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Partizipation, Demokratie und ökonomische Umverteilung

Die Bewegung der Landlosen (MST) und der partizipatorische Haushalt (OP) in Brasilien

Luciano Martorano

Brasilien ist ein Land, das trotz eines enormen Reichtums an natürlichen Ressourcen, einige der höchsten Indikatoren für sozioökonomische Ungleichheit in der Welt aufweist. Gegenüber einer Mehrheit von unterbezahlten Arbeitnehmern, Arbeitslosen und Millionen Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, gibt es eine kleine Minderheit von großen Eigentümern, Großgrundbesitzern und Bankern, welche in der Regel mit dem internationalen Kapital verbunden sind und die sich den größten Anteil des Volkseinkommens aneignen. Gleichzeitig ist Brasilien aber auch ein Land, in dem sich bemerkenswerte neue gesellschaftliche Entwicklungen abzeichnen.

In den letzten Jahren, haben zwei Experimente die Aufmerksamkeit vieler Wissenschaftler und Aktivisten erregt, sowohl national als auch international: die Bewegung der Landlosen (Movimento dos sem-terra – MST) und der partizipatorische Haushalt (Orçamento Participativo – OP). Beide werfen die Frage nach der Beziehung zwischen Partizipation, Demokratie und ökonomische Umverteilung auf. Der Zweck dieses kurzen Berichts ist es, einige der wichtigsten Elemente dieser innovativen Erfahrungen aufzuzeigen und auf ihre Grenzen hinzuweisen.

Mit dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1985 gab es in Brasilien eine starke Zunahme der sozialen Bewegungen – Gewerkschaften, Studenten, Nachbarschaften, Frauen und Jugend. Während der 90er Jahre hatten viele von ihnen im Zuge des neoliberalen Projektes der so genannten Globalisierung an Stärke verloren. Außerdem war die anfängliche Erwartung enttäuscht worden, dass ein demokratisches System mit größerer Freiheit für die Parteien, mit Wahlen und regelmäßigeren Regierungswechseln für sich allein tiefgreifende soziale Veränderungen fördern könnte. Stattdessen wuchs die politische Apathie – zum Teil verdeckt durch die Tatsache, dass in Brasilien die Teilnahme an der Wahl obligatorisch ist. Wie man weiß ist einer der Faktoren, die eine größere soziale und politische Beteiligung hervorrufen die Suche nach der Befriedigung der Grundbedürfnisse (Arbeit, Wohnung, Bildung, Gesundheit, usw.). Das heißt, dass bei allen wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Hindernissen für eine größere Beteiligung, die kapitalistische Gesellschaften aufweisen, in der Initiative und der Organisation der am stärksten Benachteiligten ein notwendiges Mittel für die Verwirklichung ihrer Forderungen zu sehen ist. Dies gilt insbesondere für Länder wie Brasilien, wo die universellen und grundlegenden sozialen Rechte nur schwach ausgebildet sind. Dies ist der Hintergrund, vor dem die MST und der OP zu sehen sind: Brasilien ist eines der Länder mit der höchsten Konzentration des Landbesitzes der Welt: 1% der Grundeigentümer besitzen circa 50% der verfügbaren Fläche; und in Porto Alegre, der ersten Stadt, in welcher in den achtziger Jahren der partizipatorische Haushalt angewandt wurde, beziehen sich zwei Drittel der Forderungen im Rahmen der Erstellung des OP auf die sanitäre Grundversorgung (Wasser und Abwasser) und die Asphaltierung von Straßen in Stadtteilen, wo viele Arbeiternehmer wohnen, die vom Land kommen.

Welche Erfahrungen sind nun mit der MST und den OPs in Bezug auf den Zusammenhang von politischer Partizipation, Demokratisierung, Umverteilung von Einkommen und wirtschaftlicher Entwicklung gemacht worden?

Unter den Forschern gibt es einen Konsens darüber, dass die MST, der die Mehrheit der landlosen Bauern und Arbeitslosen angehört, einer der größten Protestbewegungen Lateinamerikas ist. Ein Grund für die Wirksamkeit ihres Kampfes ist das Bemühen, ihre politische und organisatorische Autonomie gegenüber dem Staat zu erhalten – und das auch unter der Regierung Lulas, dem sozialdemokratischen Sieger der Präsidentschaftswahlen von 2002. Die MST verteidigt nicht nur ihre Unabhängigkeit vom Staat, sondern auch von den politischen Parteien, obwohl viele ihrer Anführer und Aktivisten aus verschiedenen Organisationen der brasilianischen Linken oder aus den fortschrittlichen Flügeln der katholischen Kirche kommen. Darüber hinaus basiert ihre Tätigkeit auf der Idee des Lernens der Massen als Ergebnis ihrer eigenen Mobilisierung (Loureiro, 2005).

Unter der Fahne der Bodenreform, in der die konservativen Kräfte des Landes ein Synonym für Sozialismus sehen, hat die MST in jüngster Zeit auch das auf dem „Agro-Business“ beruhende Muster der landwirtschaftlichen Entwicklung in Frage gestellt. Besonders bekannt ist die MST für die Besetzung (ocupação) von Grundeigentum, dessen Besitzurkunde strittig ist. In diesen Besetzungen werden Produktion und das Leben in neuen und innovativen ökonomischen und politischen Praxen organisiert (Harnecker). Obwohl die MST eine übergreifende nationale Organisation (mit gewählter Führung, Kongressen und Konferenzen) ausweist, ist jede dieser Siedlungen (assentamento) aufgefordert, politische und wirtschaftliche Lösungen zu suchen, die optimal auf ihre jeweilige Realität zugeschnitten sind. Jede Siedlung muss ihre eigene Autonomie innerhalb der MST-Bewegung wahren. Den Siedlern werden im Wege von Konzessionen Flächen übertragen, die diese jedoch nicht verkaufen dürften, weil das Land als ein öffentliches Gut betrachtet wird. Die führenden Instanzen werden gewählt und die wichtigsten Entscheidungen müssen in Versammlungen getroffen werden. Mit der Ablehnung eines einzigen, für das ganze Land verbindlichen Modells versucht die MST eine Praxis der radikalen Demokratie zu entwickeln, die für das Erreichen ihrer politischen und wirtschaftlichen Ziele als notwendig betrachtet wird.

Ein weiterer wichtiger Ansatz ist der Übergang von Einzel- oder Familienarbeit zu kooperativen Formen der Produktion oder zumindest einer Kombination aus beiden Formen. Dadurch soll das Risiko vermieden werden, dass die Bauern nach Erhalt eines Stückes Boden als isolierte Kleineigentümer auftreten. Die MST hat festgestellt, dass die Bildung von kleineren Produktionseinheiten die Beteiligung und die Kontrolle durch die Betroffenen erleichtert, und umgekehrt, dass je größer die Einheiten sind, desto teurer und umfangreicher der Verwaltungsapparat wird. Daher die Notwendigkeit einer organisatorischen Flexibilität. Die Erfahrung hat auch gezeigt, dass die veränderten sozialen Beziehungen zwischen den Siedlern die Diskussion über Probleme und notwendige Maßnahmen erleichtern und die Isolation der Bauern vermeiden. Dies führt auch zu einer Erhöhung der Beteiligung von Frauen. Sowohl in der Produktion als auch in der politischen und sozialen Organisation der Siedlungen steigt mit der Beteiligung die Chance auf einen Erfolg bei der Umsetzung von Formen der Selbstverwaltung.

Neben der Produktion, dem Handel und der internen Organisation – jede Siedlung hat eine unterschiedliche Anzahl von Familien – wird ein breites Spektrum von Bildungs- und kulturelle Aktivitäten angeboten. Die MST hat nicht nur ihre eigenen Schulen – einschließlich der für die Ausbildung von Lehrern, sondern auch eine nationale Schule, die sich auf die Bildung der Kader konzentriert. Aus der Analyse der Erfahrungen, wie sie in der ehemaligen UdSSR, in China und Kuba nicht nur bei der Agrarreform, sondern auch bei der Kollektivierung auf dem Land gemacht wurden, betont die Führung der Bewegung die Rolle der politischen Bildung für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Arbeitnehmer. Ohne sie wäre ihre Autonomie in Frage gestellt. Besondere Aufmerksamkeit wird darauf verwandt zu zeigen, dass die Eroberung des Bodens nur ein erster Schritt hin zu einer radikalen Veränderung der Gesellschaft ist. Die MST kämpft für ein neues Genossenschaftswesen, das nicht nur zum Ziel hat, für den kapitalistischen Markt zu produzieren. So beabsichtigt die MST, die Logik der Solidarität der Logik des Marktes gegenüber zu stellen, und die Kriterien von Produktivität und der Effizienz neu zu formulieren. Auch im Hinblick auf die Gewinnung der Unterstützung der Stadtbewohner und nicht nur weil die MST immer unter der Druck der Polizei und der Justiz steht, wird danach gestrebt, eine „anziehungskräftige Alternative zu schaffen“ mit Genossenschaftsprodukten, die in der Regel billiger und qualitativ besser als die der traditionellen Landgüter sind.

Die Bewegung führt viele konkrete ökologische Maßnahmen durch. Darunter die Suche nach alternativen Technologien, die auf dem Markt nicht angeboten werden; die Vermeidung eines übermäßigen Einsatzes von Pestiziden; die Erzeugung von ökologischen Saatgut; die Experimente mit natürlichen Produkten zur Schädlingsbekämpfung usw. Für die MST bildet der Sozialismus eine Alternative, um den großen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen Brasiliens zu begegnen. Zusätzlich ist es ihr gelungen, die soziale Frage nachhaltig auf die nationale politische Agenda zu setzen. Die Praxis der Siedlungen zeigt, wie die Grundlagen einer partizipativen Demokratie und der Selbstverwaltung sowie der Keim einer Wirtschaft, die nicht auf Gewinn ausgerichtet ist, aufgebaut werden können. In diesem Sinne bieten die MST-Camps eine Art Gegen-Beweis, welcher die kapitalistische Ideologie praktisch in Frage stellt.

In geringerem Maße hat auch die Erfahrung des partizipatorischen Haushaltes dazu beigetragen, neue Wege im Kampf für eine weitere Demokratisierung der Gesellschaft und des brasilianischen Staates zu eröffnen. Die Besonderheit liegt hier darin, dass der OP nur auf Initiative der kommunalen Verwaltung, einer rechtlich institutionalisierten Behörde, die aus Wahlen hervorgeht, umgesetzt werden kann. Nach der Erfahrung von Porto Alegre, die jetzt in über 150 Städten im ganzen Land praktiziert wird, ist der OP ein wichtiges Mittel, um die Beteiligung der Bewohner von Armenvierteln im Kampf für eine bessere Verteilung der Haushaltsmittel der Kommunen zu fördern. Zum Beispiel gab es in Porto Alegre, zwischen 1992 und 2000 eine Umschichtung der Investitionen von den reichsten Stadtvierteln der Stadt zu Gunsten der ärmsten. Es wurde auch eine Senkung der Ausgaben für die Verwaltung und Planung (von 25% im Zeitraum 1984–1988 auf 16,6% im Zeitraum 1990–2000) und eine Erhöhung der Ausgaben für Bildung, Kultur, Gesundheit und Hygiene (die letzteren von nur 13,2% auf 19,1%) (Marquetti) erreicht. Es ist daher nicht einmal überraschend, dass sogar die Weltbank die Umsetzung der OP in anderen Städten zu empfehlen begann. Ihrer Ansicht nach kann er zu einer größeren Legitimität der Stadtverwaltungen beitragen. Noch mehr: der OP bringt eine Art von „Öffentlichkeit“ mit sich, die vor allem für die weniger begünstigten Teile der Bevölkerung die gesellschaftliche Organisierung unterstützt. Deswegen ist der OP auch ein Thema der politischen Auseinandersetzung zwischen den Parteien geworden und darin widerspiegelt sich der Kampf für die Änderung oder Erhaltung der politischen und sozialen Situation auf der kommunalen Ebene.

Es ist klar, dass sowohl die MST als auch der OP mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Unter ihnen erwähnen wir hier nur die wichtigsten: Erstens der kontinuierliche Einfluss des Staates, unter anderem mit gesetzlichen Beschränkungen. Im Fall der MST betrifft dies zum Beispiel das Recht auf eine Legalisierung der Genossenschaften, die sie in die Lage versetzt, ihre Produkte vermarkten können. Oder die Wirksamkeit der Zentralbank, die die Normen für die Kreditgenossenschaften festlegt, ohne die man keine Bankkredite bekommen kann. Zweitens die Bereitschaft der Bundesregierung, die Forderungen und Aktionen der MST nicht zu bekämpfen und zumindest zu tolerieren und sie damit in die Lage zu versetzen, überhaupt mit einem amtlichen Organ verhandeln zu können. Unter der vorhergehenden Regierung von Fernando Henrique Cardoso, die sich sehr wenig mit den sozialen Problemen beschäftigt hat, waren die Aktionen der MST noch sehr viel schwieriger zu konsolidieren. Im Falle der OP reicht, wie bereits erwähnt, ein einfacher Wechsel in der lokalen Verwaltung aus, um das Experiment zu stoppen. Darüber hinaus funktioniert der OP normalerweise nur mit maximal 20% des gesamten städtischen Haushaltes. Und schließlich drittens die Existenz des kapitalistischen Marktes und eine föderale Agrarpolitik, die auf eine Aufrechterhaltung der geltenden brasilianischen Agrarstruktur gerichtet ist. Beides erschwert die Entwicklung alternativer Produktionsformen erheblich.

Literatur

Harnecker, Marta. Sin Tierra – Construyendo Movimiento Social. (pdf)

Loureiro, Isabel (2006). „Rosa Luxemburg und die Bewegung der Landlosen in Brasilien“, in: Utopie Kreativ Nr. 185, März 2006. (pdf)

Marquetti, Adalmir. „Participação e redistribuição – o Orçamento Participativo em Porto Alegre”, in: www.democraciaparticipativa.org

© links-netz Februar 2010