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Mutationen des Gendiskurses: der genetische Determinismus nach dem Humangenomprojekt*

Thomas Lemke

“Noch nie bildete Unstimmigkeit oder Dysfunktionalität das Anzeichen des herannahenden Todes einer Gesellschaftsmaschine, die im Gegenteil darin Übung besitzt, sich aus alldem zu nähren: den Widersprüchen, die sie hervorbringt, den Krisen, die sie anstiftet, den Ängsten, die sie erzeugt [...]” (Deleuze/Guattari 1977, S. 193).

Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint ein alter Menschheitstraum in Erfüllung zu gehen: der Traum von der “Lesbarkeit der Welt” (Blumenberg 1981). Die wissenschaftlichen Erfolge der Molekularbiologie und Genomforschung führten dazu, dass die Vorstellung der DNA als “Buch des Lebens” in den vergangenen Jahren neuen Auftrieb erhielt. Insbesondere durch die Forschungsanstrengungen zur “Entzifferung” des menschlichen Genoms im Rahmen des Humangenomprojekts (künftig: HGP) verbreitete sich der Glaube, dass es die Gene seien, die uns zu dem machen, was wir sind. Dem HGP lag die Hypothese zugrunde, dass unsere gesamte Existenz von einem “genetischen Programm” gesteuert bzw. determiniert werde. Das Forschungsinteresse richtete sich daher auf die Identifikation von Genen, die mit dem Auftreten von Krankheitsveranlagungen, Verhaltensmerkmalen, Intelligenzleistungen, sexuellen Präferenzen etc. korrelieren.

Diese Annahme eines genetischen Determinismus bestimmt bis heute die wissenschaftlichen Diskussionen und die öffentlichen Auseinandersetzungen um die sozialen Folgen des HGPs. Dabei finden sich völlig unterschiedliche, häufig konträre Einschätzungen der Bedeutung genetischer Faktoren. Warnen die einen vor einer “Tyrannei der Gene” (Bartens 1999) und dem Wiederaufleben alter eugenischer Praktiken (Habermas 2001), so verweisen die anderen auf die Vorzüge naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritts (Markl 1998) und hoffen auf eine neue “Einheit des Wissens” (Wilson 1998), in der sich schließlich alle sozialen und kulturellen Phänomene auf biologische Sachverhalte zurückführen lassen.

So vertraut uns diese Kontroverse mit ihren kritischen und affirmativen Positionierungen inzwischen erscheint, so ungewöhnlich ist die Einschätzung des “Gendiskurses”, welche die US- amerikanischen Wissenschaftshistorikerin und -philosophin Evelyn Fox Keller in ihrem neuen Buch vorlegt. Das Jahrhundert des Gens erschien im selben Jahr, in dem die “Rohfassung” des menschlichen Genoms der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (Keller 2001). Kellers Studie enthält eine kritische Würdigung der Leistungen und Erkenntnisse des HGPs und präsentiert zugleich Perspektiven für eine postgenomische Biologie. Das Resümee des Buches könnte überraschender kaum ausfallen: Keller zufolge mag der Glaube an die Autonomie und Allmacht der Gene in Presse und Politik so populär sein wie nie zuvor – wissenschaftlich gehöre der Gendiskurs der Vergangenheit an.

Keller zählt zu den frühen Kritikern des HGPs. An Anfang an hielt sie die ausschließliche Konzentration auf die Sequenzinformation für ebenso falsch wie die Idee, dass der Code des Lebens in der molekularen Struktur festgeschrieben sei. Im Rückblick räumt sie nun ein, sich getäuscht zu haben: Das HGP sei nicht nur erfolgreich gewesen, es habe die Erwartungen sogar übertroffen. Oder genauer: Es habe sie weniger übertroffen als vielmehr verändert. Diese These entbehrt nicht der Ironie. Denn sie besagt, dass der Erfolg des Projekts in dem Scheitern eben jenes genetischen Determinismus besteht, der das Projekt und seine Finanzierung überhaupt erst ermöglichte. Die Ergebnisse des HGPs mit den nun vorliegenden Sequenzdaten zeigten die Grenzen des Gendiskurses auf, von dem das Projekt ursprünglich ausgegangen war. Statt den genetischen Determinismus zu bestätigen, habe das HGP ihn in entscheidenden Punkten infragegestellt.1 Der Gendiskurs sei am Ende, im postgenomischen Zeitalter spiele er nur noch eine untergeordnete Rolle.

Im folgenden soll diese Annahme einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Meine These ist, dass – zumindest im Bereich medizinisch-genetischer Forschungen – der Primat genetischer Kausalität nicht aus der zeitgenössischen Biologie verschwunden ist, sondern nun in einem komplexeren Modell reartikuliert wird. In dieser Hinsicht handelt es sich also gerade nicht um eine Aufhebung oder Ablösung, sondern eher um eine Transformation oder Modifikation des genetischen Determinismus. Meine These möchte ich auf zwei Ebenen begründen. Nach einem einleitenden Teil, in dessen Mittelpunkt die Rekonstruktion von Kellers Argumentation steht, werden in einem weiteren Schritt deren theoretische Prämissen genauer analysiert, um ihre Probleme und Grenzen aufzuzeigen und eine andere Sichtweise auf das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft vorzuschlagen. Dabei geht es mir jedoch nicht ist erster Linie um eine immanente Auseinandersetzung mit Kellers Ausgangsannahmen oder Schlussfolgerungen; vielmehr dient mir deren Kritik als Folie für eine alternative Einschätzung der Entwicklungslinien und Forschungstendenzen einer postgenomischen Biologie. Diese Perspektive soll im dritten Teil des Beitrags konkretisiert werden, in dem ich die empirische Relevanz der These vom “Ende des Gendiskurses” infrage stelle und sie mit den wissenschaftlichen Ausgangsannahmen und Untersuchungszielen zweier beispielhaft ausgewählter biomedizinischer Forschungsvorhaben kontrastiere. Deren Analyse zeigt, dass in der biowissenschaftlichen Forschungspraxis der genetische Determinismus keineswegs verschwindet, sondern in veränderter Form weiterexistiert.

I. Die Grenzen des Gendiskurses

Evelyn Fox Keller gehört neben Lily Kay und Hans-Jörg Rheinberger zu den bedeutendsten Wissenschaftshistorikern auf dem Feld der Biowissenschaften. In ihrem neuen Buch zeichnet sie die zentralen Entwicklungslinien der Genetik des letzten Jahrhunderts nach und präsentiert eine profunde Diskussion der neuesten biologischen Forschungsergebnisse. Das Jahrhundert des Gens trägt nicht nur die wichtigsten Bedenken und Einwände gegen den Gendiskurs vor; es weist vor allem auf neue Erkenntnisse hin, die es überholt erscheinen lassen, noch immer von der Vorstellung eines “genetischen Programms” auszugehen, das der DNA eingeschrieben ist und die Entwicklung eines Organismus steuert.

Die Professorin für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie am Massachusetts Institute of Technology sieht eine Reihe von Hinweisen für eine Neuorientierung, die den “alten” deterministischen Gendiskurs ablösen könnte. Die jüngsten Forderungen innerhalb der Biologie nach einer funktionellen Genomik zeugen ihr zufolge von dem Eingeständnis, dass es nicht ausreichend ist, sich mit genetischen Strukturen zu befassen. Die Forschungsergebnisse zeigten, dass die Proteinsynthese nicht von Genen “gelenkt” wird, sondern nur innerhalb der umfassenderen Regulationsdynamik der Zelle zu verstehen ist. Ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses rücken postgenomische Netzwerke, die den umfassenden Mechanismen der Zellregulation mehr Bedeutung beimessen. Angesichts dieser veränderten Forschungsorientierungen kommt Keller zu dem Fazit, dass das “Jahrhundert des Gens”, das um 1900 mit der Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze und der Konstitution der Genetik als eigenständiger Wissenschaft begann, mit Beginn des 21. Jahrhunderts sich dem Ende nähert.

Für Kellers These ist die Diagnose von zwei Defiziten oder “Lücken” maßgeblich, auf denen die Argumentation aufbaut, wobei es die Intention der Autorin ist, die Lücken nicht nur sichtbar zu machen, sondern zugleich einen Beitrag zu leisten, um sie zu schließen: erstens die “Kluft zwischen dem öffentlichen und technischen Verständnis” (2001, S. 9), also zwischen der wissenschaftlichen Forschung einerseits und der medialen Repräsentation bzw. der gesellschaftlichen Diskussion der Genetik andererseits; zweitens die “Kluft zwischen genetischer ‚Information’ und biologischer Bedeutung” (2001, 19), also zwischen der These einer genetischen Determination und der tatsächlichen biologischen Komplexität. Beide “Lücken” sollen im folgenden eingehend behandelt werden, da sie von strategischer Bedeutung für Kellers These sind, dass der Gendiskurs sein Ende gefunden habe.

Zunächst zur Kluft zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Keller weist zurecht darauf hin, dass schon vor dem Ende des Humangenomprojekts die ursprünglich leitenden deterministischen Konzepte allmählich an Attraktivität verloren. Die erzielten Forschungsergebnisse zeigten deutlich die Grenzen des genozentrischen Weltbildes auf und richteten das Interesse auf die “Umgebung” der Genaktivitität. Im Lichte der Ergebnisse molekularbiologischer Studien verlagerte sich die Aufmerksamkeit der Genomforschung von hierarchischen Modellen der Genaktivität zu komplexeren Netzwerkkonzepten. Gegen den dominanten Gendiskurs wurden vor allem entwicklungsbiologische Erkenntnisse ins Feld geführt, aber auch innerhalb der Genomforschung selbst mehrten sich die Hinweise auf die Komplexität, Vernetztheit und Multikausalität der Genaktivität (Strohman 1994; Gilbert 1997; Nurse 1997, Williams 1997).

Während also inzwischen selbst den Molekularbiologen Zweifel kamen, ob die Sequenzinformation für das Verständnis der biologischen Funktion ausreiche, habe diese differenzierte Einschätzung, so Keller, bisher die breite Öffentlichkeit noch nicht erreicht. Kellers Interesse ist es, diese “Lücke” zwischen wissenschaftlichen Fakten und öffentlicher Wahrnehmung zu verringern, indem sie die Bedeutung einer zweiten Kluft aufzeigt: die Kluft zwischen genetischer Information und biologischer Funktion. Der genetische Determinismus beruhte auf der Vorstellung, aus der genetischen Information folge unmittelbar die biologische Bedeutung. Ein genetisches Programm steuere den Organismus und dessen Entwicklung. Mit dem zunehmenden wissenschaftlichen Wissen um die Komplexität der Regulierungsdynamik, die sich nicht auf ein “Übersetzungsproblem” zwischen Geno- und Phänotyp oder das Ausführen eines “Programms” beschränkt, wird Keller zufolge auch schließlich das einfache Bild einer determinierenden Rolle der Gene korrigiert, das in der Öffentlichkeit bisher vorherrschte.

Das Jahrhundert des Gens ruft uns die Lektionen in Erinnerung, die teilweise schon lange bekannt waren, aber unter der Dominanz des Gendiskurses verloren gingen und fügt ihnen jene Erkenntnisse hinzu, die erst jetzt, nach dem Abschluss des HGP vorliegen. Keller weist nicht nur auf die definitorische Unschärfe hin, die den Genbegriff von Anfang an auszeichnete, sondern zeigt detailliert, dass die DNA – das “Molekül des Lebens” – aus eigener Kraft nicht einmal imstande ist, sich mit der erforderlichen Genauigkeit von einer Generation zur nächsten zu reproduzieren. Die Stabilität der Genstruktur ist nicht der Ausgangspunkt, sondern das Endprodukt eines vielstimmigen dynamischen Prozesses der Zellregulation. Damit verschiebt sich die Perspektive von der Vorstellung einer statischen Einheit, der Autonomie und kausale Ursächlichkeit zugeschrieben wird, hin zu einem dynamischen Zusammenspiel von interdependenten Akteuren: von der Genaktivität zur Genaktivierung. Keller sieht deutlich einen “neuen Diskurs” heraufziehen, der sich “auf ‚Kopiereffekte’ und ‚Kontrollpunkte’, auf genetische, epigenetische und ‚postgenomische’ metabolische Netzwerke und sogar multiple Vererbungssysteme” (Keller 2001, S. 21) konzentriert, während – so ihr Fazit – die Vorstellung des Primats des Gens zur Erklärung biologischer Strukturen und Funktionen für die Biologie des 21. Jahrhunderts nur noch eine sehr eingeschränkte Rolle spielen wird. 2

Ich breche die Rekonstruktion von Kellers Argumentation an dieser Stelle ab, um zu erläutern, warum sie nicht überzeugt. Meine Einwände resultieren weniger aus einer mangelhaften Beweisführung oder aus fehlenden Fakten in der Darstellung von Keller, sondern daraus, dass sie ihrer eigenen argumentativen Logik ab einem bestimmten Punkt nicht mehr vertraut. Es besteht eine Kluft zwischen Diagnose und Prognose, zwischen Kellers Argumenten und den Schlüssen, die sie daraus zieht. Im folgenden möchte ich zeigen, dass Kellers grundlegende Annahme von zwei “Brüchen” – zwischen wissenschaftlicher Forschung und medialer Repräsentation einerseits und zwischen deterministischen Konzepten und Netzwerkmodellen andererseits – problematisch ist, da sie die Kontinuitäten zwischen der “alten” und der sogenannten “neuen Genetik” nicht erfasst.

II. Ein neuer Diskurs?

1. Die Logik der Lücke: Fakten und Fiktionen

In ihrer Analyse des Verhältnisses zwischen (bio-)wissenschaftlicher Forschung und medialer Repräsentation legt Keller den Gedanken nahe, dass der öffentliche dem wissenschaftlichen Diskurs “hinterherhinke”. Sie konstatiert eine “Kluft” zwischen den Erkenntnissen der in dem Feld arbeitenden Wissenschaftlern und den unrealistischen Erwartungen der Öffentlichkeit. Mit dieser Annahme steht sie nicht allein. Nicht nur aus den Reihen der Sozialwissenschaft (vgl. Nelkin/Lindee 1995; Jäger et al. 1997), auch von Naturwissenschaftlern wurden immer wieder ähnliche Bedenken geäußert. So forderte der US-amerikanische Molekularbiologe Lee Silver angesichts des Vorwurfs, die Biologie der Gegenwart verbreite ein genozentrisches Weltbild, eine differenziertere Betrachtung: “Sobald die Medien über irgendwelche neuen, aufregenden Studien berichten, denen zufolge bei einer menschlichen Eigenschaft oder Krankheit ein gewisser genetischer Beitrag besteht, dann vermitteln sie in vielen Fällen den Eindruck, daß hierfür Gene allein verantwortlich seien. [...] Eine Häufung solcher Berichte kann durchaus das Gefühl verbreiten, daß es so etwas wie einen genetischen Determinismus gibt, obwohl die Genetiker selbst die Welt eigentlich nur aus dem Blickwinkel von Statistiken und einzelnen Wahrscheinlichkeiten betrachten” (Silver 1998, S. 377, FN. 22, Hervorheb. im Orig.).

Die Annahme einer “Kluft” zwischen “richtiger” wissenschaftlicher Forschung und falscher medialer Verbreitung ist jedoch problematisch. Erstens ist es zweifelhaft, ob die Unterscheidung zwischen “reiner” Forschung und gesellschaftlicher Resonanz sich in einem Bereich aufrechterhalten lässt, in dem schon die Grundlagenforschung immer mehr zu einer Angelegenheit von privaten Unternehmen wird. Kommerzielle Interessen und unmittelbarer Anwendungsbezug bestimmen in weiten Teilen der Biowissenschaften die Forschungsagenda und machen eine trennscharfe Unterscheidung zwischen der Differenziertheit der wissenschaftlichen Arbeit und ihrer laienhaften, simplifizierten Aufnahme in den Medien problematisch. Zweitens stellt sich die Frage, ob es sich tatsächlich um ein Defizit handelt, um ein Zuwenig an Information oder eine Fehl-Information. Oft wird die “Kluft” aktiv von den beteiligten Wissenschaftlern produziert, denn sie profitieren anschließend von der angenommenen “Zentralität des Gens” in Form von öffentlichen Forschungsgeldern und sozialem Prestige. Es ist nicht die massenmediale oder populärwissenschaftliche Verbreitung und Verzerrung humangenetischer Erkenntnisse allein, die den Glauben an die Macht der Gene schürt, dieser Glaube wird von einer stattlichen Anzahl von Molekularbiologen mitgetragen.3

Dennoch ist es natürlich möglich, zwischen der medialen Darstellung und professionspolitischen Profilierungsstrategien (vgl. hierzu Latour 1996) auf der einen Seite und den Forschungspraktiken bzw. der operativen Epistemologie der Genomforschung auf der anderen Seite zu differenzieren. Diese Unterscheidung vernachlässigt jedoch einen ganz entscheidenden Punkt: Während eine solche Position die Beachtung der Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen, Realität und Spekulation, Anspruch und Wirklichkeit einklagt, geht es bei der neuen Genetik gerade um ein konsequentes Überschreiten der etablierten Grenzen.4 Die Fiktionen sind Voraussetzung und Element der Faktenproduktion. Wie die neue Ökonomie beruht auch die neue Genetik auf Spekulationen – und wie bei jener zeitigen sie auch in diesem Fall reale Effekte. Es ist daher fraglich, ob sich Hype und Realität, Hybris und Forschungsalltag tatsächlich so sauber voneinander trennen lassen wie Keller annimmt. Sarah Franklin (2001) hat zurecht darauf hingewiesen, dass Übertreibung und Übertretung weniger überflüssiges oder gar verfälschendes Beiwerk als vielmehr eine zentrale Dimension der neuen Genetik sind. Statt als ideologischer Rest oder rhetorische Zutat funktionieren sie als deren materiales Schmiermittel. Man mag die überzogenen Hoffnungen (etwa auf neue medizinische Nutzungsformen und Heilungschancen) ebenso wie die übertriebenen Ängste (etwa vor den unsichtbaren genetischen Grundlagen von Krankheiten und Verhaltensauffälligkeiten) beklagen, sie sind ein essentieller Bestandteil der Biowissenschaften. Und auch in diesem Fall ist beides nicht voneinander zu trennen. Die neue Genetik lebt von Hoffnungen und Erwartungen und der gleichzeitigen Produktion von Ängsten und Unsicherheiten. Sie etabliert einen produktiven Zirkel, der Angst und Hoffnung miteinander verklammert und für immer neue genetische Krankheiten, Dispositionen, Veranlagungen, Risiken und Anfälligkeiten wirksame Hilfe in Form von Präventionschancen, Diagnosetechniken und Therapieangeboten verspricht.

Die Frage der Grenzverschiebung berührt auch die zweite Kluft, die Keller ausmacht: jene zwischen genetisch-deterministischen Konzepten und Netzwerkmodellen. Ähnlich wie etwa die Wissenschaftshistorikerin Lily Kay (2000) zeigt auch Keller, dass es gerade die Abwesenheit einer eindeutigen Definition des Gens war, welche die Produktivität des Gendiskurses ausmachte. Die terminologischen Zweideutigkeiten und semantischen Ambivalenzen waren politisch nützlich und wissenschaftlich hilfreich. Sie gestatteten es, von der DNA als “Heiligem Gral”, “Buch des Lebens” etc. zu sprechen und die Bedeutung genetischer Forschungen entscheidend aufzuwerten, so dass finanzielle Ressourcen in Form von Forschungsgeldern mobilisiert werden konnten. Wissenschaftlich ermöglichte es diese definitorische Flexibilität, gleichzeitig ganz unterschiedliche Forschungsrichtungen zu verfolgen, darunter auch solche, in denen allzu simple Vorstellungen von genetischer Determination als “unseriös” bzw. “unwissenschaftlich” gelten.

Keller geht davon aus, dass sich die Produktivität des Gendiskurses (zumindest die wissenschaftliche Produktivität) heute erschöpft hat, ja er vielleicht inzwischen gar ein Erkenntnishindernis darstellt. Sie nimmt an, dass die ungeheuren Fortschritte bei der Identifizierung, Kartierung und Sequenzierung einzelner Gene den Gen-Begriff in “eklatante Schwierigkeiten” (S. 91) stürzen. Ihr zufolge ist es die “Komplexität der Regulationsdynamik, die heute den Genbegriff gefährdet” bzw. ihn “an den Rand des Abgrunds geführt” hat (S. 94). Dies ist jedoch vor dem Hintergrund der Argumentation des Buches alles andere als überzeugend. Wenn der Genbegriff seit seiner Einführung vor einhundert Jahren durch ein permanentes Changieren zwischen unterschiedlichen Bedeutungen charakterisiert war, warum sollte heute die “Verwendung des Terminus Gen seiner Explikation im Wege” (S. 94; Hervorheb. im Orig.) stehen? Wenn dem Genbegriff keine intrinsische Bedeutung, kein fester und eindeutiger semantischer Kern zukommt, was Keller sehr gut dokumentiert, warum ist es dann “Zeit, dass wir ein paar neue Begriffe erfinden” (S. 94)? Warum also sollte das Jahrhundert des Gens hinter uns liegen? Keller nennt keine Zäsur, die eine solche Einschätzung begründen könnte.

2. Forschungstendenzen und Entwicklungslinien einer postgenomischen Biologie

Meiner Ansicht nach liegt ein anderer Schluss viel näher: Gerade die von Keller überzeugend herausgearbeitete Unbestimmtheit und Ambivalenz des Genbegriffs und seine ungeheure semantische Flexibilität dürfte ihm eine Zukunft in einem modifizierten Modell sichern, das auch der Zellregulation und den Interaktionsprozessen einen größeren Stellenwert einräumt sowie psychologische, ökologische und soziale Faktoren berücksichtigt. Was Keller meiner Ansicht nach nicht genügend würdigt, ist die semantische Verschiebung des Gendiskurses hin zu Netzwerkkonzepten, in denen die abstrakte und eindeutige Gegenüberstellung von Gen und Umwelt zunehmend an Profil verliert – ohne dass damit der strategische Bezug auf Gene und genetische Regulation aufgegeben wird. Keller selbst geht auf einige Aspekte dieses Transformationsprozesses ein, jedoch ohne sie in ihrer Schlussfolgerung systematisch zu berücksichtigen.

Die erste semantische Flexibilisierung besteht darin, dass Gene immer weniger als starr und unbeweglich, sondern als plastisch und modulierbar aufgefasst werden. Die traditionelle Grenzziehung zwischen einer als variabel vorgestellten Umwelt und einer als unveränderbar angesehenen Vererbung erfährt schon seit einiger Zeit deutliche Risse. Die Forschungsergebnisse, die Keller referiert, deuten darauf hin, dass das Gen nicht mehr als autonom und zentral vorgestellt wird – es ist kein Schlüsselbegriff oder die Schaltzentrale, welche die Entwicklung und Steuerung des Organismus sichert –, sondern “selbst ein integraler Bestandteil von Prozessen, die definiert und hervorgebracht werden durch ein komplexes selbstreguliertes System, in dem und für das die ererbte DNA das entscheidende und absolut unentbehrliche Rohmaterial liefert – aber nicht mehr als das” (Keller 2001, S. 97; vgl. auch Keller 1995).

Diese veränderte wissenschaftliche Perspektive illustriert Keller am Beispiel der Forschungen zu sogenannten “Mutatorgenen”, die zu einem neuen Verständnis von Abweichung und Variation führen. Für den Bakteriologen James Shapiro etwa sind Mutationen nicht zufällige Kopierfehler oder blindes Resultat der Evolution, sondern Teil einer molekularen Strategie, die von “biologischen Rückkopplungschleifen gesteuert wird” (zit. nach Keller 2001, S. 58). Sein Kollege Miroslav Radman beschreibt den zugrunde liegenden Paradigmawechsel folgendermaßen: “Man hat die Mutagenese traditionell als Folge von Unvollkommenheiten, die im Verlauf der DNA-Replikation und -Reparatur unvermeidlich sind, aufgefasst. Wenn aber Vielfalt fürs Überleben wesentlich ist und die Mutagenese für die Erzeugung dieser Vielfalt gebraucht wird, dann ist vielleicht die Mutagenese während der gesamten Evolution positiv ausgelesen worden” (zit. nach Keller 2001, 57). Keller sieht in diesen und ähnlichen Äußerungen Hinweise auf eine veränderte Forschungsorientierung, die auf der Basis der Vorstellung einer “Evolution der Evolutionsfähigkeit” davon ausgeht, “dass Organismen nicht mehr nur das passive Substrat der Evolution bilden, sondern ihren eigenen Wandel aktiv vorantreiben” (Keller 2001, S. 57). Anders als Keller annimmt, zwingen diese Forschungsergebnisse aber keineswegs zur Aufgabe des Gendiskurses, sondern führen lediglich zu seiner Verschiebung. Wurde im Humangenomprojekt das Genom innerhalb eines informations- und kommunikationstheoretischen Bezugsrahmens als ein Code betrachtet, den es zu knacken bzw. zu entschlüsseln gilt, so kann man heute vielleicht sagen, dass “Gen” selbst ein Code-Wort ist, dessen Referent gewechselt hat.

Ein Symptom für diese Bedeutungsverschiebung ist etwa die erstaunliche Ausweitung des Begriffs der genetischen Krankheit, welche die Sequenzierung des menschlichen Genoms nach sich gezogen hat. Glaubt man den einschlägigen Fachjournalen, so sind immer mehr Krankheiten genetisch “verursacht” oder zumindest “bedingt”5. Keller selbst weist darauf hin, dass die Kategorie “genetisch bedingt” heute so weit ausgedehnt worden ist, das sie keineswegs nur Verhaltensauffälligkeiten und Krankheitsformen umfasst, die durch die Keimbahn weitergeben werden, also “genetisch bedingt” sind im herkömmlichen Sinn des Wortes (Keller 2001, S. 201, FN. 37). In dem Maße, in dem von genetischen Dispositionen für sogenannte Volks- oder Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Herz-Kreislaufbeschwerden oder Alzheimer ausgegangen wird, ändert sich auch die Bedeutung, die das Wort “genetisch” annimmt. “Genetisch” meint in diesem Zusammenhang offenbar mehr als einen eindeutigen Ursache-Wirkungs-Mechanismus, der im Erbmaterial begründet ist (Cranor 1994; Lloyd 1998).

Der Wissenschaftsphilosoph Philip Kitcher hat darauf hingewiesen, dass die Annahme, es gebe Gene “für” menschliche Krankheiten, Verhaltensmerkmale und Eigenschaften immer “die Vorstellung eines Standardhintergrunds und einer Standardumgebung” bzw. einer “Norm” (1998, S. 275) voraussetzt. Diese Standardumgebungen können sozialer oder biologischer Art sein, sie sind dafür verantwortlich, ob und in welcher Weise eine bestimmte “genetische Abweichung” zur Veränderung des betreffenden Merkmals führt. Eher als auf die Bekräftigung eines genetischen Determinismus zielt die aktuelle Genforschung, Kitcher zufolge, auf die Kontrolle der genetischen Umwelt.6 Dies macht er am Beispiel eines – hypothetischen – Legasthenie-Gens deutlich: “Zum Beispiel könnten Allele ‚für’ Legasthenie existieren, was bedeutet, daß es einen Genort gäbe, an dem manchmal mutierte Allele auftreten, so daß jemand, bei dem ein Paar dieser Allele sowie der normale Bestand sonstiger Gene vorhanden sind und der in vieler Hinsicht so aufwächst, wie Kinder in wohlhabenden Gesellschaften aufgezogen werden, schließlich unter den für Legasthenie typischen Lese- und Schreibschwierigkeiten leiden würde. [...] Nichts davon ist ein Widerspruch zu der einleuchtenden Tatsache, daß das Lesenlernen eine außerordentlich komplexe Angelegenheit ist, an der alle möglichen Gene und Wechselwirkungen mit der Umgebung beteiligt sind. Es bedeutet auch nicht, daß Legasthenie genetisch determiniert sei. Lese- und Schreibschwierigkeiten können auftreten, wenn das Kind mit den Allelen ‚für’ Legasthenie auf herkömmliche Weise aufwächst, das heißt nach den üblichen Lehrmethoden unterrichtet wird. Doch durch die eine oder andere Förderungsmaßnahme ließe sich das Problem vielleicht vermeiden” (Kitcher 1998, S. 277). 7

Anders als Keller annimmt, ist der Gendiskurs nicht deshalb obsolet, weil ein anderes und komplexeres Wissen an seine Stelle tritt. Eher haben wir es mit einem anderen und komplexeren Gendiskurs zu tun. Dieser zeichnet sich nicht mehr durch die Annahme eines linearen Ursache-Wirkungs-Mechanismus aus, sondern beruht auf dem Modell von Dispositionen und Risiken. Es handelt sich nicht um das Ende, sondern um eine Metamorphose des Gendiskurses, der sich jetzt auf multiple Faktorenbündel, dynamische Beziehungskonstellationen und variable Symptome konzentriert. Jene frühe Version eines genetischen Determinismus, die in den Genen die alleinige und autonome Ursache für bestimmte Krankheiten oder Verhaltensmerkmalen sieht, besitzt immer weniger Überzeugungskraft. Selbst in Hinblick auf scheinbar eindeutige Bedingungsverhältnisse, bei den sogenannten monogenetischen Krankheiten, finden Zweifler mehr und mehr Gehör (s. Weatherall 2000; Van den Boer-van den Berg/Maat-Kievit 2001). Ein und dieselbe Genmutation kann sehr unterschiedliche Auswirkungen haben, und umgekehrt dieselbe Krankheit kann von verschiedenen genetischen Veränderungen herrühren; ebenso kann ein Gen in verschiedenen Organismen unterschiedliche Wirkungen entfalten (Kollek 1997, S. 132-135; Holtzman/Shapiro 1998).

3. Determination und Disposition

Im postgenomischen Zeitalter ist das Gen kein unbewegter Beweger mehr, sondern eingebettet in flexible Beziehungen. In dieser Perspektive gibt es keine Hierarchie von Gen und Organismus, keinen zentralen Ort der Steuerung und Regulierung, sondern nur noch dezentrale Formen der Selbst-Steuerung des Organismus. Letzterer wird als eine dynamische Einheit begriffen, die aus einem interagierenden Komplex von genomischen Strukturen und dem zellulären System besteht.8 Im Rahmen dieses Interaktionsprozesses “interpretiert” der Organismus die Gene im Verlauf seiner Entwicklung, statt von ihnen “programmiert” zu werden. Gene sind demnach als integrale Bestandteile eines sehr viel komplizierteren Netzwerks anzusehen, das sowohl das Innenleben des Organismus wie auch dessen äußeres Umfeld mitgestaltet. An die Stelle der Annahme einer tieferen genetischen Essenz, dem Genotyp, dem ein entsprechender Phänotyp korrespondiert, in dem jener sich ausdrückt und vom dem er sich ableiten lässt, tritt das Konzept einer Oberfläche, die nicht mehr auf eine zugrunde liegende Tiefenstruktur verweist, sondern als ein Netz von diskreten Elementen von unterschiedlicher Natur begriffen wird, die verschiedenartigen Einwirkungsmöglichkeiten unterliegen. Auf diese entscheidende epistemologische Veränderung innerhalb der postgenomischen Biologie weisen Carlos Novas und Nikolas Rose hin:

“More fundamentally, criticisms posed in terms of biological and genetic determinism fail to recognize a rather significant change that is occurring in conceptions of life itself. The explanatory form they criticize is that of a depth ontology. They believe that biologists construe the genetic code as a deep inner truth, the cause of sickness or health, merely expressed in the surface of corporeality, conduct, character, etc. [...]. [W]e suggest, that contemporary genetics is beginning to operate in a ‘flattened’ world, a world of surfaces rather than depths. In the developing explanatory schemas of post-genomics, the genetic code is no longer thought of as deep structure that causes or determines, but rather as only one set of relays in complex, ramifying and non-hierarchical networks, filiations and connections” (Novas/Rose 2000, 508 f.).

In dem Maße, in dem eindeutige Wirkmechanismen und sichere Kausalketten in der Genomforschung eine geringere Rolle spielen, konzentriert sich heute das wissenschaftliche Interesse auf Dispositionen und Eintrittswahrscheinlichkeiten. Daher kommt im Rahmen dieser postgenomischen Biologie dem Begriff des genetischen Risikos eine herausgehobene Bedeutung zu. Damit ist nicht gemeint, dass genetische Risiken prinzipiell von anderen Risiken zu unterscheiden sind; im Gegenteil, sie sind eingepasst in heterogene Risikonetzwerke, deren integrale Elemente sie bilden. In dieser Hinsicht können genetische Dispositionen ebenso wie Lebensstil, Gesundheitsverhalten, Ernährungsgewohnheiten, Partnerwahl etc. Gegenstand von Risikokalkülen und Strategien des Risikomanagements werden.9 Eine besondere Rolle kommt den genetischen Risiken jedoch insofern zu, als sie vermeintlich leichter “objektivierbar” sind und als privilegierter “Ansatzpunkt” oder “Hebel” für Kontrollstrategien fungieren.

Diese These möchte ich im folgenden anhand der epistemologischen Vorannahmen und des operativen Vorgehens zweier aktueller biomedizinischer Forschungsprojekte oder eher: zweier Forschungsverbünde beispielhaft illustrieren. Das erste Projekt ist im Bereich der Ernährungswissenschaft angesiedelt, das zweite untersucht die Ursachen der Schizophrenie.10

III. Genetische Netzwerke und das Management von Risiken

1. “Anreize zur Lebensstiländerung”: das Nutrigenomik-Projekt

Im Mai 2001 gab das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die drei Gewinner des BioProfile-Wettbewerbs bekannt. Der Wettbewerb wurde von dem Ministerium mit den Ziel ausgeschrieben, regionale Kompetenzen im Bereich der Biotechnologie zu fördern und auszubauen. Durch die Etablierung von Netzwerkstrukturen sollten die Zusammenarbeit zwischen Forschungseinrichtungen verbessert, Kooperationen mit Unternehmen intensiviert und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Biotechnologiebranche gestärkt werden.

Unter den ausgezeichneten Projekten befindet sich auch der Antrag aus der Region Berlin-Potsdam mit dem Titel “Genomforschung und Pflanzenbiotechnologie im Dienste der Diagnose, Verhütung und Therapie ernährungsbedingter Krankheiten”.11 Die regionale Initiative wird mit insgesamt 35 Millionen DM über einen Zeitraum von fünf Jahren gefördert und vom “Verein zur Förderung der Nutrigenomforschung” koordiniert, der auch für den Antrag verantwortlich zeichnet. Unter Nutrigenomforschung ist “die Erweiterung der Ernährungsforschung um den Bereich der Genomforschung und der (pflanzlichen) Biotechnologie” (Antrag Anhang, S. 55) zu verstehen.12

Gegenstand der Untersuchung ist der Zusammenhang zwischen Erbgut, Ernährungsgewohnheiten und Krankheiten. Das Projekt verfügt über die DNA-Proben einer Untersuchungsgruppe von 27 000 Personen im Rahmen einer epidemiologischen Studie am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE). Diese Versuchspersonen werden intensiv zu Ernährungsgewohnheiten und Nahrungsmitteleinkauf befragt, um Aufschluss über jene Stoffe zu erhalten, die über die Nahrung in ihren Körper gelangen. Die Informationen werden mit Gesundheits- und Krankheitsdaten der Probanden verglichen, die von den Hausärzten und Krankenhäusern erhoben werden (Antrag, S. II f.; Schwägerl 2001) Der zeitliche Ablauf ist folgendermaßen geplant: In der ersten Projektphase liegt der Schwerpunkt auf der Forschung zur sog. “Identifikation von molekularen Targets”, also auf der Pathogenese von Erkrankungen, der funktionellen Analyse von Genomen etc. In der zweiten Arbeitsphase soll die Entwicklung von marktfähigen Produkten stehen (Antrag Anhang, S. 59).

Ziel der Forschungsaktivitäten ist es, die Häufigkeit und Schwere ernährungsbedingter Erkrankungen wirksam zu begrenzen.13 Um ernährungsabhängige Vorgänge im positiven Sinne zu beeinflussen, schlägt der Verein mehrere komplementäre Vorgehensweisen vor: “Dazu bieten sich einerseits patientenorientierte Eingriffsmöglichkeiten an: die Entwicklung entsprechender Diagnostika (‚Nutrichips’), die imstande sind, Patienten zu identifizieren, die für bestimmte ernährungsabhängige Krankheiten besonders anfällig sind oder aber von Medikamenten, die zur Therapie eingesetzt werden können. Andererseits ist eine besonders attraktive Alternative in der Entwicklung von Nahrungspflanzen und daraus ableitbaren ‚Functional Foods’ zu sehen, welche die Tendenz zum Auftreten ernährungsabhängiger Krankheiten in genetisch als besonders anfällig identifizierten Bevölkerungsschichten oder auch in der Gesamtbevölkerung senken könnten” (Antrag, S. 6).

Das Projekt zielt also auf einen Dreischritt von Diagnose, Therapie und Prävention. Angestrebt wird die Entwicklung verbesserter Diagnostika, die Herstellung therapeutisch wirksamer Lebensmittel zur Bekämpfung ernährungsabhängiger Krankheiten wie Herz-Kreislaufbeschwerden, Krebs, Diabetes, Fettsucht etc. sowie die Produktion von gesundheitsfördernden Nahrungsmitteln, welche in einer generellen oder einer speziellen (d.h. einer auf konkretisierte “Risikogruppen” oder individuelle Bedürfnisse abgestimmten) Krankheitsprävention eingesetzt werden.

Der “Verein zur Förderung der Nutrigenomik” betont, dass es sich bei dem Projekt um ein “offenes Netzwerk” handelt (Antrag, S. IV). In dem Kontext des Forschungsverbundes ist damit zweierlei gemeint. Erstens bezieht sich der Netzwerkbegriff auf die beteiligten Akteure und die Kooperationsstrukturen. In dem Projekt sind sechs Universitäten vertreten (darunter so unterschiedliche Fakultäten wie das Institut für Sportmedizin der FU Berlin und der Fachbereich Medienwissenschaften der Universtität Jena), drei Kliniken, mehrere biologische Forschungsinstitute (wie das Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik und das Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie) und eine Reihe von Biotech-Unternehmen aus der Region Berlin-Brandenburg. Das Projekt besteht also aus einem heterogenen Ensemble von privaten und öffentlichen Einrichtungen, es verklammert medizinische Versorgung und wirtschaftliche Verwertung, wissenschaftliche Forschung und kommerzielle Nutzung.

Zweitens verweist der Netzwerkbegriff auf eine veränderte Konzeption der Genregulation und markiert damit eine Distanz zu einfachen Varianten eines genetischen Determinismus. Nach Aussage von Babette Regierer, einer Koordinatorin des Projekts, besteht das Ziel vielmehr darin, “den Menschen, seine Gene, sein Verhalten und seine Umwelt in einem Kontinuum [zu] betrachten” (zit. nach Schwägerl 2001). Das Projekt geht dabei von einem doppelten Wirkmechanismus aus. Statt eine eindeutige und einseitige Determination der Gesundheit durch genetische Faktoren zu unterstellen, werden genetische Dispositionen im Zusammenspiel mit Ernährungsgewohnheiten untersucht, wobei die individuelle Gesundheit durch Nahrungsmittel verbessert werden soll, die wiederum aus gentechnisch optimierten Pflanzen gewonnen werden. Die Identifizierung des individuellen genetischen Profils wird also um eine Optimierung der Nahrungsaufnahme ergänzt. Durch eine gezielte “ernährungsphysiologischen Aufwertung” (Antrag Anhang, S. 58) der in den Pflanzen enthaltenen Wirk- und Nährstoffe sollen diese grundsätzlich für den Menschen gesünder werden oder aber für spezielle Diäten kranker oder “gefährdeter” Individuen eingesetzt werden können:

“Fast alle ernährungsabhängigen Krankheiten haben eine genetische Komponente. Bei fortschreitender Kenntnis des humanen Genoms werden deshalb Zielstrukturen zu Tage treten, die sich für eine fein abgestimmte nebenwirkungsfreie Prävention dieser weit verbreiteten Erkrankungen anbieten. Nimmt man hierzu noch die Tatsache, dass Nahrungspflanzen ein weit gespanntes Spektrum von Wirk- und Nährstoffen enthalten, deren gezielte Veränderung durch die fortschreitende Pflanzengenomik entscheidend erweitert wird, so eröffnen sich neue Möglichkeiten für die Prävention. Zusätzliche Bedeutung erhält dieses Konzept durch die interindividuelle Variabilität menschlicher Populationen, die eine auf den Genotyp des Individuums abgestimmte ‚präventive’ Ernährung erwarten lassen” (Antrag, S. I f.).

Dieses integrale und systemische Konzept kennt kein Außen mehr, das noch zu kolonisieren oder zu genetifizieren ist, sondern präsentiert ein “ganzheitliches Modell”: auf genetische Dispositionen “antworten” genetisch optimierte Nahrungspflanzen. Die hier skizzierte Bündelung von Ernährungs- und Genomforschung dient nicht nur der Vermeidung und Verhinderung von Krankheiten durch die Identifikation genetischer Risiken, sondern konzipiert Gesundheit als einen Prozess der “Passung” variabler Genome (die ja als Codes, also Passwörter, begriffen werden). Ernährung wird dabei wörtlich zum Lebens-Mittel, zur Schnittstelle bzw. zum “logischen Bindeglied” (Antrag, S. 3) zwischen dem lebenden Individuum und seiner natürlichen Umwelt – eine Umwelt, die allerdings primär unter einer genetischen Perspektive wahrgenommen wird: als Schauplatz der Interaktionen verschiedener menschlicher und nicht-menschlicher Genome:

“Ergebnisse der Humangenomforschung trugen bereits zur Aufklärung einer sehr großen Zahl monogenetisch bedingter Erkrankungen bei und schufen so die Voraussetzungen für deren Diagnostik und gezielte Therapie. Komplexer stellt sich das Bild allerdings bei den sogenannten multifaktoriellen Erkrankungen dar, deren Erforschung durch das Genomprojekt einen erheblichen Schub erfahren wird. Hier mehren sich die Erkenntnisse, dass das Zusammenspiel genetischer Prädispositionen mit Umweltfaktoren (wie z.B. Ernährung, Stress, Infektionen) erheblich zur Entstehung und individuellen Ausprägung der Erkrankung beiträgt. Dabei tritt der Mensch nirgends so intensiv mit seiner Umwelt in Wechselwirkung wie durch seine Ernährung. Große Mengen an Nährstoffen und Fremdsubstanzen werden dem Körper zugeführt und von ihm metabolisiert und können so auf ihn zurückwirken. [...] Ernährung und die durch sie mitbedingten Erkrankungen können als eine indirekte Interaktion verschiedener Genome aufgefasst werden – des menschlichen Genoms und der Genome der Nahrungsmittel-Lieferanten, insbesondere der Kulturpflanzen. Diese Interaktionen zu erforschen bedarf eines interdisziplinären Ansatzes molekularer, genetischer, genomischer und physiologischer Forschung, der sich um grundlegende Fragen der Ernährungswissenschaften orientiert” (Antrag, S. 5).14

Zwei Beobachtungen ergeben sich aus diesem Szenario. Erstens wird mit dieser Problembeschreibung zunehmend unklar, worin das “Menschliche” besteht, das diesen Genom-Genom-Interaktionen vorausliegen soll. Es stellt sich die Frage, ob die “ernährungsphysiologische Aufwertung” der Pflanzen nicht auch eine “normative Umwertung” des Menschlichen impliziert, den Bruch mit seiner “natürlichen Ausstattung” und den sich darauf ergebenden Anfälligkeiten für Krankheiten, Allergien, Unverträglichkeiten etc. Daher könnte den “Interaktionen”, die innerhalb des Projekts in den Blick genommen werden sollen, eine konstitutive Bedeutung zukommen: Ist der Mensch nicht eher das Resultat dieser “Wechselwirkungen”, das Produkt der Aufnahme von “Fremdsubstanzen”? Und was ist eine fremde Substanz im Unterschied zum eigenen Körper, wenn doch das Ziel der Forschungen gerade darin besteht, die Pflanzen für den Menschen “verträglicher” und “gesünder” zu machen? Wird ihnen nicht genau dadurch die Fremdheit genommen? Geht es nicht wie bei der Transplantation von Fremdorganen von Tieren oder anderen Menschen um eine Redefinition des Eigenen und des Fremden? Auf eine möglicherweise schwer verdauliche Weise könnte wahr werden, was der Volksmund schon lange wusste: “Der Mensch ist, was er isst”.

Zweitens: Diese Konzeption ist weit entfernt von einem genetischen Determinismus, der Konnotationen von Schicksalhaftigkeit und Unveränderbarkeit hervorruft. Im Gegenteil geht es gerade darum, Handlungsmöglichkeiten zu verdeutlichen und Interventionsspielräume sichtbar werden zu lassen. Ein wichtiger Teil des Projekts besteht daher – neben den erhofften wirtschaftlichen Impulsen und den angestrebten beschäftigungs- und technologiepolitischen Effekten – in der Vermittlung von “Anreizen zur Lebensstiländerung”, ja in einer “ethischen Fundierung des Konzepts” (Antrag S. IV).15 Ein Journalist fasste in der FAZ diese ethische Dimension der Nutrigenomforschung mit folgenden Worten zusammen: “Das Projekt hebt sich auf erfreuliche Weise von dem allzu simplen Gen-Determinismus ab, der die Menschen zu Opfern und Objekten ihres Erbguts machte. Das diagnostische Wissen allein, ein Gen zu besitzen, das mit sechzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zu Dickdarmkrebs führt, kann nur unglücklich machen. Das Wissen aus der ‚Nutrigenomik’ könnte jedoch dem einzelnen wirklich helfen”. Bei dem Berliner Projekt handele es sich “um erste Schritte zu einem ganzheitlichen Modell unserer Genaktivität und unseres Verhaltens. Diese Forschung wird uns vorführen, wie wunderbar komplexe Wesen wir sind, mit ungeahnten biologischen Freiheiten. Solche Einsichten können die Wertschätzung für das menschliche Leben steigern. Zugleich entstehen erste Instrumente, mit denen der einzelne sein Genom zähmen, fördern und beflügeln kann. Dies ist der richtige Weg voran für die Gen-Revolutionäre” (Schwägerl 2001).

Das Nutrigenomik-Projekt betreibt Moralmanagement in doppelter Hinsicht. Zum einen soll die bislang relativ geringe Akzeptanz gentechnisch veränderter Pflanzen in der Bevölkerung erhöht werden, indem deren medizinische Bedeutung als “Functional Food” aufgezeigt wird (Antrag Anhang, S. 58). Zum anderen wird dieser Akzeptanzförderung eine ethische Bedeutung verliehen; die Nachfrage und die Bereitschaft zum Konsum dieser Produkte signalisiert in dem Maße größere Verantwortungsbereitschaft und Risikokompetenz, in dem “eine auf den Genotyp des Individuums abgestimmte ‚präventive’ Ernährung” (Antrag, S. II) möglich wird. Als Folge lässt sich eine signifikante Verschiebung der Risikoperspektive feststellen: Standen bislang eher die gesundheitlichen Risiken genetisch modifizierter Pflanzen im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion, so soll nun gerade deren Produktion die Möglichkeit bieten, sich vor den gesundheitlichen Risiken von genetischer Disposition und individueller Lebensführung zu schützen.

2. “Mögliche Risikopersonen”: Kompetenznetzwerke in der Medizin

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert seit 1999 mit jeweils bis zu 5 Mio. DM pro Jahr zwölf Großforschungsprojekte, die sich mit speziellen Krankheiten mit hoher Morbidität oder Mortalität beschäftigen. Diese sogenannten Kompetenz-Netze in der Medizin verbinden die wesentlichen Einrichtungen der Spitzenforschung (horizontale Vernetzung) mit qualifizierten Einrichtungen der Routineversorgung (vertikale Vernetzung). Auf diese Weise sollen neue Kooperationsstrukturen geschaffen werden, die den Wissenstransfer zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und medizinischer Versorgung beschleunigen. Während die Initiative BioProfile vor allem der Stärkung regionaler biotechnologischer Kompetenzen verpflichtet ist und der Verbesserung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit dient, besteht das Ziel der Kompetenz-Netze im Aufbau überregionaler medizinischer Netze zur “Initiierung und Evaluation von aus Forschungs- und Versorgungskompetenz zusammengesetzten Projektverbünden zur Bearbeitung von Fragestellungen aus der Versorgungspraxis an repräsentativen Patientenkollektiven” (vgl. www.kompetenznetz-schizophrenie.de; www.kompetenznetze-medizin.de).

Trotz der unterschiedlichen Zielsetzungen gibt es eine Reihe von Übereinstimmungen zwischen beiden Forschungsverbünden. Sie betreffen nicht nur die Wahl der Organisationsform, nämlich die Bildung von Netzwerkstrukturen, sondern auch die Art und Weise, wie die Genomforschung in die Projektarbeit einbezogen wird. Wie das Projekt zur Nutrigenomik interessieren sich auch die medizinischen Kompetenznetze sowohl für die Variabilität innerhalb von Genomen wie für Gen-Umwelt-Interaktionen. Im folgenden möchte ich genauer auf die Ziele und das Forschungsdesign des “Kompetenznetzes Schizophrenie” eingehen.16

Das Kompetenznetz Schizophrenie besteht aus sogenannten “Netzwerkpartnern”: universitären und außeruniversitären Forschungsinstituten sowie Versorgungseinrichtungen im Bereich schizophrener Psychosen. Am Netzwerk beteiligt sind 16 psychiatrische Universitätskliniken, 5 Kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken, 14 Landes, Bezirks-, und Fachkrankenhäuser sowie 6 nervenärztliche und allgemeinärztliche Praxenverbünde. Weitere Kooperationspartner sind Fachgesellschaften, Patienten- und Angehörigenorganisationen sowie die Forschungsabteilungen der pharmazeutischen Industrie, die auch Fördermittel zur Verfügung stellen (S. 24). Nach der Selbstdarstellung konzentrieren sich die Forschungsschwerpunkte “auf Früherkennung und Prävention vor der Erstmanifestation sowie auf Therapie und Rehabilitation insbesondere bei affektiven, kognitiven und sozialen Defiziten eines chronisch-rezidivierenden Erkrankungsverlaufs. [...] Ziel ist die effizientere Diagnostik, Prävention, Therapie und Rehabilitation, die Verbesserung der Lebensqualität einschließlich einer Optimierung der kooperativen Nutzung vorhandener Ressourcen.”17

Die Forschungsstruktur gliedert sich in zwei grundlegende Projektverbünde, die sich am Verlauf der Krankheit orientieren. Projektverbund I beschäftigt sich mit der Phase der Frühsymptome, während der Zeitabschnitt nach der erstmaligen akuten Krankheitsmanifestation Gegenstand von Projektverbund II ist. Die beiden Forschungsverbünde werden ergänzt durch einen speziellen Projektverbund “Molekulargenetik” und ein weiteres Bündel von Projekten, die sich mit Fragen der Gesundheitsökonomie18, Aus-Fort- und Weiterbildung, der Öffentlichkeitsarbeit, der Qualitätssicherung etc. beschäftigen (S. 9).

Während der Projektverbund II vor allem rehabilitative Zielsetzungen verfolgt, arbeitet der Projektverbund I an der Optimierung von Früherkennung und Frühintervention. Nach Einschätzung der Netzwerk-Organisatoren kommen die bestehenden medikamentösen und psychologischen Therapiemöglichkeiten in der Regel zu spät zum Einsatz, nämlich erst Jahre nach dem ersten Auftreten der Krankheitssymptome. Im Zeitraum der unbehandelten Psychose könnten jedoch bereits bleibende kognitive und emotionale Beeinträchtigungen entstehen. Diese Ausgangslage erfordere es, dass “Methoden der Früherkennung von Personen mit einem erhöhten Risiko zur Entwicklung einer Schizophrenie optimiert und Frühinterventionsstrategien bei Risikogruppen, die mit den heute bereits vorhandenen Methoden identifizierbar sind, evaluiert werden.”

Eine strategische Rolle kommt in diesem Zusammenhang sogenannten “Vorfeldeinrichtungen” zu. So sollen beispielsweise in Schulen, Erziehungsberatungsstellen oder Hausarztpraxen19 über Screening-Bögen “mögliche Risikopersonen” ausfindig gemacht werden und “zur weiteren Abklärung an im Aufbau befindliche Früherkennungszentren überwiesen” werden. Weiter ist geplant ist, dass in diesen Einrichtungen “über ein Früherkennungsinventar zur Prodromalsymptomatik (z.B. sozialer Rückzug, Depressivität, Konzentrationsstörungen) und ein Interview zu weiteren Risikoindikatoren (z.B. familiäre Belastung, Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, schizotype Persönlichkeitsstörung) solche Personen identifiziert und im Verlauf beobachtet [werden], die bereits psychoseferne oder psychosenahe Prodrome aufweisen.”

Aufbauend auf diesen Früherkennungsschritten und gestaffelt nach der Schwere des jeweils diagnostizierten Risikos sind unterschiedliche Interventionsstrategien projektiert. Der Schwerpunkt der Intervention soll – so das vorgeschlagene Szenario – bei schweren Fällen in pharmakologischen, bei geringerem Risiko in psychologischen Behandlungsformen liegen. Letztere umfassen “die Anleitung zur Selbstregistrierung von Risikosteigerung sowie problem- und symptombezogene psychologische Interventionen z.B. bei Depression und Anhedonie, bei schulischen Problemen und kognitiven Einschränkungen, bei sozialen Defiziten und sozialen Ängsten”.

Die zentrale Bedeutung des speziellen Projektverbundes Molekular- und Pharmokogenetik20 ergibt sich aus der Ausgangsannahme: “Schizophrene Psychosen sind zu mindestens 50% genetisch bedingt21, wobei nicht ein einzelnes kausales, sondern wahrscheinlich mehrere – derzeit nur teilweise bekannte – Gene in Interaktion mit Umweltfaktoren eine Rolle spielen”.22 Von der genauen Identifizierung und Lokalisierung dieser sog. “Suszeptibilitätsgene” (S. 20) sowie ihren Interaktionsmechanismen mit der Umwelt verspricht sich die Netzwerkorganisation die “Identifikation genetischer Determinanten für die Prädiktion des Risikos, später an Schizophrenie zu erkranken (bei Risikopersonen)”. Gleichzeitig sollen auf diese Weise auch die Aussichten eines Therapieerfolgs bzw. die Möglichkeit der Therapieresistenz präziser eingeschätzt und den Nebenwirkungen von Medikamenten besser Rechnung getragen werden. Zur Untersuchung dieser “Bedingungskonstellationen” (S. 9) von Genen und Umweltfaktoren werden “Ressourcenzentren für DNA und Zelllinien” aufgebaut und für molekulargenetische und pharmakogenetische Forschungsprojekte innerhalb (und außerhalb) des Netzwerks Zelllinien von Patienten angelegt, die an den Therapie- und Verlaufsstudien des Kompetenznetzwerks teilnehmen.23

Dieses Forschungsdesign impliziert eine wichtige Veränderung der anvisierten Kontrollstrategien. Das Präventionskonzept, das in dem Antrag des “Netzwerks Schizophrenie” skizziert ist, steht in deutlichem Kontrast zu Foucaults Schilderung der disziplinären Straflogik in Überwachen und Strafen. Foucaults These lautete, die Veränderung der Strafsysteme im 19. Jahrhundert habe darin bestanden, dass die Richter nicht mehr über das Verbrechen, sondern über die Person des Verbrecher und seine “Seele” zu Gericht saßen. Wichtig war nicht die Feststellung der Wahrheit des Verbrechens und die Zuordnung des Täters, sondern die Antwort auf die Frage: “Wer ist dieser Mensch, der das Verbrechen begangen hat, in Wirklichkeit? Es ging um das Problem: ‚Wie kann man den Kausalprozeß, der zur Tat geführt hat, einordnen? Wo ist sein Ursprung im Täter selbst? Instinkt, Unbewußtes, Milieu, Erbanlage?’” (1977, S. 29). Ein “wissenschaftlich-juristischer Komplex” (ebd.) wurde mobilisiert, um den Urheber der Tat in dem Subjekt ausfindig zu machen.

Legt man dieses Präventionskonzept zugrunde, gibt es im Antrag des Kompetenznetzwerks Schizophrenie keine Schizophrenen mehr. Das heißt, es gibt sie noch, aber sie haben ihre Natur geändert. Die hier kurz skizzierte Präventionslogik zielt nicht darauf, die wahre Natur der Kranken oder den Wesenskern der Subjekte zu isolieren und zu identifizieren. Dies ist ein Unterfangen, das offenbar nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig ist. Die Wahrheit ist: Es gibt keine innere Wahrheit des Subjekts hinter den Erscheinungen. Es existieren jedoch – und darin besteht die Verschiebung des Wahrheitsregimes – Indikatoren und Faktoren, “Suszeptibilitätsgene” und Risikopersonen, ja sogar – um die Virtualisierung auf die Spitze zu treiben – “mögliche Risikopersonen”. Die klassischen Präventionsstrategien bauten auf dem Wissen um die “Wahrheit” des Subjekts auf: Dem Verbrechersubjekt ging sein Schatten voraus, mochte dieser Schatten in einer schlechten Kindheit oder in schlechten Genen bestanden haben. In dem oben skizzierten Präventionsparadigma gibt es nur noch Schatten – ohne ein Subjekt. Das Subjekt ist ein Schatten seiner selbst: ein Faktorenbündel und ein Risikokomplex in einem Schattenreich (vgl. dazu Castel 1983).

Das operative Vorgehen des Kompetenznetzwerks erinnert weniger an polizeiliche Aufgaben der konkreten Gefahrenabwehr und Täterfeststellung als an die verdeckte Praxis von Geheimdiensten: Die Genomanalyse funktioniert hier als ein technisch-informationelles Wissen, das es ermöglicht, “dunkle” Codes zu dechiffrieren und “unbekannte” Genorte zu lokalisieren. Im Rahmen dieser Forschung ist prinzipiell jeder verdächtig, Träger von “riskanten” Genen zu sein. Wir sind alle asymptomale Kranke, scheinbar gesund verbergen wir eine Vielzahl von Risiken, ja mehr noch: Wir sind diese Risiken. Schizophrenie oder Depression liegen weder in unserer Natur oder in unseren Genen noch sind sie in der Erziehung oder dem sozialen Umfeld begründet, sondern sie manifestieren sich je nach Kontext und Konstellation.

IV. Normalität und Pathologie in einer postgenomischen Biologie: Eine Antizipation

Die kurze Analyse der beiden Forschungsverbünde, ihrer erkenntnisleitenden Annahmen und ihrer präventionspolitischen Ziele, deutet nicht darauf hin, dass der Gendiskurs der Vergangenheit angehört. Anders als Keller annimmt, könnte man eher von einem Erfolg als von einem Scheitern des genetischen Determinismus sprechen. Genauer: Der Erfolg besteht in einer “strategischen Wendung” seines Misserfolges, die jenem “Scheitern” des Gefängnisprogramms ähnelt, von dem Foucaults Überwachen und Strafen handelt. Foucault zeigt darin bekanntlich, dass – anders als geplant – die Einrichtung von Gefängnissen im 19. Jahrhundert die Verbrechen nicht beseitigte. Die Institutionalisierung der Haftstrafe produzierte vielmehr “einen Effekt, der im Vorhinein absolut nicht vorgesehen war, und der nichts zu schaffen hat mit der strategischen List irgendeines meta- oder transhistorischen Subjekts, das ihn geahnt oder gewollt hätte. Dieser Effekt ist die Konstituierung eines Milieus der Delinquenz gewesen. [...] Das Gefängnis hat die Rolle der Filtrierung und Konzentration, der Professionalisierung und Abschließung eines Milieus der Delinquenz übernommen. Ungefähr seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts erlebt man eine unmittelbare Wiedernutzbarmachung dieses unfreiwilligen und negativen Effekts in einer neuartigen Strategie, die in gewisser Weise den leeren Raum wieder aufgefüllt, oder, anders gesagt, dessen Negativität ins Positive gekehrt hat: das Milieu der Delinquenz wurde zu diversen politischen und ökonomischen Zwecken [...] ausgenutzt. Das nenne ich die strategische Wiederauffüllung des Dispositivs” (Foucault 1978, S. 121 f.).

In ähnlicher Weise können wir heute von einer “strategischen Wiederauffüllung” des Gendiskurses durch Risikokonzepte und Netzwerkstrukturen sprechen. Sicherlich hat die Kritik am genetischen Determinismus eine entscheidende Rolle bei dessen Transformation gespielt. Die Widerstände gegen das genozentrische Weltbild und die Hinweise auf die Komplexität der Genaktivität wurden als systemische Rückkopplungen in den Gendiskurs eingebaut und als biowissenschaftliche Ressource genutzt. An die Stelle eines absolutistisch-souveränen Gendiskurses tritt eine scheinbar pluralistisch-dezentrale Netzwerkkonzeption, die jedoch weiterhin der Suprematie der Gene verpflichtet bleibt. Mögen in einer postgenomischen Biologie eindeutige Determinationsverhältnisse eine geringere Rolle spielen als bisher, dem Bezug auf genetische Strukturen und deren Primat im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren kommt weiterhin eine zentrale Bedeutung zu. Die Unsicherheit oder die Unklarheit über Bedingungs- und Verursachungsverhältnisse wird einerseits zum Motor weiterer Forschungen; sie erzeugt andererseits ein Klima der Angst und der Verunsicherung, in dem sich die biomedizinische Forschung als Hoffnungsträgerin und Produzentin von Sicherheit empfehlen kann.

Der epistemologische Übergang zu postgenomischen Netzwerken und der verstärkte Rückgriff auf Risikokalküle in der biomedizinischen Forschung impliziert eine Veränderung im Konzept der genetischen Norm. Auch in diesem Fall handelt es sich weniger um eine Ablösung oder Auflösung von normativen Konzepten als um deren Reformulierung. Statt von einem menschlichen “Standardgenom” wurde in den angeführten Projekten von individuell variablen genetischen Profilen ausgegangen, die für jeweils unterschiedliche Wirkungen von Medikamenten, Nahrungsmitteln oder die Entwicklung des Krankheitsverlaufs verantwortlich sind. Zu beobachten ist also eine Bewegung, die von der Annahme der genetischen Homogenität der Bevölkerung zur Heterogenität, von Einheitlichkeit zu Variabilität führt. Damit verändert sich auch die Bedeutung von “normal” und “pathologisch”. Eine bestimmte genetische Abweichung kann etwa Krankheitsrisiken herabsetzen oder Empfindlichkeiten verringern, sie ist nicht per se pathologisch.

Mit dieser “flexiblen” Repräsentation von Normalität (vgl. Martin 1994) verschieben sich die Formen der möglicher Intervention. Das Interesse für Unterschiede und Variationen dürfte einerseits dazu führen, dass die rigide disziplinäre Norm zunehmend verblasst, die jede Abweichung problematisierte oder pathologisierte. Andererseits wird uns vermutlich in Kürze noch nachdrücklicher wissenschaftlich bewiesen werden, dass Ungleichheiten die natürlichste Sache der Welt seien. Zwar könnte es durch Forschungserfolge im Bereich der Nutrigenomik, der Pharmokogenomik und ähnlicher Richtungen der Genomforschung, die auf eine personalisierte oder maßgeschneiderte Medizin abzielen, zu einer Verringerung von Allergien oder einer höheren Verträglichkeit von Medikamenten kommen. Erwartbar ist jedoch auch eine Akzentverschiebung, welche bei der Suche nach den Ursachen für unerwünschte Neben- oder Wechselwirkungen nicht mehr bei Medikamenten oder Umweltschäden ansetzt, sondern bei den genetisch definierten “Empfindlichkeiten” der Individuen: Hatte man bisher das schädigende oder unwirksame Medikament verantwortlich gemacht, so in Zukunft vielleicht die “unpassende” genetische Ausstattung der Kranken.

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Anmerkungen

* Zuerst erschienen in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Heft 3, 2002, S. 400-425.Zurück zur Textstelle

  1. Diese Vermutung hat Keller bereits relativ früh in einer vorangegangenen Veröffentlichung formuliert: “Indeed, it is one of the great ironies of the Human Genome Initiative that, while relying on and fostering both the notion of DNA as master molecule and the conception of genes as exclusive loci of biological control, this program has actually contributed to a shift in focus: away from genes as causal agents and to genes as components of more-complex networks that implicate the entire organism. There are even indications that some of the experimental work this very program sponsors has already begun to subvert the simplistic model on which it relies” (Keller 1994, S. 94).Zur historischen Herausbildung des Gendiskurses in Abgrenzung zur Embryologie s. Keller 1998, S. 19-63.Zurück zur Textstelle
  2. Keller schränkt ihr Urteil allerdings insofern ein, als sie die “Nützlichkeit” des Gendiskurses für drei Bereiche herausstellt: “An erster Stelle ist hier die Bequemlichkeit des Gendiskurses als ‚Betriebskurzschrift’ für Wissenschaftler zu nennen, die in spezifischen experimentellen Kontexten arbeiten. Darüber hinaus identifiziert der Gendiskurs konkrete Hebel oder Griffe, mit denen sich spezifische Arten von Veränderungen hervorrufen lassen. Schließlich ist der Gendiskurs auch ein unbestritten wirkungsvolles Überredungsinstrument, das nicht nur der Förderung von Forschungsprogrammen und ihrer kontinuierlichen Finanzierung dient, sondern ebenso [...] dem Vertrieb der Produkte einer rasch expandierenden Biotech-Industrie” (Keller 2001, S. 22 f; vgl. S. 178-184).Zurück zur Textstelle
  3. Nur zwei prominente Beispiele: Der Nobelpreisträger und Mitentdecker der DNA-Struktur James Watson illustrierte die Bedeutung des Humangenomprojekts für die Medizin des 21. Jahrhunderts mit folgenden Worten: Wer über Krankheiten forsche, “ohne die Gene zu berücksichtigen, verhält sich wie ein schlechter Detektiv, der einen Mordfall aufklären will, ohne den Mörder zu finden” (zit. nach Eberhard-Metzger 1999, S. 68). Daniel Koshland, der ehemalige Herausgeber der Zeitschrift Science, forderte vehement die Unterstützung des Humangenomprojekts, da man sich sonst “einer Unterlassungssünde schuldig” mache, indem es versäumt werde, “eine großartige neue Technologie in die Praxis umzusetzen, um den Armen, Kranken und Behinderten zu helfen” (zit. nach Keller 1995, S. 284).Zurück zur Textstelle
  4. Hans-Jörg Rheinberger weist auf den performativen Charakter des HGPs hin: “In den Anfängen des Genomprojekts stand keines der Mittel zur Verfügung, mit dem die Aufgabe einer Sequenzierung der ca. drei Milliarden Basenpaare eines menschlichen Genoms mit Aussicht auf Erfolg auch nur hätte in Angriff genommen werden können. Das Programm selbst hat einen Mechanismus in Gang gesetzt, über den diese Mittel überhaupt erst Gestalt annehmen” (1996, S. 293).Zurück zur Textstelle
  5. Hennen et al. weisen darauf hin, dass die Zahl der im so genannten McKusick Katalog verzeichneten Krankheitsbilder, für die genetische Ursachen bekannt sind, am 1.12.1998 10.000 gegenüber 5.000 im Jahr 1992 betrug (Hennen et al. 2000, S. 45).Zurück zur Textstelle
  6. Für Kitcher stellt die Aussage, bestimmte Krankheiten seien “genetisch determiniert” eine Forschungshypothese dar, die eher ein Unwissen markiere als eine Feststellung über Tatsachen enthalte oder Schicksalhaftigkeit impliziere: “Derzeit erscheint Chorea Huntington genetisch determiniert, denn wir wissen nicht, worin die Veränderungen der Umgebung bestehen müßten, damit die Krankheit nicht ausbricht. Doch die Forscher wollen zeigen, daß nicht die Krankheit genetisch determiniert ist, sondern etwas anderes, von dem sich die Krankheit durch sinnvolle Änderungen der Umwelt abgrenzen läßt. [...] Unsere gegenwärtige Einstellung gegenüber PKU [eine genetische Krankheit, bei der ein Enzymdefekt verhindert, dass die Aminosäure Phenylalanin in Tyrosin umgebaut werden kann; T.L.] nimmt dieses optimistische Szenario vorweg. Vor der Entwicklung spezieller Diäten, die PKU-kranken Kindern heute eine normale Entwicklung erlaubt, hielt man diese Krankheit, die sich am auffälligsten in schwerer geistiger Retardierung äußert, für genetisch determiniert. Nach der inzwischen gewonnenen Erkenntnis, daß die unmittelbaren Ursachen der kognitiven Störung in der zu hohen Konzentration von Phenylalanin und dem zu niedrigen Tyrosinspiegel liegt, können wir jetzt die manifestierte Krankheit von den zugrundeliegenden Genen trennen. Genetisch ist nur die Unfähigkeit, Phenylalanin auf normalem Weg in Tyrosin umzuwandeln; diese Störung läßt sich jedoch zumindest weitgehend kompensieren, indem man eine Umgebung schafft, in der die Phenylalanin-Zufuhr drastisch gesenkt ist” (Kitcher 1998, S. 272 f, Hervorheb. im Orig.).Zurück zur Textstelle
  7. Vgl. auch Bahnsen/Willmann 2001 zur Kontroverse über die Entdeckung eines “Sprachgens”.Zurück zur Textstelle
  8. Die Nähe zu systemtheoretischen Grundannahmen und dem Konzept der Autopoesis wird auch von den beteiligten Forschern gesehen. James Bailey vom Institut für Biotechnologie in Zürich zieht aus der Beobachtung, dass “in vielen Fällen einzelne Gene den Phänotyp gar nicht beeinflussen oder aber ihr Einfluss nicht in einer simplen, offensichtlichen Weise verläuft” folgende Lehre für eine funktionelle Genomik. Er geht von der Hypothese aus, “dass Zellen robuste Systeme sind, die gegen zahlreiche Mutationen, vor allem aber gegen jene, die kritische, ‚zentrale’ Aktivitäten betreffen, immun sind. Dies lässt den Schluss zu, dass zahlreiche Gene, Signale oder regulatorische Wechselwirkungen keinen irgendwie gearteten signifikanten Effekt auf den Phänotyp haben, außer wenn zugleich auch eine bestimmte Gruppe anderer Gene verändert wird”. Für Bailey und viele andere ist heute klar: “Die gegenwärtige Lawine vollständiger Genomsequenzen [...] macht heute eine grundlegende Neuorientierung der Biowissenschaften in Richtung Integration und Systemverhalten notwendig” (zit. in Keller 2001, 164 f.; 166)Zurück zur Textstelle
  9. So erklärt John Bell, Professor für klinische Medizin in Oxford: “Examples such as the Apo E4 [ein Gen, das mit Alzheimer in Verbindung gebracht wird; T.L.] raise the question of whether a genetic subceptiblity might best be treated as another ‘risk factor’. Other risk factors (blood pressure or cholesterol concentrations) show similar patterns of incomplete penetrance and have been considered for population screening. There is little reason that risk factors based on DNA should not be treated the same way. Genetic factors that can be used to predict the risk of a population rather than an individual should be viewed in the same way as other risk factors, particularly if safe treatment or environmental modification were available. [...]. A combination of conventional and genetic risk factors may be optimal for identifying populations at risk” (Bell 1998, S. 620).Zurück zur Textstelle
  10. Die folgenden Analysen der Forschungsprojekte wurden in einer ersten Fassung publiziert in: Gen-Ethischer Informationsdienst, 18. Jg., Nr. 151, 2002, S. 24-26 sowie in: Soziale Psychiatrie, 26. Jg., Heft 3, 2002, S. 27-29.Zurück zur Textstelle
  11. Gefördert wird weiterhin die Region Braunschweig/Göttingen/Hannover mit dem Projekt “Funktionelle Genomanalyse – Plattform für Diagnostik und Therapie” mit 30 Mio DM sowie die Region Stuttgart/Neckar-Alb mit ihrer Schwerpunktsetzung in der “Regenerationsbiologie” mit 35 Mio. DM.Zurück zur Textstelle
  12. Der Antrag findet sich im Internet unter der Adresse: www.nutrigenomik.de.Für einen aktuellen Literaturüberblick über dieses relativ junge Forschungsfeld s. Elliott/Ong 1992.Zurück zur Textstelle
  13. Dabei spielen natürlich auch gesundheitsökonomische Überlegungen eine große Rolle. Durch rechtzeitigen Eingriffe im Bereich ernährungsabhängiger Krankheiten sollen die Kosten des Gesundheitssystems gemindert werden: “In einer vom Bundesgesundheitsministerium herausgegebenen Monographie haben Epidemiologen und Volkswirte berechnet, dass sich die durch ernährungsabhängige Erkrankungen hervorgerufenen Kosten allein für die alten Bundesländer auf rund 80 Milliarden DM pro Jahr belaufen und damit ca. ein Viertel der gesamten Gesundheitskosten ausmachen” (Antrag, S. 5).Zurück zur Textstelle
  14. Dieses “neu zu etablierende Netzwerk” (Anhang Antrag, S. 58) schließt Beiträge aus dem Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften nicht aus; freilich ist deren mögliche Beteiligung darauf beschränkt, größere Akzeptanz für die anvisierten Produkte zu schaffen: “Zur Auswertung und Umsetzung der Ergebnisse für die Öffentlichkeit muss das Netzwerk deshalb um Vertreter aus den Bereichen Soziologie und Medienwissenschaften erweitert werden” (ebd.).Zurück zur Textstelle
  15. Christian Barth vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung sieht eine enge Verbindung von Veranlagung und Verantwortung: “Viele Krankheiten haben zugleich eine starke genetische Komponenten und eine starke Umweltkomponente. Wir versuchen, die Zusammenhänge offenzulegen und den Menschen Informationen an die Hand zu geben, wie sie sich vernünftig verhalten können” (zit. nach Schwägerl 2001).Zu dieser Konzeption eines “pursuit of healthiness”, in dem Gesundheit ein sichtbares Zeichen von Initiative und Verantwortungsbereitschaft darstellt und Krankheit auf einen mangelnden Willen oder eine unzureichende Selbstführung verweist s. Greco 1993; Kühn 1993; Fülgraff 1994. Zurück zur Textstelle
  16. Es gibt darüber hinaus auch medizinische Kompetenznetze für Rheuma, Hepatitis, Depression, Parkinson etc. Zurück zur Textstelle
  17. Alle Zitate sind – falls nicht anders vermerkt – der Selbstdarstellung des Netzwerks “Schizophrenie” entnommen (www.kompetenznetz-schizophrenie.de). Außerdem wurde eine vom Netzwerk erstellte Broschüre mit dem Titel Ein Netz für den Menschen herangezogen, die unter der angegebenen Internetadresse zum Herunterladen bereitsteht.. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Text. Zurück zur Textstelle
  18. Dem Kompetenznetzwerk zufolge handelt es sich bei der Schizophrenie um die teuerste psychische Erkrankung. Sie “belastet das Gesundheits- und Sozialsystem der Bundesrepublik mit jährlich rund sieben Milliarden Mark” (S. 7). Kosten-Nutzen-Analysen spielen innerhalb des Kompetenznetzes insgesamt eine herausragende Rolle: “Der wirtschaftliche Aspekt soll in nahezu allen Projekten berücksichtigt werden. Um festzustellen, welche Kosten in welcher Höhe für welche Behandlungsformen anfallen, wird ein generell einsetzbarer Leitfaden und Leistungskatalog erstellt” (S. 22).Zurück zur Textstelle
  19. Zur Rolle von Hausärzten als “gatekeeper” für Patienten mit genetischen Risiken s. bereits Harris/Harris 1995: “For example, a family with a boy with Duchenne muscular dystrophy will need, at different times, paediatric and orthopaedic advice, respite care, and social services. Female relatives who are at risk of bearing an infant with the disease may need to be identified an offered genetic counselling; molecular diagnosis to see whether they are carriers of the gene; and, a little later, prenatal diagnosis involving obstetric and medical genetics services. General practitioners, are however, the first point of contact and largely responsible for coordinating these agencies and for the continuing care that these patients need” (S. 579).Zurück zur Textstelle
  20. Die Pharmakogenetik bzw. -genomik verbindet die klassische Pharmaforschung mit der Genomforschung. Diese Forschungsrichtung soll “maßgeschneiderte” Medikamente liefern, die auf die individuelle genetische Ausstattung zugeschnitten sind, so dass Neben- und Wechselwirkungen besser kontrolliert werden können. Gesucht wird auch nach Antworten auf die Frage, warum ein Medikament bei manchen Menschen wirkt und bei anderen nicht. Zurück zur Textstelle
  21. Die Hypothese einer starken genetischen Grundlage der Schizophrenie widerspricht nicht nur den neuesten Forschungsergebnissen (vgl. den Überblick in Russo 2002). Die Prozentangabe zeigt darüber hinaus, dass innerhalb des Kompetenznetzes immer noch von einer eindeutigen und eigenständigen Kausalität der Gene ausgegangen wird, die sich klar von “Umwelteinflüssen” abgrenzen lässt – sonst machte die Prozentangabe keinen Sinn. Konsequenter ist da der französische Genomforscher Daniel Cohen: “Das Angeborene zählt hundert Prozent; das Erworbene zählt ebenfalls hundert Prozent. [...] Die Frage, ob man sagen kann, dieses oder jenes Verhalten beruhe zu vierzig, sechzig oder neunzig Prozent auf Angeborenem beziehungsweise Erworbenen, erschien mir immer reichlich absonderlich und lief meinem gesunden Menschenverstand zuwider. Genauso könnte man fragen, was für die Oberfläche eines Rechtecks mehr zählt – die Länge oder die Breite” (zit. nach Eberhard-Metzger 1999, S. 127; vgl. dazu auch Rose 2000)Zurück zur Textstelle
  22. Das Interesse an der Untersuchung des Zusammenspiels zwischen biologischen und psychologischen Faktoren ist nicht auf die Genomforschung beschränkt, sondern auch auf dem Gebiet der Neurowissenschaften zu beobachten. Dies zeigen beispielsweise die Ergebnisse der Feldstudien des Anthropologen Joe Dumit, die er am Brain Imaging Center der Universität von Kalifornien in Irvine durchführte. In einem Interview erklärt ein dort beschäftigter Psychiater: “For me, I see the whole biological aspect as not being contradictory or mutually exclusive form the psychodynamic aspect. I really see it as complementary and synergistic with the dynamic aspect. There are some people that see it as either/or. I see it more as a both/and type of proposition.” (zit. nach Dumit 1997, S. 96). Dumit ist der Auffassung, dass der “sowohl/als auch-Ansatz” in der Neurobiologie auf ein verstärktes Interesse stößt: “The both/and approach to psychiatry [...] involves realizing that the brain can be altered by the social environment and by genetic developments and drugs. [...] the brain remains the bearer of mental illness, but has now become an intersection for social and biological influences (Dumit 1997, S. 97; Hervorheb. im Orig.).Zurück zur Textstelle
  23. Diese herausragende Bedeutung der Molekular- und Pharmakogenetik ist keine Eigenheit des Netzwerks Schizophrenie. Auch im Kompetenznetz Depression spielt diese Forschungsorientierung eine entscheidende Rolle. Auch hier wurde ein eigenes Teilprojekt für die Untersuchung genetischer Determinanten der Depression eingerichtet: “Die Forscher suchen zum einen nach genetischen Anlagen, die für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko hinsichtlich affektiver Erkrankungen verantwortlich sind. Zum anderen wollen sie genetische Faktoren aufspüren, die den medikamentösen Behandlungsverlauf beeinflussen. Dazu müssen die Wissenschaftler die für die molekulargenetische und pharmakogenetische Untersuchungen erforderliche große Anzahl an Patienten und deren Familien untersuchen und die Daten mit einheitlichen Instrumenten erheben. Das Kompetenznetz schafft die Voraussetzungen dafür” (www.kompetenznetz-depression.de; vgl. auch Barondes 1998; eine kritische Diskussion der Suche nach den genetischen Ursache für manische Depression bietet Jordan 2001).Im Juli 2001 fand in Berlin der “7. Weltkongress für Biologische Psychiatrie” mit rund 6.000 Teilnehmern aus mehr als 80 Staaten statt. Wolfgang Gaebel, Initiator des Kompetenznetzes Schizophrenie und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie stellt in seinem Vortrag eindrücklich dar, wie die Suche nach “Risikopersonen” aussehen kann: “Ein Lehrer sagt über einen Schüler: ‚Der verhält sich aber komisch’. Der Schüler muss dann einen Fragebogen ausfüllen. Hat er einen auffälligen Score, wird er an da Früherkennungszentrum überwiesen. Dort wird dann mittels EEG, bildgebenden Verfahren, Klärung der genetischen Belastung und neurophysiologischen Untersuchungen ein Risikoprofil erstellt” (zit. nach Kröger 2001, S. 4 f.). Auf der Konferenz war offenbar der Glaube ungebrochen, dass psychische Störungen vor allem genetischen bzw. biologischen Ursprungs sind. Die Organisatoren des Kongresses zeigten sich überzeugt, dass sogar Alkoholabhängigkeit “zu etwa 50-60% genetisch determiniert” sei – auch wenn noch unklar sei, “welche Gene oder Genkombinationen im einzelnen an der Entstehung der Suchtkrankheiten beteiligt sind” (zit. nach Feyerabend 2001, S. 8).Zurück zur Textstelle
© links-netz Februar 2003