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Sozialpolitik als Infrastruktur Übersicht

 

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Diskussion des Konzepts der Sozialen Infrastruktur

Werner Rätz

Die Frankfurter Gruppe links-netz hat vor einiger Zeit ihren Text „Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur“ in einer überarbeiteten Fassung veröffentlicht. Diese zeichnet sich durch einige neue Aspekte und Konkretisierungen aus, hält aber am Kern des erstmals 2003 vorgelegten Vorschlags fest. Dabei geht es darum, dass Sozialpolitik all die Voraussetzungen zur Verfügung stellen soll, die erforderlich sind, damit die gesellschaftlich notwendigen und nützlichen Tätigkeiten getan werden können. Das gelingt nur auf der Basis eines Arbeitsbegriffs, der sich von der kapitalistischen Erwerbsarbeit radikal verabschiedet.

Das ist nicht nur notwendig, weil die sogenannte Vollbeschäftigung immer nur eine ausschließende, diskriminierende Form der Vergesellschaftung war. Die Linien verliefen weltweit zwischen Nord und Süd, innergesellschaftlich vor allem entlang des Geschlechts, aber auch von Behinderung oder sonstigen Abhängigkeitsverhältnissen. Es handelte sich also immer schon um eine halbierte, männliche und weiße Realität. Heutzutage wäre die Vorstellung von Vollbeschäftigung in mehrfacher Weise zusätzlich abstrus. Schon jetzt ist die Welt voll mit Dingen, die niemand braucht, die aber Natur und Umwelt in dramatischer Weise belasten. Und die (nicht zuletzt auf Grund der Elektronifizierung) steigende Produktivität wird diesen Effekt noch verstärken, ohne dass – richtige und notwendige – Arbeitszeitverkürzungen das ernsthaft verzögern könnten. Während der individuelle Zusatznutzen dieser steigenden Produktmasse gegen null geht, erhöht sie den Ressourcen- und Energieverbrauch beständig und verlangt zu ihrer erfolgreichen Vermarktung immer unsinnigere gesellschaftliche Regulierungen.

Links-netz fasst zutreffend zusammen: „Gesellschaftlich notwendige Arbeit geht keineswegs in Lohnarbeit und neuerdings verstärkt in Formen von (Schein-) Selbständigkeit auf. Ihre wichtigeren Formen sind Hausarbeit, Eigenarbeit und freiwillige Arbeit. Vollbeschäftigung mit Lohnarbeit wird es in absehbarer Zeit nicht wieder geben, und schon gar nicht in der Weise, dass damit ein ausreichender Lebensstandard für alle garantiert wird. Dazu kommt, dass ein großer Teil der im Lohnarbeitsmodus ausgeführten Produktion mehr Schaden als Nutzen anrichtet – in Form geplanten Verschleißes, massiver Umweltzerstörungen oder von Produkten, deren Gebrauchswert mehr als fragwürdig ist.“

Eine Sozialpolitik, die die Infrastruktur für alle Arten gesellschaftlich notwendiger Tätigkeit sichert, müsste zwingend von ihrer Bindung an die Lohnarbeit befreit werden, wie sie bisher bei der Finanzierung der Sozialversicherungen besteht. Links-netz pocht auf einen Steuerfinanzierung (Mitautor Joachim Hirsch an anderer Stelle: „Was allen zur Verfügung steht, sollte auch von allen finanziert werden.“), gesteht im aktualisierten Text aber ein, dass „es durchaus Vorteile haben (könnte), die Finanzierung der Gesundheits-Infrastruktur durch eine steueranaloge Abgabe mit Zweckbindung sicherzustellen“, wie sie als Basis der Bürgerversicherung diskutiert wird. Damit ist eine Ungereimtheit aus der ersten Fassung des Vorschlags in der Tendenz bereinigt. Zwar argumentiert die Gruppe völlig zutreffend, dass Soziale Infrastruktur in jeder Gesellschaft in einem gewissen Mindestmaß für alle verfügbar sein muss und dass genau das im Neoliberalismus systematisch nicht der Fall ist, liefert aber mit einer Finanzierung der Infrastruktur (und parallel des Grundeinkommens, s.u.) diese den jährlichen Begehrlichkeiten des Finanzministers zum Ausgleich des Staatshaushaltes aus. Ob eine Zweckbindung durchsetzbar wäre, ist dabei eine andere Frage.

Ausdrücklich betonen die Autoren, dass Sozialpolitik ausschließlich für die Herstellung von Sozialer Infrastruktur zuständig sein soll. Insbesondere die Aufgaben der materiellen Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und des Verbots oder der Durchsetzung bestimmter Lebensweisen sollten keinesfalls damit vermischt werden. Umverteilung sei über Steuern und Abgaben zu bewerkstelligen, die Steuerung erwünschter oder unerwünschter Verhaltensweisen im Wesentlichen über (positive) Anreize. Damit stellen sie einerseits die bisherigen Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung zur Disposition, die ja der Umverteilung dienten und zukünftig durch eine hohe Gewinnsteuer gewährleistet werden soll. Andererseits zielt die Kritik auf die Forderung nach Arbeitswilligkeit oder Zuverdienstverbote im gegenwärtigen Grundsicherungssystem. Wenn ein Grundeinkommen bedingungslos gewährt wird, dann entfallen all diese Restriktionen.

Dabei ist das Grundeinkommen ein wichtiger Teil des Konzepts, „weil selbst bei einem vergrößerten Angebot an öffentlichen Gütern immer noch vieles in Warenform gekauft werden muss und kann und weil das häufig auch (im Rahmen dessen, was überhaupt so angeboten wird) die am ehesten selbstbestimmte Art ist, zu den benötigten Ressourcen zu kommen. Dies ist irgendwelcher Zentralversorgung mit ihrer bürokratischen Herrschaftlichkeit weit vorzuziehen.“ Aber „die Person und ihr Grundeinkommen sind aber nicht die wichtigste Einheit einer Sozialpolitik als Infrastrukturpolitik. Entscheidend bleibt die Erweiterung des Angebots von (prinzipiell) kostenlosen und für alle zugänglichen öffentlichen Gütern“, die „nicht der Warenform unterworfen“ sind. „Je breiter dieser Teil ist, desto weniger Geld wird für das Grundeinkommen gebraucht.“

Die Kombination von Geldzahlungen und kostenloser Infrastruktur ist unter dem Gesichtspunkt menschenrechtlich gebotener Teilhabemöglichkeiten durchaus konsequent. Teilhabe setzt ja beides voraus, die Möglichkeit, diverse Güter und Dienstleistungen nachzufragen – wozu in einer Marktgesellschaft ein Einkommen erforderlich ist – ebenso wie ein vorhandenes Angebot eben dieser Güter und Dienstleistungen. Wollte eine Gesellschaft die menschenrechtlich gebotene Teilhabe allein über hohe Einkommen auf dem Markt sicherstellen, müsste also jedeR immer alles für sich selbst kaufen, so würden die Individuen immer von allem so viel haben wollen, dass sie selbst auf keinen Fall zu kurz kämen. Neben allen anderen Widersprüchen müsste eine solche Gesellschaft vor allem Wachstum und ökologische Zerstörung absurd beschleunigen. Das Problem lässt sich auch nicht dadurch lösen, dass „Preise die ökologische Wahrheit sagen“, wie es oft formuliert wird. Denn entweder haben alle ein Einkommen, das Teilhabe ermöglicht, dann gilt die Dynamik der ökologischen Zerstörung, oder der Ressourcenverbrauch wird über hohe Preise gesenkt, dann sind Teilhabausschlüsse die notwendige Folge.

Das hat etwas mit der Marktlogik als solcher zu tun. Märkte sind niemals neutrale Orte, wo alles möglich ist, sondern sie folgen einer inneren Ordnung. Im Kapitalismus ist dies die Ordnung der Kapitalvermehrung. Es wird auf kapitalistischen Märkten dauerhaft nur das geben, was auch verkauft werden kann, denn schließlich investiert niemand in die Produktion von irgendetwas, weil man die konkreten Dinge, Häuser oder Panzer oder Lebensmittel so toll findet und riesige Mengen davon haben will, sondern um die Dinge zu verkaufen und das eingesetzte Kapital mit einem Zuschuss wieder herauszubekommen. Und eben dieses Interesse führt auch dazu, dass es auf den Märkten nicht nur das gibt, was verkäuflich ist, sondern auch alles, wofür, und von allem soviel, wie jemand dafür zu zahlen bereit und in der Lage ist. Die Logik des kapitalistischen Marktes führt also dazu, dass es dort nur das zu kaufen gibt, was zahlungskräftig nachgefragt wird, und nicht etwa das, was Leute dringend benötigen, die jedoch über kein Geld verfügen. Die bleiben ausgeschlossen. Und gleichzeitig führt sie dazu, dass all das im Überfluss und jenseits aller Notwendigkeit des Gebrauchs produziert wird, was irgendwer bezahlen könnte. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ändert an dieser Logik gar nichts. Wer eine Gesellschaft will, die menschrechtliche Teilhabe und ökologische Verträglichkeit verbindet, muss anderen Strukturen folgen als der Marktlogik.

Diese markt- und ökologischen Zusammenhänge werden im links-netz-Text zwar nicht ausgeführt, sind sie aber in mancher Beziehung mitgedacht. Allerdings unterscheiden die Autoren nicht zwischen kollektivem und privatem Konsum, wenn sie sich für die Integration der ökologischen Kosten in die Preise aussprechen. Auf viele von ihnen kritisierte Langstreckentransporte könnten die Menschen für ein gutes Leben sicherlich ebenso verzichten wie auf Hochrisiko- und Destruktivtechnologien. Hier handelt es sich um gesellschaftliche hergestellte Abläufe, die keinen oder kaum einen individuellen Gebrauchswert herstellen. Wenn aber private Konsummuster nach solchen Kriterien verteuert werden, ehe soziale Infrastruktur allgemein und kostenlos verfügbar ist, dann entstehen die erwähnten Ausschlussprobleme.

Eine genauere Reflexion der Folgen bestimmter gesellschaftlicher Regulierungen hätte auch dazu führen sollen, dass die Autoren die Einkommensseite nicht ausschließlich als eine Form der ausreichenden Mindestsicherung denken und darüber hinaus wieder auf den Markt verweisen. Die Verluste der „Gutverdienenden beim Arbeitslosengeld und der Rente“ könnten diese ja mit einer „zusätzlichen Arbeitslosen- oder Rentenversicherung oder einem Vermögenspolster“ ausgleichen. Hier geben sie ohne Not einen großen Vorteil der bisherigen Sozialversicherungen auf, nämlich die Finanzierung über das Umlageverfahren, das die Beitragsgelder den Finanzmärkten entzieht. Sie steigern diesen Fauxpas sogar noch, indem sie vorschlagen, das Grundeinkommen für Kinder als Grundvermögen zu gewähren.

Wichtig am links-netz-Vorschlag ist, dass nicht das Einkommen die menschenrechtlich begründete Forderung ist, sondern die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Reichtum. Seine zum Schluss ausgesprochene „Aufforderung zum Tanz“, also zu Organisierung gesellschaftlicher Kämpfe, kann in einer besonderen Weise von der Debatte um die Allgemeingüter oder Commons aufgenommen werden. Sie bietet eine Vielzahl interessanter Anknüpfungspunkte. Vieles in diesem Bereich ist offen und schwer vorhersagbar, aber sie hat den unschätzbaren Vorteil konkreter Projekte, an denen konkrete Gemeinschaften hier und jetzt anfangen können zu bauen. Dieser Bezug auf Gemeinschaften ist gleichzeitig ihr Nachteil. Gemeinschaften sind per definitionem Teilmengen von Gesellschaft. Was sie besitzen und benutzen, steht nicht allen und jedeR zur Verfügung. Die Soziale Infrastruktur eröffnet den Blick auf das Ganze von Gesellschaft. Allerdings kann man diese nicht einfach herstellen. Gesellschaftlichkeit muss immer allumfassend sein und kann damit nur erkämpft werden. Ich möchte das insgesamt nicht als Nachteil gewertet sehen, im Gegenteil. Zwar kann man mit Infrastruktur nicht einfach so beginnen, aber in einem Verständnis Globaler Sozialer Rechte gewinnen alle drei Elemente einen gemeinsamen Horizont.

(Dieser Text ist auch auf der Webseite von Werner Rätz zu finden: www.werner-raetz.de)

© links-netz Januar 2015