Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Der Intellektuelle nach Auschwitz

Über Jean Améry (1912-1978)

Susanne Martin

Der hundertste Jahrestag seines Geburtsdatums mag Anlass sein, an den philosophischen und politischen Schriftsteller und Intellektuellen Jean Améry zu erinnern, zumal seine Arbeiten wissenschaftlich wie öffentlich heute kaum noch rezipiert werden. Zu Unrecht, denn Améry gehört zu jenen nonkonformistischen Intellektuellen, die angesichts der erlebten Barbarei des Nationalsozialismus den Prozess von Aufklärung und Vernunft sowohl radikal in Frage stellten als auch engagiert verteidigten. Ein „Denker im Widerspruch“, dessen kritisch-aufklärerische Theorie und Praxis für eine gegenwärtige kritische Gesellschaftstheorie und Philosophie durchaus interessant sein kann.

Ohne Heimat – biografische Anmerkungen:

Améry wächst in Wien und Bad Ischl auf als Halbwaise und Angehöriger des „verarmten Bürgertums“, das, wie er später formuliert, zunehmend proletarisierte. Er besucht das Gymnasium, das er allerdings nach nur einem Jahr ohne Zeugnis verlässt. Fortan arbeitet er fast ausschließlich autodidaktisch, inspiriert vom Positivismus des Wiener Kreises, der lebenslang ein wichtiger Bezugspunkt für ihn bleiben wird. 1938 ist Améry zur Flucht nach Belgien gezwungen, wo er zunächst in Antwerpen, dann in Brüssel unterkommt. Er schließt sich der belgischen Widerstandsbewegung an, wird aber 1943 aufgrund einer „Flugzettelaffäre“ von der Gestapo verhaftet. Es beginnt die fast zweijährige Gefangenschaft in mehreren Konzentrationslagern, darunter Auschwitz-Monowitz und zuletzt Bergen-Belsen, aus dem er im April 1945 von der britischen Armee befreit wird.

Die Verarbeitung seiner Erfahrungen des Nationalsozialismus rückt später in den Mittelpunkt seines intellektuellen Schaffens, zunächst jedoch, unmittelbar nach dem Krieg ist Améry als freier Journalist tätig. Es ist insgesamt eine prekäre Lebens- und Arbeitssituation, die bis zur Veröffentlichung von Jenseits von Schuld und Sühne 1966 andauert, die schließlich den öffentlichen und finanziellen Erfolg bringt. In der Folge ist Améry in der Bundesrepublik als Schriftsteller und Intellektueller gefragt und präsent. Er prägt die seinerzeitigen Debatten über den Nationalsozialismus, schreibt und diskutiert über Politik, Literatur und Film sowie die damals einflussreichen linken Philosophien. Gleichwohl betrachtet er die zunehmende Aufmerksamkeit und Anerkennung, die er erfährt, stets ambivalent. Er sucht zwar den öffentlichen Erfolg und will als Intellektueller Einfluss nehmen, doch zugleich befürchtet er, ein „Glamourboy“ der intellektuellen Szene oder gar zum „Berufs-KZler“ zu werden.

Solche (selbst-)kritischen Betrachtungen sind ein Hinweis darauf, dass Améry die Rolle und Wirksamkeit von Intellektuellen insgesamt problematisiert. Zum einen bleibt er skeptisch gegenüber der (eigenen) kulturindustriellen Prominenz, zum anderen und mehr noch thematisiert er die historische Infragestellung des Intellektuellen, die sich mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch vollzog. Für ihn steht fest, dass traditionelle intellektuelle Selbstverständnisse mitsamt dem Prozess der Aufklärung als Prozess der Vernunft und menschlichen Emanzipation fragwürdig geworden sind. Was für denjenigen bleibt, der der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten ausgesetzt war, ist eine tiefe, nicht nur intellektuelle Entfremdung: Das Opfer kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Stattdessen ist ein fragwürdig gewordenes, widersprüchliches Denken der einzig verbleibende Ausgangspunkt für die Weiterarbeit und das öffentliche Wirken als Intellektueller.

Bewältigungsversuche eines Überwältigten:

Die Arbeit an Jenseits von Schuld und Sühne, seiner wohl berühmtesten Essaysammlung, beginnt zwanzig Jahre nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur. Nach eigenen Angaben hat Améry sich in dieser Zeit auf der Suche nach einer adäquaten Ausdrucks- und Darstellungsform des Geschehenen befunden. Er wählt schließlich eine Perspektive, die die eigenen Erfahrungen während des Nationalsozialismus zum Ausgangspunkt nimmt. Subjektivität kennzeichnet also den Zugang und bildet die Grundlage von allen fünf Essays. Dadurch sollen (falsche) Abstraktionen vermieden und stattdessen die Singularität der nationalsozialistischen Greuel und das Leid derer, denen sie widerfahren sind, deutlich werden. Amérys Darstellung ist aber alles andere als selbstreferentiell, vielmehr werden die eigenen Erfahrungen einer kritischen Reflexion unterzogen, die ihrerseits erlaubt, verallgemeinernde Einsichten zu formulieren. Die kritische Reflexion von Erfahrung gerät demnach zum zentralen Erkenntnismittel, das inmitten von Subjektivität und Singularität das Allgemeine doch noch zu erfassen vermag.

Das Ergebnis ist eine ebenso eindrucksvolle wie schonungslose Analyse des Nationalsozialismus und seiner historisch-gesellschaftlichen Bedeutung. Denn was als inkommensurabel erlebt wurde und fortan bewusst bleiben muss ist doch zugleich weit mehr als ein einmaliges Ereignis, gleichsam der „Betriebsunfall der Geschichte“. Es dokumentiert stattdessen die herrschaftliche Kehrseite menschlicher Geschichte, die freilich unter den Nationalsozialisten ihren (vorläufig) grausamen Höhepunkt erreicht. Es dokumentiert mit anderen Worten das, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als Dialektik der Aufklärung beschrieben haben: den Umschlag des Aufklärungsprozesses in neuerliche und zunehmende Herrschaft.

Améry reformuliert (wenn auch nicht ungebrochen) diese These, indem er in seinem ersten Essay An den Grenzen des Geistes den Intellektuellen und dessen aufklärerisch-vernünftiges Selbst- und Weltverständnis mit der Realität von Auschwitz konfrontiert. Im Detail zeigt er die systematische Zerstörung von Vernunft und Intellektualität, die sich angesichts der „Logik der Vernichtung“, die im Konzentrationslager übermächtig vorherrscht, vollzieht. Die aufklärerischen Gewissheiten können im Lager nicht aufrechterhalten werden, vielmehr gelangt Vernunft an ihre Grenzen, wenn nicht an ihr Ende. Diese Zerstörung der Vernunft hat eine übergeordnete Bedeutung. Denn die radikale Einsicht, die Améry ausgehend davon formuliert, lautet, dass Aufklärung insgesamt in Frage zu stellen sei. Schließlich offenbare die Menschheitsgeschichte sich überwiegend nicht als eine des Fortschritts und der Emanzipation, sondern als eine Geschichte von Gewalt und andauerndem Leid. Die Herrschaft des Nationalsozialismus illustriert das auf zugleich beispiellose wie beispielhafte Weise. Deshalb schließt Améry mit einem düsteren Resümee: „So war die Geschichte, und so ist sie.“

Aufklärung ist fortzusetzen:

Komplementär zu diesem Essay können spätere Arbeiten Amérys gelesen werden, in denen er sich emphatisch zu den Versprechen und Zielen der Aufklärung bekennt. Darin hält er, trotz allem, was geschehen war, und entgegen seinen eigenen Einsichten, an der Vernunft und ihrer emanzipatorischen Funktion fest. Mehr noch, er wendet sich entschieden gegen eine aus seiner Sicht allzu radikale Kritik, auch die der Dialektik der Aufklärung. Demgegenüber fordert er ein differenziertes Verständnis: Selbst wenn die Missstände und Defizite der Aufklärung offenkundig seien, habe sie doch insgesamt zur Humanisierung und Emanzipation des menschlichen Lebens geführt. Sie dürfe daher nicht aufgegeben oder gar gänzlich verworfen werden.

In solchen Betrachtungen rekurriert Améry auf das klassische Aufklärungsverständnis, nimmt Bezug auf die Versprechen der Französischen Revolution und die in ihrer Tradition stehenden Denker. Dass dieser Rückbezug aber nicht ungebrochen erfolgt, mag wenig überraschen. Es bleibt dabei: Das Selbstverständnis und die Rolle des aufklärerischen Intellektuellen sind historisch fragwürdig (gemacht) worden und können nur noch widersprüchlich als Bezugspunkt dienen. Daher ist ein „Denken im Widerspruch“ erforderlich, das die Kritik wie die Fortsetzung der Aufklärung gleichermaßen verfolgt. Genau darin, so lässt sich Améry verstehen, besteht die zentrale Aufgabe der Intellektuellen.

Das ist allerdings unter heute veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht ohne Weiteres zu reproduzieren. Im Gegenteil, in der sogenannten Wissensgesellschaft wird die herrschaftliche Vereinnahmung von intellektueller Arbeit forciert, nicht zuletzt indem kulturindustrielle Kriterien wie Erfolg und Prominenz zum vorrangigen Maßstab geraten. Es wäre daher vereinfacht und sogar nostalgisch, ungeachtet der veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen auf der Form von nonkonformistischer Intellektualität, die Améry repräsentierte, zu bestehen. Denn ein solches emphatisches intellektuelles Selbstverständnis, das schon damals brüchig war, ist gegenwärtig noch einmal komplizierter geworden. Es kann, so scheint es, nur äußerst zurückhaltend reformuliert werden als der Versuch bzw. die Anstrengung, die eigene Arbeit nicht umstandslos den herrschenden Vorgaben zu unterwerfen. Folgt man dieser Interpretation, dann ließe sich mit Améry immerhin ein Anspruch der intellektuellen Arbeit beschreiben und festhalten: den einer kritisch-emanzipatorischen Theorie und Praxis gegen die Dominanz von Kulturindustrie.

© links-netz August 2012