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Neoliberalismus und Protest Übersicht

 

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...but some are more equal.

Die EU-Osterweiterung und Perspektiven linker Politik*

Gisela Neunhöffer

Die Europäische Union wurde am 1. Mai 2004 um zehn neue Mitglieder erweitert. Aus diesem Anlass wurden viele Landkarten verändert, große Reden geschwungen und feierliche Zeremonien vollzogen.

Doch der eigentliche Prozess der Erweiterung ist in den letzten Jahren, und weitgehend unbemerkt in der bundesdeutschen Öffentlichkeit, in den Beitrittsländern bereits vollzogen worden. In höchst asymmetrischen Beitrittsverhandlungen hat die EU im Zusammenspiel mit den Eliten der Beitrittsländer dafür gesorgt, dass diese sämtliche EU-Regeln und -Normen übernehmen.

Natürlich wird niemand gezwungen. Wenn aber ein Land der EU beitreten will, muss es eben alle Bedingungen erfüllen. Nach dem so genannten Regattaprinzip wurden die Länder in einen regelrechten Wettbewerb zueinander gesetzt. Rumänien und Bulgarien, weil zu arm, zu bevölkerungsreich und zu wenig „beitrittstauglich“, sind vorerst einmal ausgesondert worden.

Die EU-Regularien (der so genannte acquis communautaire, die „Fertigkeiten der Gemeinschaft“) sind auf über 100.000 Seiten festgehalten; jedes Jahr kommen 2.500 hinzu. In bestimmten Politikbereichen – vor allem im Bereich der Marktliberalisierung bzw. -regulierung, aber auch in bestimmten Bereichen der Innenpolitik wie vor allem der Asyl- und Visapolitik – sind diese Regeln relativ rigide und detailliert (hard law). In vielen anderen Bereichen – z.B. Gleichstellungspolitik, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik – wird dagegen auch in der alten EU mehrheitlich so genanntes soft law eingesetzt. Hier werden Empfehlungen ausgehandelt, und wie die dann umgesetzt werden, ist Sache der jeweiligen Nationalstaaten.

Das Ergebnis ist, dass einerseits bestimmte Sparauflagen, Privatisierungsmaßnahmen, Unternehmens- und Produktstandards, die Schließung der Ostgrenzen und anderes in den Beitrittsländern mit Verweis auf den EU-Zwang von den daran interessierten Kräften leichter durchgesetzt werden können. Andererseits klagen z.B. Gewerkschafts- und feministische AktivistInnen darüber, dass die hehren Richtlinien der EU in ihren Politikbereichen zwar schnurstracks in nationales Recht übernommen wurden, sich danach aber niemand mehr darum kümmert, ob das auch umgesetzt wird. Die Hoffnungen, die EU-Erweiterung werde Fortschritte in der Durchsetzung von sozialen und Gleichstellungsstandards mit sich bringen, sind damit im wahrsten Sinne des Wortes weitgehend zu den Akten gelegt worden.

Mitglieder zweiter Klasse

In entscheidenden Bereichen wie der Freizügigkeit für ArbeitnehmerInnen oder der Finanzverteilung haben die Alteingesessenen überdies Übergangsfristen durchgesetzt. Sowohl ökonomisch als auch politisch bleiben die neuen Mitglieder damit vorerst Mitglieder zweiter Klasse. Diese Peripherisierung innerhalb der EU-Grenzen läuft parallel zu einem anderen Prozess: Diejenigen, die vor den Toren der Festung Europa bleiben und bleiben sollen, werden abgekoppelt und ausgeschlossen – sowohl die Menschen in den Nicht-Mitgliedsstaaten als auch die illegalisierten MigrantInnen.

Die Folgen für die EU als Ganze bzw. für Westeuropa sind bisher – abgesehen vom Tauziehen um die Postenverteilung in diversen EU-Gremien – noch weitgehend undiskutiert. Einen Vorgeschmack bot jüngst die Veröffentlichung der neuesten Daten zur regionalen Wirtschaftsleistung: welche Region ist weiterhin „arm genug“, um Mittel aus den europäischen Strukturfonds zu beziehen, und welche fällt aus der Förderung raus, weil die meisten osteuropäischen Regionen den Durchschnitt gedrückt haben?

Die Osterweiterung besteht vor allem darin, den ohnehin entstehenden neoliberalen Wettbewerbsstaat ohne sozialen Ausgleich unumkehrbar auch in den neuen Mitgliedsländern zu verankern. Das somit „eingerastete“ neoliberale Modell verstärkt die polarisierenden Tendenzen innerhalb der bestehenden EU: größere regionale und soziale Unterschiede im Lebensstandard treffen aufeinander und werden in Wettbewerb gesetzt, so dass soziale (und ökologische) Standards gegeneinander ausgespielt werden können. Zusätzlich sind in den Beitrittsländern selbst zumindest die tonangebenden Eliten tendenziell noch stärker auf einem neoliberalen Kurs als die Alteingesessenen in Westeuropa. Dies könnte auch auf das „alte Europa“ in absehbarer Zeit zurückwirken.

Linke Alternativen?

Einen klaren Widerstand gegen diese Form der „europäischen Einigung“ hat es bisher nicht gegeben, obwohl der Unmut in einigen Beitrittsländern so groß war, dass die Mehrheiten zum Beitritt in den jeweiligen Referenden nur knapp zustande kamen.

Für viele OsteuropäerInnen, auch und gerade aus sozialen Bewegungen, ist die EU aber auch nach wie vor das kleinere Übel. Das liegt unter anderem daran, dass es bisher nur selten gelungen (und auch wenig versucht worden) ist, diesem Unmut eine internationalistische Perspektive zu geben, und damit aus dem konstruierten Gegensatzpaar „nationalistisch-konservativer Einzelstaat versus neoliberale EU-Integration“ auszusteigen.

Ein Grund dafür ist, dass die neoliberale Transformation und das darauf aufsetzende EU-Integrationsprojekt die sozialen Bewegungen in Osteuropa, die das Ende des realsozialistischen Herrschaftssystems durchgesetzt hatten, schlicht überrollt haben. Der scheinbar soziale westeuropäische Kapitalismus in EU-Gestalt war und ist eine der mächtigen Anziehungspunkte, die den realen Kapitalismus für viele Menschen in Osteuropa Anfang der 1990er Jahre wesentlich attraktiver aussehen ließen und heute noch lassen als jede Form einer ungewissen Alternative. Die reale Transformationskrise hat andererseits viele in meist individualisierte Überlebenskämpfe gestürzt, so dass der Widerstand gegen die Zumutung der neoliberalen Veränderungen ebenfalls vor allem auf der individuellen Ebene von Informalität und persönlichen Netzwerken stattfindet.

Die Schwäche der internationalistischen Perspektive hat aber nicht zuletzt auch etwas mit dem fehlenden Interesse vieler westlicher Linker an der EU und insbesondere an deren Osterweiterung zu tun. West- und osteuropäische Linke haben es überdies nur sehr punktuell geschafft, sich zu vernetzen und ihre Kritik gemeinsam zu formulieren. Gründe dafür sind sowohl ganz praktische Kooperationsprobleme wie fehlende Sprachkenntnisse sowie das ökonomische Gefälle, aber auch fehlende gemeinsame Traditionen und Bezugspunkte – die Zapatistas sind der Westlinken offenbar näher als polnische GewerkschafterInnen. Die Auseinandersetzungen, die eine Zusammenarbeit von ost- und westeuropäischen Linken ermöglichen würden, werden deshalb oft gar nicht erst geführt: etwa um politische Begrifflichkeiten und inhaltliche Ziele, realsozialistische und realkapitalistische Geschichte, Politik- und Kommunikationsformen, Organisationsstrukturen, um westeuropäisches Dominanzverhalten und angebliches osteuropäisches „Noch-nicht-so-weit-Sein“.

In letzter Zeit ist das Interesse füreinander jedoch spürbar gestiegen. Die anstehenden Auseinandersetzungen können durchaus lohnend sein: nicht, um „den OsteuropäerInnen zu helfen“, sondern um, im Sinne des neuen Internationalismus, eine andere Perspektive auf die eigene Realität zu gewinnen. „Internationalismus besteht heute zuvorderst darin, die eigenen Gesellschaften zu verändern. Das macht reflektiertes entwicklungspolitisches Engagement nicht überflüssig, verschiebt aber die Perspektive“, schreibt die Vorbereitungsgruppe des BUKO 27 in Kassel. Die EU-Osterweiterung und die Kooperation mit den AktivistInnen aus Osteuropa ist dafür ein äußerst praxisbezogenes Beispiel. Denn die Zumutungen, die die EU-Strategen den OsteuropäerInnen auferlegen, werden unmittelbar zu uns zurückkommen.

Anmerkungen

* Redaktionell leicht überarbeitete Fassung eines Textes für den BUKO 27 „Das Ende der Bescheidenheit. Neoliberalsimus – Alltag – Widerstand“, vom 20. bis 23. Mai 2004 in Kassel Zurück zur Textstelle
© links-netz Mai 2004