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Ingo Stützle, Austerität als politisches Projekt

Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise, Westfälisches Dampfboot, Münster 2013 (399 S., 36,90 €)

Carolin Müller

Wenn heute über die ökonomische „Krise“ in Europa gesprochen wird, dann vor allem im Kontext der „Staatsschuldenkrise“ der, so die dominante Meinung, nur mit Politiken der Austerität und Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber verschuldeten Staaten begegnet werden kann. Entsprechend werden Sparprogramme auferlegt und staatliche Ausgaben gekürzt. Die verheerenden Folgen davon sind in Ländern wie Griechenland offensichtlich, vor allem mit Blick auf das Gesundheitssystem und die katastrophalen Bedingungen für Geflüchtete. Ingo Stützle rekonstruiert, wie sich die Prämisse des ausgeglichenen Staatshaushaltes als Basis dieser Politiken in der Eurozone durchsetzen konnte. Grundlage dieser Monographie ist eine Dissertation, die Stützle vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Südeuropa um ein Kapitel zur Eurokrise erweitert hat.

Stützle beginnt mit einem ausführlichen Überblick über wirtschaftstheoretische Paradigmen und deren Bezüge zu Staatsschulden. Dabei werden zum einen die Unterschiede in der ökonomischen Bewertung von Staatsverschuldung deutlich (21-70); zum anderen zeigt Stützle, dass weder aus neoklassischer oder keynesianischer, noch aus marxistischer Sicht klare Aussagen zur notwendigen Begrenzung von Staatsverschuldung getroffen werden (72-98). Mit dieser Erkenntnis leitet Stützle zu nicht-ökonomischen Faktoren über, welche zu Grenzen von Staatsverschuldung führen.

Aufbauend auf Gramsci vergleicht er historisch-kulturell gewachsene politische Kulturen in Frankreich und Deutschland. In Frankreich etablierten sich eine Kultur der politischen Diskussion von Ökonomie und ein allgemeines Misstrauen gegenüber Finanzmärkten. Außerdem sollte der Staat das kollektive Gemeinwohl gewährleisten (116). In Deutschland dagegen entwickelte sich, etwa aufgrund extremerer Erfahrungen mit Inflationen, die Geldwertstabilität zum höchsten Ziel, welche durch eine autonome Bundesbank gewährt werden sollte. Zudem bildet der „Korporatismus“ als ein besonderes Arrangement zwischen Kapital und Arbeit einen festen Bestandteil der politischen Kultur (126).

Der größte Teil des Buches beschäftigt sich anschließend mit den europäischen Integrationsprozessen, welche seit dem Scheitern von Bretton Woods schließlich zur Europäischen Währungsunion führten. Dabei wird ausführlich herausgearbeitet, wie sich im Laufe der Zeit das Ziel des ausgeglichenen Staatshaushalts und das neoklassische Paradigma durchsetzen konnten. Eine entscheidende Rolle wird dem Scheitern des sozialistischen Experiments der Mitterand-Regierung in Frankreich zwischen 1981 und 1983 zugeschrieben. Dadurch, so Stützle, habe sich der Trend zu Neoliberalismus und Austeritätspolitik in der EU verfestigt und es sei offensichtlich geworden, dass eine Politik gegen die Interessen Deutschlands und des Weltmarktes nicht mehr möglich wäre. Ab diesem Punkt habe Frankreich versucht über eine Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit Handlungsoptionen zurückzuerlangen (169).

Frankreich und Deutschland stehen in den gesamten Analysen zur Europäischen Integration im Vordergrund, was aufgrund ihrer Rolle und unterschiedlichen Positionierung auch nachvollziehbar ist. Dennoch hätte Stützle sich an mancher Stelle ausdrücklicher von einer rein staatszentrierten, dualen Betrachtung distanzieren und etwa akteursbezogene Betrachtungen wie zum European Round Table of Industrialists (175), stärker hervorheben können. Auch das Theoriekapitel zu Poulantzas‘ Staatstheorie, welches relativ knapp und erst am Ende des dritten Kapitels vorkommt, kann diesen Eindruck nicht entkräften (179).

In der detaillierten Analyse der Entwicklung des Paradigmas ausgeglichener Staatshaushalte vom europäischen Binnenmarkt bis Maastricht wird auch der Fokus wieder mehr auf die Widersprüche und unterschiedlichen Interessen sozialer Kräfte innerhalb sowie zwischen den Ländern gerichtet. So waren beispielsweise die Einschätzungen aus Gewerkschafts- und Unternehmenskreisen in Deutschland und Frankreich durchaus verschieden. Dies verdeutlicht, dass es sich keinesfalls um ein einheitliches Projekt deutscher Dominanz handelt. Stattdessen wurden die Verträge von Maastricht und damit die Idee einer Währungsunion, welche auf der Prämisse konsolidierter Staatsfinanzen aufbaut, ohne mehrheitliche Zustimmungen in den Bevölkerungen beschlossen (265). Lediglich die wissenschaftliche Expertise, welcher in den Verhandlungen eine immer größere Bedeutung beigemessen wurde, war zunehmend von Vertreter*innen eines einheitlich neoklassisch-monetaristischen Grundkonsens‘ geprägt (275).

Das Buch endet mit einem Kapitel über die aktuelle Weltwirtschaftskrise und deren Auswirkungen auf das Leitbild konsolidierter Staatsfinanzen. Hier ist besonders interessant, wie und mit welch autoritären Politiken bisherige wirtschaftspolitische Leitlinien trotz ihrer Krisenhaftigkeit sogar gestärkt und intensiviert wurden (315ff).

Insgesamt wird bei der Lektüre des Buches deutlich, dass es sich hierbei um eine wissenschaftliche Dissertation handelte. So erscheinen die anfänglichen Betrachtungen der wirtschaftstheoretischen Grundlagen zu ausführlich oder gar überflüssig, da sie im Rest des Buches keine (ausreichend große) Rolle mehr spielen. Dennoch sind diese meiner Meinung nach von großer Bedeutung. Was Stützle vielleicht zu wenig herausstellt sind die Argumente, welche durch die Auseinandersetzungen mit existierenden Denkschulen für die weitere Diskussion gemacht werden. Denn so zeigt der Autor bereits zu Anfang auf, dass es keine eindeutigen Notwendigkeiten oder objektiven Begründungen für ein Leitbild des ausgeglichenen Staatshaushalts gibt. Stattdessen existieren verschiedene Schulen, Meinungen und Kämpfe um die Bedeutung von Schulden. Zudem zeigt Stützle, dass selbst die Neoklassik keine konkreten Aussagen zu Verschuldungsgrenzen liefert, welche in der EU aber dennoch zum Grundsatz geworden sind. Dies ist ein bedeutender Punkt, sowohl für die Legitimierung der Arbeit als auch für die politische Implikation des Hauptarguments, nämlich dass dieser politische Kurs lediglich von bestimmten Interessen forciert und jetzt mit Bezug auf angebliche ökonomische Notwendigkeiten für die Durchsetzung des zunehmenden Sozialabbaus und der Prekarisierung genutzt wird. Dennoch kann an der Art und Weise dieser Auseinandersetzung kritisiert werden, dass, gemessen an dem großen Raum, den dieser Teil einnimmt (fast ein Drittel des gesamten Textes), eine tiefgreifendere Analyse im Sinne einer genaueren Offenlegung der betrachteten Stränge des jeweiligen Paradigmas (bei der Neoklassik etwa vor allem Friedman), beziehungsweise eine größere Varianz von Sekundärliteratur (bspw. Heine/Herr in Bezug auf den Keynesianismus), wünschenswert gewesen wäre.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich um eine sehr komplexe und fundierte historische Analyse handelt, welche unterschiedlichste Ebenen betrachtet und nicht nur für Vertreter*innen marxistischer Perspektiven interessant sein wird. Die politischen Implikationen der Rekonstruktion des Paradigmas des ausgeglichenen Staatshaushaltes haben in einer Zeit, in der mit diesen Annahmen Politiken gerechtfertigt werden, die zu sozialen Katastrophen und tiefer Rezession geführt haben, noch an Relevanz gewonnen.

© links-netz Mai 2016