt und anderes Unglück

Über den politischen Nutzen von Naturkatastrophen

Kathy Laster und Heinz Steinert*

Herkömmlich waren Naturkatastrophen eine beliebte Biblische Strafe. Gottes Zorn über die sündige Menschheit äußerte sich regelmäßig in ihnen. In einem besonderen Fall wurde damit sogar Pharao in die Knie gezwungen. Dieser Tage sind sie säkulare Ereignisse und verschaffen Politikern unverdiente Vorteile. Die großen mitteleuropäischen Überschwemmungen des Sommers 2002 haben zwei Regierungen gerettet: den fast schon abgeschriebenen Schüssel in Österreich im November und den ziemlich gefährdeten Schröder einen Monat davor in Deutschland. (Die tschechischen Wahlen hatten schon vor dem Sommer stattgefunden.)

Zur selben Zeit begannen in Australien, wie alle Jahre, die Waldbrände. Besondere Medien-Aufmerksamkeit fand es, dass diesmal die Rauchwolken von Sydney aus gut gesehen werden konnten und dass Vororte und Außenposten der Stadt bedroht waren. Die konservative Regierung Australiens war schon ein Jahr davor durch ein Katastrophen-Äquivalent vor der (allgemein erwarteten) Abwahl gerettet worden: die Teilnahme am Afghanistan-Krieg.

Politik ist heute im Grundsatz populistisch. Die Suche nach der Mobilisierung von großen Zahlen ersetzt (und verbirgt) hergebrachte Interessenpolitik. Alle Parteien sind tendenziell Volksparteien: Sie organisieren nach Köpfen statt nach Interessen. Daher müssen die wenigen Themen benützt werden, die sich zu solch übergreifender Mobilisierung eignen: Krisen, Ängste und Bedrohungen. (Die klassische „populistische Situation” ist die Mobilisierung der ganzen Nation gegen den Feind zu Beginn eines Krieges.) Daher haben wir uns daran gewöhnt, dass von den Regierenden selbst die verschiedenen Krisen ausgerufen werden: die Krise der Sozialversicherung und des Pensions-Systems, die Drohung der Masseneinwanderung oder die Katastrophen des Terrorismus und der Kriminalität. Und dass wir besonders in Vorwahlzeiten mit diesen Ängsten auf Trab gebracht werden – um sofort wieder mit der Aufzählung der energischen und klugen Taten der Regierung (in der Vergangenheit) und der Opposition (in der Zukunft) beruhigt zu werden. Manchmal aber haben die Politiker besonderes Glück: Wenn die Natur zuschlägt, bekommen sie den Notstand gratis geliefert und können die sonst nötigen komplizierteren Manöver einsparen.

Naturkatastrophen als populistische Situationen

Die Aufwallungen von Mitleid und Hilfsbereitschaft, die von Naturkatastrophen ausgelöst werden, machen eine ideale „populistische Situation” aus. Sie ist fast noch besser als der Beginn eines Krieges, der aus verschiedenen Gründen Opposition auslösen kann.

Der tschechische Präsident Václav Havel wird angesichts der Flut in Prag von Erinnerungen an 1968 heimgesucht: „In diesen Tagen kann ich nicht anders als an die Atmosphäre nach der sowjetischen Invasion im August 1968 denken. Es gibt einfach Momente, da unsere Gemeinschaft, einer großen Gefahr ausgesetzt, sich fest zusammenschließt und dieser Gefahr in einer bewundernswerten Weise widersteht. Eine solche Zeit erleben wir jetzt wieder.“ (Havel, Die Katastrophe in Tschechien, in: Wolfgang Kenntemich (Hg) Die Jahrhundertflut: Das offizielle ARD-Buch zur Flutkatastrophe. München: Bertelsmann. 2002: 23-25.)

Nachdem die Organisationen zum Einsatz im Katastrophenfall militärisch-hierarchisch organisiert sind, ist auch die Gelegenheit für die Profilierung von effizienten und besonnenen Oberkommandierenden ausreichend gegeben. Der New Yorker Bürgermeister Giuliani, Mann des Jahres 2001, ist nur der vorläufig letzte in einer langen Reihe solcher Helden, in der in Deutschland Helmut Schmidt (für sein Management der Hamburger Sturmflut von 1962) und nun Gerhard Schröder stehen. Naturkatastrophen verlangen effizientes Krisenmanagement – und sie ermöglichen seine wirksame öffentliche Darstellung – ohne (zunächst) die lästigen Fragen nach Schuld und Verantwortung. Schließlich beruht die Krise auf „höherer Gewalt” und nicht auf dem Tun und Lassen von (inkompetenten) Menschen.

Solche Ereignisse stehen auch jenseits des kleinlichen Gezerres von Interessenpolitik. Die politische Opposition ist neutralisiert. Kritik an den Rettern und Helfern wäre schäbig und bösartig. Für einige Zeit wird die Opposition zum „Schulterschluss” mit der Regierung genötigt, die mit der Krise fertig werden muss. Die Erinnerung an alte Zeiten wird geweckt, in denen der Herrscher und seine Regierung in solchen Situationen Macht und Großzügigkeit zeigen konnten, indem sie den Betroffenen Geld und Trost spendeten. Die Gemeinschaft und ihr Ethos dominieren in dieser Situation von selbst und ohne Anstrengung. Die Not der Opfer ist allen nachvollziehbar. Dass ihr schnell und großzügig abgeholfen werden muss, kann niemand bezweifeln. (Ein Einwand wie: „Da haben zwar manche ihre Häuser beschädigt bekommen, die sie zu nahe an den Fluss gebaut haben, aber es gibt auch Leute, die gar keine feste Bleibe haben”, geht einfach unter. Ein paar Monate später sieht das – mit den Einwänden wie mit der Wirklichkeit der Hilfe – schon wieder anders aus.)

Politiker haben es leicht, den Gewinn aus Naturkatastrophen einzustreichen, wenn sie sich an ein paar einfache Regeln halten. Grundsätzlich müssen sie gut mit ihren Kulturindustrie-Außenposten, den Medien und ihren Journalisten, zusammenarbeiten.

Bilder der Katastrophe

Katastrophen-Berichterstattung ist ein gut eingeführtes Genre, das unter keinerlei Originalitätsdruck steht. Kommentar wie Ikonographie der Szenen der Zerstörung sind dem Publikum gut bekannt, das sich umgekehrt auf die erwartbaren Bilder verlassen kann. Die Berichte über das Hochwasser in Europa unterscheiden sich in ihrer Technik kaum von denen über die (vergleichsweise harmlosen) Waldbrände um Sydney, Australien, ein paar Monate später.

Die Logistik der Fernseh-Berichterstattung ist in Planung, Ausrüstung und Organisation fast so aufwendig wie die der Rettungsaktionen selbst. Die Hubschrauber-Aufnahmen von dem Gebiet, das unter Wasser steht, sind hier genauso zwingender Bestandteil wie dort die von wolkigen Rauchfahnen über Wäldern, aus denen Flammen schlagen, oder von durch Regenmangel ausgedörrten Landstrichen. Dann gibt es verlässlich die Nahaufnahmen der Zerstörungen, die von reißenden Wassermassen, stürzenden brennenden Bäumen oder Geröll-Lawinen und Sturmböen verursacht werden: abgetragene Dächer, untergegangene Autos, zerdrückte Häuser, unterwaschene und weggeschwemmte Straßen und Bahntrassen.

Die Aufnahmen zeigen natürlich die Opfer: besonders die, die von der Katastrophe überrascht wurden und von Dächern und Bäumen oder aus hoch gelegenen Fenstern per Boot, Leiter oder sogar Helikopter gerettet werden müssen – und die, die jetzt in Behelfsunterkünften, sogar in Zeltlagern leben und damit an Flüchtlinge denken lassen, die (zum Glück nur vorübergehend) alles verloren haben. Von den genannten Situationen abgesehen werden die Rettungsmannschaften kaum in Aktion gezeigt. Häufiger äußern sie vor dem Mikrofon ihre fachmännischen Ansichten und Vorausschätzungen oder sie werden interviewt, um sie als Helden herauszustellen. Ihre Uniformen, ihre Fahrzeuge und Maschinen, ihre nassen oder rußgeschwärzten Gesichter sind hervorragende Foto-Motive.

Im weiteren Verlauf der Ereignisse bekommen wir Bilder von den Zuständen am „Tag danach”: Schlamm im Keller, das nasse Sofa und der ruinierte Computer auf dem Gehsteig, die versengten und verwaisten Wildtiere, die besorgten Ingenieure, die den Schaden aufnehmen und die Nässe in der Wand messen, die verzweifelten Bewohner beim Besichtigen der unbrauchbaren Wohnung. Es handelt sich um eine hochgeschätzte spezifische Form von Reality-TV. Sie ist so erfolgreich durch eine Dramaturgie, die in vorgegebenen Schritten abläuft, aber immer wieder Spannungselemente bietet und jedenfalls zu einem vorläufig zufriedenstellenden Ende (der unmittelbaren Bedrohung) führt. Dazu geschieht das alles in einer nicht ganz kurzen Zeit, dauert aber gewöhnlich auch nicht so lange, dass „Katastrophen-Müdigkeit” einsetzen könnte.

Entscheidend ist es, die Mannschaft mit der Kamera möglichst früh auf der Szene zu haben. Davor können kurze Nachrichten über das Geschehen schon die Routine unterbrechen. Ihr kühler Ton, der auf unterdrückte Dramatik verweist, kündigt spätere Aktualisierungen und genauere Einzelheiten an, „sowie sie verfügbar werden”. Damit wird es zu einem eigenen Teil der Geschichte, wie sich das Reporter-Team geschickt und unerschrocken zum Ort des Geschehens durchschlägt. Ernst blickende Journalisten (die kaum verbergen können, wie stolz sie darauf sind dabeizusein) berichten über das, was sie alles (noch) nicht wissen. „Unser Mann / unsere Frau in X” ist eine Berühmtheit auf Zeit und wird vom Studio aus interviewt. Dir richtige Antwort auf die besorgte Frage: „Wo sind Sie? Was können Sie sehen?” scheint eine ausführliche Schilderung der Bewegungen zu sein, die in das „betroffene Gebiet” hinein (Rettungsmannschaften) und aus ihm heraus (Bewohner) stattfinden.

Die Lücken und Pausen der Reportage werden durch Hintergrundsinformation quantitativer Art gefüllt, nach der unermüdlich gesucht wird: der „normale” Wasserstand zu dieser Zeit, Schätzungen seiner derzeitigen Höhe, Vermutungen über die Höhe, die er in den nächsten Stunden erreichen könnte, Vorhersagen über den wahrscheinlichen Schaden und wilde Annahmen über die Zahl der Leute, die eingeschlossen, verletzt oder womöglich umgekommen sein könnten (oder die atemlose Versicherung, es sei niemand zu Schaden gekommen – noch nicht). Auch harte Fakten gibt es zu berichten: die Größe des betroffenen Gebiets, die Geschwindigkeit, mit der sich das Feuer ausbreitet, die Zahl der Stunden und Tage, die es nun schon regnet, die Regenmenge (Liter pro Quadrat-Dezimeter) und – eine sehr interessante Maßzahl – die Zahl der Jahre, seit zuletzt solche Werte festgestellt wurden. Hundert Jahre ist etwas Besonderes, aber auch andere Zeiträume sind brauchbar: Jahrzehnte ist gut, acht, vier oder zwei Jahre tun es auch. In Kombination mit dem Gebiet kann das Ereignis als das schlimmste in Europa, Mitteleuropa, Österreich oder der Region seit hundert, zehn, fünf oder zwei Jahren, wie es eben passt, beschrieben werden.

Am packendsten ist aber immer die „menschliche” Geschichte: die Erzählung von den ganz gewöhnlichen Leuten, die plötzlich und unvermutet Opfer der Katastrophe wurden. Leute „wie du und ich”, das sind die besten Opfer, Leute, die ein ganz normales Leben hatten und weiter gehabt hätten, wäre da nicht dieses Ereignis eingetreten. Diese „idealen Opfer” sind nicht besonders benachteiligt, keine Versager, auch nicht unvernünftig oder ohne alle Vorsorge für die Zukunft. Sie wissen außerdem (als geübte Zuschauer) über die Medien und ihre Bedürfnisse Bescheid und können daher die angemessenen Gefühlslagen darstellen und in knappen Hinweisen Auskunft über relevante Aspekte ihres Lebens geben. Etwa die arbeitsame Witwe eines Bauern, der letztes Jahr gestorben ist: Es war schon schwer genug durchzukommen, und jetzt auch noch das ... Wer kann sich da noch zurückhalten, unter der entsprechenden Telefon-Nummer der Fernseh-Katastrophenhilfe mit der sensationellen Einschaltquote eine Spende von 500 Euro zuzusagen?

Das Studio wird zur Steuerungs-Zentrale, zum Nervenzentrum, wo offizielle und inoffizielle Nachrichten zusammenlaufen und gesammelt werden. Dort werden auch die fehlenden Informationen gesammelt, die Dinge, die man nicht wissen kann: ob die Dämme halten werden, ob der Regen aufhören wird, im Fall des Waldbrands, ob der Wind sich drehen wird und wie sich Lufttemperatur und -feuchtigkeit entwickeln werden. Im Lagezentrum werden die Daten und Gerüchte verglichen, zu denen auch das Material gehört, das von Reportern vor Ort, aber auch aus den Büros verschiedener „Zuständiger”, nicht zuletzt des obersten Zuständigen, des Regierungschefs, zugeliefert wird.

Anders als die zuständigen Experten ist der zuständige Politiker nicht mit technischen Details, sondern mit Verantwortung beschäftigt: Er führt vor, wie entschlossen die notwendigen Maßnahmen angepackt werden, vor allem aber, wie groß die Solidarität aller, besonders auch der Zuschauer, mit den Opfern ist. Professionelle Politiker achten genau auf die Kleidungsvorschriften für solche Gelegenheiten: Gummistiefel machen sich gut, eventuell auch ein Helm. Sie schütteln die Hände von Beamten, Feuerwehrleuten und ausgewählten Opfern und ihren Familienangehörigen. Auch gelegentliche Umarmungen sind nicht ausgeschlossen. Am schwierigsten ist die richtige Mischung von tiefem Mitgefühl und unerschütterter Entschlossenheit zu treffen. (Giulianis Erfolgsgeheimnis) Gelingt sie nicht, wird daraus entweder Herablassung oder Schwäche. (Bush Jr. auf „ground zero” mit dem Arm um die Schultern des heldenhaften Feuerwehrmanns)

In dieser perfekten „populistischen Situation” wird die Beziehung zwischen Politikern und Journalisten betont positiv und eine der gegenseitigen Unterstützung. Für kurze Zeit stellen sich die Medien, sonst auf Skandal, Kontroversen und Kritik aus und das üblicherweise zu Lasten der Regierung, machtvoll auf deren Seite. Für einen Politiker ist die Gelegenheit unbezahlbar, dass er einmal beim Agieren statt beim Reden gesehen und gezeigt werden kann. Die Medien tun ihm gern den Gefallen. Beider Wünsche nach einem möglichst großen Publikum können sich einmal gleichsinnig treffen: Beachtung, Achtung und Wählerstimmen einerseits, Einschaltquoten andererseits. Dementsprechend steht den Politikern fast unbegrenzt Sendezeit zur Verfügung, besonders natürlich den Mitgliedern der Regierung. Aber selbst Lokalpolitiker, die sonst in national nicht beachteten Bezirken ihre Zeit abdienen, bekommen ihre fünfzehn Minuten Prominenz. Die Zusammenarbeit wird explizit gemacht in den Spendensammel-Programmen der Medien, mit denen sie sich an die Spitze der sonst politischen Bemühungen um Gemeinschaft und Gemeinsamkeit stellen.

Unvorhersehbare Katastrophen größeren Ausmaßes können für vorteilhafte politische Zwecke genutzt werden. Es gibt aber Weltgegenden, in denen Naturkatastrophen regelmäßig geschehen und zur „Routine” werden. Auch in diesem Fall kann mit ihnen populistische Politik gemacht werden, anders, aber nicht weniger wirksam.

Die „Frontier”-Gesellschaft und ihre nationalistischen Katastrophen

In Gesellschaften, die sich am Rand der zivilisierten Welt erst bilden, ist das Ziel der Landnahme – gegen die „wilden“ Eingeborenen und gegen die „wilde“ Natur – Hintergrund und Begründung für die Formen von sozialer Organisation und politischer Herrschaft, die entstehen. Es ist vielleicht nicht überraschend, dass Nationalismus und seine Identitätspolitik sich immer noch mit diesen beiden Gefährdungen begründen.

In den frühen Jahren der europäischen Landnahme war das Leben in Australien hart. Die frühen Siedler waren „Kämpfer“ („battlers“). Ihre Leistungen sind in die Geschichtsbücher und noch mehr in die Australische Folklore eingegangen. Sie waren die Helden, die in dieser feindlichen Umwelt eine neue Nation aufgebaut haben. Die grimmige Einsicht, dass man in diesem Land nie ungefährdet leben würde, war nicht leicht zu akzeptieren. Dann aber wurde diese Dauer-Herausforderung durch eine unbeherrschbare Natur idealisiert. Alle Australischen Volksschulkinder lernen das Lied „My Country“ nach einem Gedicht von Dorothea Mackellar (1885-1968) auswendig. Sein Schlüssel-Vers ist die Zeile „I Love a Sunburnt Country“. Seine nationalistische Grundstimmung gibt die ambivalente Hochachtung für ein Land wieder, das in dauernder Auseinandersetzung mit den Elementen steht.

...

I love a sunburnt country,
A land of sweeping plains,
Of ragged mountain ranges,
Of droughts and flooding rains.
I love her far horizons,
I love her jewel-sea,
Her beauty and her terror -
The wide brown land for me!

...

Die Australische Gesellschaft organisiert sich rund um die Reaktion auf Naturkatastrophen und Notfälle aller Art. Der Australische Nationalismus hat zwei Fluchtpunkte: das Fiasko der tapferen und blutigen Niederlage unter britischem Kommando am Strand von Gallipoli (in der Türkei) im Ersten Weltkrieg; und die Solidarität, die man braucht, um mit regelmäßigen Naturkatastrophen fertig zu werden. (Langsam wird sogar akzeptiert, dass manche von ihnen notwendig sind: Es gibt einheimische Pflanzen, deren Samen ohne Waldbrand nicht austreiben.) Der gesellschaftliche Zusammenhalt begründet sich noch immer mit der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung in den unvermeidlichen Katastrophen. Die Notwendigkeit, sich diszipliniert einzureihen, wird plausibel im Bild der Kette, in der die Wassereimer weitergereicht werden, um das Haus vor dem Waldbrand zu retten.

Junge Leute werden Mitglieder in den „Surf Life Saving Clubs“, die es überall entlang der Küste gibt, um Schwimmer vor dem Ertrinken zu retten (und seltener als es die Folklore will vor einem Hai zu warnen). Auf dem Land sind alle Männer Mitglieder der freiwilligen „Country Fire Authority“. Neben Sportklubs sind diese Organisationen das wichtigste soziale Netzwerk auf dem Land. Sie ziehen aber auch Mitglieder (und Zuwendungen) aus den Städten an. Selbst das Persönlichkeitsideal von stoischer Unaufgeregtheit und zupackendem Pragmatismus leitet sich von den Fähigkeiten ab, mit denen man sinnvollerweise regelmäßigen Katastrophen begegnet. Der frühe Start und die technischen Erfolge der Australischen Flugzeugindustrie waren bedingt durch das Dauerproblem, dass immer wieder Gegenden durch „Dürre und Regenfluten“ auf beträchtliche Zeit von allen Verbindungen abgeschnitten wurden. Die „Tyrannei der Distanz“ förderte die Entstehung des „Flying Doctor Service“. Die „Civil Aviation Authority“ und die „State Emergency Services“ sind machtvolle Einrichtungen mit einem festen Platz im nationalen Selbstverständnis.

Die ganze Nation ist auf Rettungs-Aktionen eingestellt. Auf gelassene Art ist das Land in einem ständigen Alarmzustand. Jede Regierung wird daher als Minimum daran gemessen, dass sie auf die (regelmäßigen) „Angriffe“ der Natur schnell und wirksam reagieren kann. (Die Bomben auf Bali im November 2002, von denen über 300 Australische Urlauber getötet wurden, waren das erste Beispiel einer „unnatürlichen“ Katastrophe dieses Ausmaßes, mit der diese Gesellschaft fertig werden musste. Was die langdauernde Allgegenwart von „kriegerischen“ im Gegensatz zu „natürlichen“ Katastrophen für populistische und Identitätspolitik bedeuten, müsste in Israel und Palästina und anderen Teilen des Nahen Ostens studiert werden.)

Insgesamt verhindert die Erwartbarkeit der Katastrophen den politischen Nutzen, den europäische Politiker von den ungewohnten Überschwemmungen hatten. Die Schwelle für politischen Erfolg im Bewältigen des Unglücks ist höher. Es ist selbstverständlich vorausgesetzt, dass ein Politiker angemessen mit der regelmäßig auftretenden Notwendigkeit umgehen kann, die Opfer von Flut, Dürre und Feuer (gelegentlich auch von Wirbelsturm und Erdrutsch) zu retten. Ebenso muss eine Regierung die finanziellen Mittel dafür bereitstellen können. (Ein wenig Raum für Notfall-Finanzierung ad hoc gibt es nur durch das föderale System, in dem nationale und lokale Budgets verschieden gegeneinander ausgespielt werden können.) Das alles gehört zum Minimalstandard dessen, was Politik können muss. Ein herausragender Erfolg ist damit nicht möglich, höchstens Versagen. Der Gewinn daraus ist indirekt: Die Gefahren der Natur sind Hintergrund von Nationalismus, der seinerseits Populismus in der Politik stützt.

Die Katastrophe von ländlicher Politik

Im großen und ganzen treffen Naturkatastrophen das Land, nicht die Stadt. Von dieser Verletzlichkeit durch die Zufälle der Natur ist ländliches Bewusstsein – und die politische Macht des Landes geprägt. Ländliche Politik ist Interessenpolitik verbrämt durch Nationalismus („unsere Bauern“, „unsere Landwirtschaft“, „unsere Traditionen“, „unsere einmalig schöne Landschaft“, „unser Nationalcharakter“). Zum geeigneten Zeitpunkt übersetzt sich ländliche Interessenpolitik mühelos in Populismus. Die Erhaltung der angeblich besonderen nationalen Eigenschaften, die immer ländliche Eigenschaften sind, wird der ganzen Nation auferlegt. „Unsere Lebensweise“, zu der es in Australien gehört, stoisch mit den Härten der Natur fertig zu werden, wird als zugleich solid und höchst gefährdet dargestellt. Ihre angeblichen Besonderheiten sind das „Heilmittel“ für die Übel, von der die Großstadt geplagt wird. Den städtischen Katastrophen von Drogen, Kriminalität, Auflösung von Familie und Gemeinschaft, neuerdings auch Radikalismus und Terrorismus, wird die ländliche Idylle von Sicherheit, Frieden, Reinheit und guten, alten Werten, voran Familie und Nachbarschaft, gegenübergestellt. In vielen Ländern gilt „das Land“ als der „homogene“, nicht von Einwanderung durcheinandergebrachte Teil der Gesellschaft – frei von den ethnischen, Religions- und sonstigen Kultur-Konflikten, die als so zerstörerisch verteufelt und in den Städten beheimatet gesehen werden. Dass diese Behauptungen und Mythen samt und sonders empirisch falsch sind (zum Beispiel ist das Land, nicht die Stadt, der Ort, wo sich Gewalttätigkeit häuft), ist für diese Politik nicht wichtig. Die Rhetorik vom heilen Landleben und konservative Zielsetzungen verbinden sich in populistisch-nationalistischer Politik.

Auf diese Weise gewinnt in der Demokratie die verschwindende ländliche Minderheit unproportionales politisches Gewicht. („Australia rides on the sheep’s back.“) Die ländliche Haltung breitet sich bis weit in die Städte hinein aus. In Österreich zeigt sich das in der Polarisierung zwischen „den Bundesländern“ und der Großstadt Wien. Die letzte Wahl hat Schüssel in „den Bundesländern“ gewonnen. Ein analoges Phänomen bestimmt schon lange die Wahlausgänge in Australien. Die „National Party“, Teil der Regierungskoalition, hat früher viel passender „The Country Party“ geheißen. Der Premierminister diskreditiert seine Kritiker, indem er sie „Eliten“ und die „schwätzenden Klassen von Sydney und Melbourne“ („chattering classes“) nennt. „Echte Australier“ hingegen verstünden die Notwendigkeit von energischen Maßnahmen gegen Asylsucher und „Sozialschmarotzer“ und die einer klaren Zurückweisung von übertriebenen ökologischen Forderungen und ausufernden Rechten der Aborigines. Populistische Politik ist unter der nationalistischen Decke ländliche Interessenpolitik gegen die multi-kulturellen Großstädter.

Dabei sind die Städte selbst gewiss nicht frei von den ländlichen Haltungen der Angst vor Fremdem und Fremden – schließlich werden sie zu einem nicht geringen Anteil von Leuten bewohnt, die selbst oder deren Vorfahren vom Land zugezogen sind. Mit Winter- und Sommer-Urlaub und Wochenend-Haus ist das zu Erlebnis-Landschaft und Spielwiese denaturierte „Land“ regelmäßige Erfahrung.

Die internationalen Naturkatastrophen, an denen wir medial teilnehmen, verstärken uns immer wieder das Bild von „höherer Gewalt“ und der Gemeinschaftlichkeit, mit der man ihr standhalten muss. Die populistische Politik benützt und unterstützt das alles dankbar. Höhere Gewalt ist ein wahres Glück.

Anmerkung

* Dieser Aufsatz ist Teil VII der Reihe „Analysen zur globalisierten Kulturindustrie“, die in der österreichischen Zeitschrift wespennest erscheint. Kathy Laster (Melbourne) und Heinz Steinert (Wien/Frankfurt) analysieren darin regelmäßig Phänomene der Kulturindustrie von beiden Enden des Globus, aus wechselseitig antipodischer Sicht.Zurück zur Textstelle

© links-netz März 2003