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Ende der Demokratie? Übersicht

 

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Besonderheiten der politischen Kultur Dänemarks

Henrik Kaare Nielsen

Dänemark galt in Europa lange als vorbildliches Land in Bezug auf Humanität, kulturelle Liberalität, soziale Solidarität, Toleranz, fortschrittliches internationales Engagement, Friedensliebe und Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen in Not. Dieses Bild ist durch die Politik der wechselnden Regierungen in den letzten 15 Jahre zum großen Teil zerstört worden: fremdenfeindliche Töne haben in der öffentlichen Debatte zunehmend Fuß gefasst und sind Mainstream geworden; zahlreiche Gesetze erschweren gezielt das Leben von Immigranten und Asylanten – um möglichst zu verhindern, dass sie überhaupt ins Land kommen; Dänemark gehört seit 2001 neben den USA und Großbritannien zu den eifrigsten militärischen Interventionisten im Nahen Osten, und die Flüchtlingsströme, die diese Politik produziert, sollen doch gefälligst woanders Schutz suchen. Der Kontrast zum traditionellen Image des Landes lässt sich nicht leugnen.

Ähnliche Entwicklungstendenzen lassen sich zwar auch in anderen europäischen Ländern beobachten. Sie entspringen zum großen Teil dem allgemeinen Widerspruch in der zeitgenössischen Politik zwischen einer zunehmenden institutionellen Technokratisierung, die die Umstellung in Richtung Wettbewerbsstaat begleitet, und populistischen Gegenreaktionen verschiedener Art, die der vielseitigen Verunsicherung der Lebenslage großer Teile der Bevölkerung Ausdruck verleihen.

In Dänemark kam bei den Wahlen 2001 eine Verschiebung der parlamentarischen Kräfteverhältnisse hinzu, die zu einer liberal-konservativen Minderheitsregierung führte, die sich machtpolitisch zum ersten Mal auf den Mandaten der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei (vergleichbar mit der AfD) stützte. Diese Partei hatte zu diesem Zeitpunkt einen Stimmenanteil von 12% erreicht. Als Gegenleistung für die bedingungslose Unterstützung der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik der neuen Regierung konnten die Rechtspopulisten ihre nationalistischen und fremdenfeindlichen Parolen jetzt von einer politisch legitimierten Position aus verkünden, und ihre Ansichten in der Einwanderungsfrage eroberten von dem Zeitpunkt an langsam aber stetig die politische Mitte und veranlassten die Mainstreamparteien, die Sozialdemokraten einbegriffen, ähnliche Positionen zu beziehen, um ihre Wählerschaft zu behalten.

Aber außer diesen allgemein-gesellschaftlichen und spezifischen partei- und machtpolitischen Hintergründen hat die tendenzielle politische Transformation Dänemarks eine paradoxe Dimension der Kontinuität in Bezug auf sonst als progressiv bewertete Züge der nationalen Geschichte. Je nach Kontext ist die Vorstellung von der Nation durch ganz unterschiedliche Bedeutungsprägungen gekennzeichnet: während sie in den USA, kraft des multiethnischen Charakters der amerikanischen Gesellschaft, Diversität konnotiert, beruht die Etablierung der Nation in Dänemark historisch (seit Anfang des 19. Jahrhunderts) auf der impliziten Annahme ethnischer Homogenität. Und während die Vorstellung von der Nation in Deutschland mit einer Dominanz von autoritären und totalitären Herrschaftsformen und Traditionslinien verbunden ist und daher noch heute ambivalent bleibt, verkörpert sie im dänischen Kontext die Demokratie schlechthin.

Bei diesen Unterschieden geht es um politische Kultur, um die Konstellation von gemeinsamen Werten und Annahmen, die ein politisches Kollektiv zusammenhält. Politische Kultur entsteht in der Verarbeitung der Konflikterfahrungen, die ein gegebenes politisches kollektiv (in moderner Zeit typisch nationalstaatlich definiert) historisch durchmacht sowohl in internen Kämpfen zwischen verschiedenen Klassen und anderen Interessengruppen als auch in externen Konflikten mit anderen Nationalstaaten.

Als eine integrierte Dimension dieser laufenden reflexiven Verarbeitung der Konflikterfahrungen, die der historische Prozess aufwirft, entwickelt das gegebene politische Kollektiv eine Reihe von Annahmen darüber, wie die Welt beschaffen ist, und wie man sie adäquat bewältigt, und diese Annahmen funktionieren dann als der selbstverständliche normative Orientierungsrahmen des politischen Prozesses. Bis er eventuell modifiziert oder ganz umgekrempelt wird durch neue Konflikterfahrungen, die die bisherige Erfahrungskonstruktion sprengen.

Eine nationale politische Kultur ist also eine Konstruktion, an der laufend gearbeitet wird, aber es handelt sich um keine arbiträre Konstruktion: die Baumaterialien sind die realen historischen Konflikterfahrungen der Gesellschaft, wie diese als Erinnerungsspuren in die Körper der Bürger, in die sozialen Interaktionsformen und in die Institutionen der Gesellschaft eingeschrieben sind. Der Charakter dieser realen Erfahrungen bedingt zu jedem Zeitpunkt den Spielraum der interpretierenden Konstruktionsarbeit. Eine etablierte nationale politische Kultur ist mit anderen Worten ein träges Gebilde, und dies ist ein Hauptgrund dafür, dass die modernen westlichen Gesellschaften, die ja ansonsten untereinander tief integriert sind und parallele Entwicklungen durchgemacht haben, immer noch beträchtliche Unterschiede aufweisen in Bezug auf die Funktionsweise des politischen Lebens.

Die dänische politische Kultur ist stark geprägt von spezifischen Kontinuitätslinien in den historischen Konstellationen und Erfahrungsformen der dänischen Gesellschaftsentwicklung. Eine entscheidende Weichenstellung war die Bauernbefreiung Ende des 18. Jahrhunderts und die Wirtschafts- und Staatskrise Anfang des 19. Jahrhunderts, die es ermöglichte, dass die neue Klasse der selbständigen Bauern im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem starken wirtschaftlichen Machtfaktor aufsteigen konnte. In Allianz mit dem liberalen Bürgertum konnten die Bauern Mitte des 19. Jahrhunderts ihre ökonomische Macht auch politisch umsetzen: 1849 gab der König friedlich dem steigenden Druck von unten nach, und ein demokratisches Grundgesetz wurde ausgearbeitet. In diesem Prozess hat sich ein starkes, erfahrungsbasiertes Selbstbewusstsein der allgemeinen Bevölkerung herausgebildet, das seitdem ungebrochen das politische Leben Dänemarks geprägt hat. Die Bauern- und Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts, die Frauenbewegung und die verschiedenen politischen und kulturellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts haben alle an diesen selbstverständlichen normativen Bezugsrahmen angeknüpft und haben in der Etablierung ihres eigenen Selbstbewusstseins aus den historischen Erfolgserfahrungen geschöpft. Die durchgehende Erfahrung der Kämpfe all dieser Bewegungen war, dass kleine Leute – wenn sie zusammenhalten – entscheidende Veränderungen erwirken können.

Diese historische Kontinuität wurde ermöglicht durch relativ ausgewogene Kräfteverhältnisse zwischen den sozialen Klassen und übrigen Interessengruppen. Es gab mit anderen Worten keine realpolitische Alternative zum Akzept einer kompromissorientierten Konfliktregulierung, in der alle wesentlichen Interessen im Prinzip berücksichtigt wurden. Diese balancierte Konfliktregulierung musste jedoch in jedem Einzelfall erst durchgefochten werden, denn natürlich wollten z.B. Bürger und Bauern auch nicht in Dänemark ihren Wohlstand mit den Arbeitern teilen. Aber aufgrund der besonderen Kräfteverhältnisse in der dänischen Gesellschaft verliefen diese Kämpfe weit gelassener und aus demokratischer Perspektive erfolgreicher als in vielen anderen Ländern, und sie gaben deshalb im Großen und Ganzen Anlass zu Erfahrungen, die das lebensweltliche Selbstbewusstsein und die daran geknüpften politisch-kulturellen Wertvorstellungen unterstützten und weiterentwickelten.

Nichtsdestoweniger muss betont werden, dass wir es in der Herausbildung einer politischen Kultur mit einer hegemonischen Interpretation der Konflikterfahrungen zu tun haben, die immer diejenigen sozialen Interessen und Bedürfnisse ausgrenzt, die nicht imstande gewesen sind, sich mit ausreichender Stärke zu manifestieren, um in der Kompromissbildung berücksichtigt zu werden. Im dänischen Fall handelt es sich nicht zuletzt um jene Hälfte der Landbevölkerung, die die Reformen der Bauernbefreiung Ende des 18. Jahrhunderts stillschweigend zu einer verelendeten proletarischen Existenz verurteilten. Aber auch im 19. und 20. Jahrhundert sind im dänischen demokratischen Prozess Interessen und Positionen ausgegrenzt worden, die mit der hegemonischen Interessenkoalition der Majorität und deren Interpretation des nationalen Interesses nicht kompatibel waren. Die ausgegrenzten Positionen hörten nicht auf zu existieren, aber sie wurden in der Interpretation der dänischen politischen Kultur durch die etablierte Öffentlichkeit unsichtbar gemacht. In dieser Weise hat der harmonieorientierte nationale Volkstümlichkeitsmythos, der von der Bauernbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausging, seine Position als die plausible allgemeingültige Synthetisierung der historischen Konflikterfahrungen der Dänen aufrechterhalten können.

Diese lange historische Kontinuität eines friedlichen, kompromissorientierten politischen Prozesses im Zusammenspiel mit einer politischen Kultur, die durch die Annahme nationaler Harmonie und volkstümliche Gemeinschaft gekennzeichnet war, wurde außerdem durch die besondere Form des dänischen Modernisierungsprozesses unterstützt. Weil das Agrarkapital bis Mitte des 20. Jahrhunderts die wirtschaftliche Entwicklung dominierte, hat die dänische Gesellschaft nicht in gleichem Maße wie die meisten anderen die bruchartigen demographischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen des Industrialisierungs-, Modernisierungs- und Urbanisierungsprozesses durchgemacht. Während die überlieferten Gemeinschaften in anderen europäischen Ländern für große Teile der Bevölkerung unvermittelt durch die formale Sozialität unter Fremden ersetzt wurden, konnte der agrarbasierte und zeitlich ausgedehnte Modernisierungsprozess in Dänemark im weiten Maße die überlieferten Gemeinschaftsformen bewahren und in modernisierter Gestalt weiterentwickeln.

Die dänische politische Kultur ist mit anderen Worten dadurch gekennzeichnet, dass – kraft der spezifischen Interessenkonstellationen und Konflikterfahrungen, die den ökonomischen, politischen und kulturellen Modernisierungsprozess in Dänemark geprägt haben – ein hegemonisches Gemeinschaftsdenken sich als Grundzug der dänischen Modernität etabliert und seinen Geltungsbereich auf die Ebene der Nation erweitert hat. Diese nationalromantische Konstruktion verkörpert aber im dänischen Kontext weder eine ohnmächtige, kompensatorische Idealvorstellung noch eine Mobilisierungsbasis antidemokratischer Kräfte – wie es z.B. in Deutschland der Fall war – sondern einen Hauptpfeiler des historischen Selbstverständnisses der dänischen Demokratie. Es handelt sich um das zentrale Organisationsprinzip der kollektiven Konflikterfahrung der Gesellschaft, und deshalb ist dieses Gemeinschaftsdenken bis heute dominant geblieben. Die Vorstellung von der nationalen Gemeinschaft wird mit anderen Worten mit der volkstümlich errungenen Demokratie identifiziert und wird dementsprechend verteidigt.

Die Stärke dieser gemeinschaftsorientierten politischen Kultur besteht in einer relativ verträglichen und pragmatischen Konfliktregulierung, die auf Kompromiss- und Konsensbildung und auf die Berücksichtigung möglichst aller relevanten Interessen und Positionen ausgerichtet ist. In diesem Rahmen haben umfassende Demokratisierungsprozesse in den Institutionen stattgefunden, und es hat sich als Weiterführung des historisch errungenen Selbstbewusstseins in der Bevölkerung eine politische Teilnahme von unten entwickelt, die aus der Sicht der demokratischen Kräfte vieler anderer Länder beneidenswert erscheint.

Nachteilig an dieser politischen Kultur sind allerdings ein gewisser Konformitätsdruck in der Öffentlichkeit und ein Einverständnis der Majorität in Bezug auf die stillschweigende Ausgrenzung jener politischen Positionen, die mit dem hegemonischen Konsens unvereinbar sind. Die Begrenzungen der dänischen politischen Kultur zeigen sich ferner nicht zuletzt, wenn über „die nationale Gemeinschaft“ hinausgedacht werden muss. So hat es sich wiederholt als problematisch erwiesen, eine qualifizierte politische Debatte über die Rolle und die Ziele Dänemarks in Bezug auf den internationalen ökonomischen, politischen und administrativen Integrationsprozess zu etablieren, an dem das Land schon längst teilhat. Das Thema fällt sofort einem populistischen Sog zum Opfer, der es auf die obsolete Frontstellung „für oder gegen die EU“ reduziert.

Entsprechend spielt die dänische politische Kultur eine zentrale Rolle als Resonanzboden für den Umgang mit Immigranten und Flüchtlingen. Die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen funktionieren einigermaßen und leisten die basale Unterstützung der Neuankömmlinge, aber im Alltagsleben der Bevölkerung, wo die eigentliche Integration stattfinden sollte, gilt der kulturelle Gemeinschaftshorizont als Eingang zur Anerkennung, und da „die Fremden“ nicht zu dieser Gemeinschaft gehören, stehen ihnen real keine kulturellen Integrationskanäle zur Verfügung, und sie bleiben somit über Generationen hinweg „fremd“.

Die dänische politische Kultur ist mit anderen Worten schlecht gerüstet in Bezug auf die Reflexion und Verarbeitung der Herausforderungen – positive wie negative – mit denen der Globalisierungsprozess die Gesellschaft konfrontiert. Eine realitätstüchtige öffentliche Debatte wird auf diesem Hintergrund vermutlich nur durch eine emphatische Herausforderung der nach innen gekehrten, gemeinschaftsorientierten politischen Kultur etabliert werden können. Wie wir gesehen haben, ist diese historisch als Organisierungsform kollektiver Konflikterfahrung entstanden, und sie wird weiter bestehen und wirken, solange sie nicht durch neue kollektive Erfahrungen herausgefordert wird.

Mögliche neue Erfahrungen werden in diesen Jahren in Form eines nationalistischen Populismus abgewehrt, hinter dem fast das gesamte politische Spektrum steht – denn unter der entpolitisierenden Herrschaft der Technokratisierung und des Wettbewerbsstaates gelten nationale Werte und die Einwanderungsfrage als die zentrale Möglichkeit, sich zu profilieren und Stimmen zu gewinnen. Wie erwähnt hat die rechtspopulistische Dänische Volkspartei diese Front erfolgreich geöffnet (sie ist mit 21,1% der Stimmen zur Zeit die größte bürgerliche Partei im Parlament), und die übrigen Mainstreamparteien sind ihr nachgerückt und überbieten einander mit restriktiven und rückwärtsgewandten Initiativen, die den vermeintlichen Volkswillen befriedigen sollen.

Die Herausforderung für progressive Kräfte der Zivilgesellschaft wäre in dieser Situation, eine öffentliche Debatte zu schaffen, die imstande ist, die neuen Erfahrungen im Alltagsleben der Bevölkerung in einer Weise zu thematisieren und verarbeiten, die sie als ambivalente Erfahrungen ernst nimmt, die aber die Relevanz der regressiven Selbstgenügsamkeit als Problemlösung systematisch in Frage stellt. Die neuen Erfahrungen, für deren demokratische Bewältigung sich die Gesellschaft qualifizieren muss, sind in die internationale Entwicklung tief eingebettet, und eine realitätstüchtige Demokratie braucht selbstverständlich Einsicht in diese Rahmenbedingungen und die Kompetenz, sie in Kategorien politischer Veränderung zu denken. Ein solcher Durchbruch in der Öffentlichkeit lässt aber bislang auf sich warten.

© links-netz August 2016