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Schwerpunktthema: Sozialpolitik als Infrastruktur

 

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Kritik der politischen Ökonomie des Gesundheitswesens

Nadja Rakowitz

Wohin Reduktion von Komplexität führt, kann man an der Debatte über das Gesundheitswesen sehen, die sich bloß noch um die angeblich zu hohen Kosten dreht. Die Kosten im Gesundheitswesen explodieren, so heißt es immer und überall. Dabei wird das Bild immer unstimmiger, je länger diese „Explosion“ andauert – nämlich schon über 30 Jahre. Und genauso lange gibt es auch schon die Kritik daran, die immer das gleiche richtige Argument in die Debatte einbringt, dass nämlich weder die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (2004: 131,6 Milliarden Euro, das entspricht 56,3 % der Ausgaben für Gesundheit insgesamt) noch die Ausgaben für Gesundheit insgesamt (2004: 234 Milliarden Euro) explodieren, nicht einmal dramatisch steigen, sondern sich parallel zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts immer auf ca. 10 % des BIP (2004: 10,6 %) bewegen. Dennoch steigen die Beitragssätze seit Jahren an – allerdings auch nicht mit der Dramatik, die Politiker und andere Interessierte der Öffentlichkeit gerne suggerieren würden. Während die GKV-Beitragssätze im Jahr 1995 durchschnittlich bei 13,15 % lagen, waren sie 2004 auf 14,22 % gestiegen (inzwischen sind sie wieder unter 14 % gefallen). Das sagt natürlich noch nichts aus darüber, ob genug, zu viel oder zu wenig Geld „im System“ ist. Je nach Interessenlage wird von Überversorgung, Freibiermentalität oder chronischer Unterfinanzierung gesprochen – die zugrunde liegenden Kriterien solcher Urteile sind in den seltensten Fällen medizinisch oder im strengen Sinne gesundheitspolitisch, aber dazu später mehr.

Wer finanziert diese Ausgaben?

Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamts haben die öffentlichen Haushalte Mitte der 90er Jahre noch rund 18,0 % der gesamten Gesundheitsausgaben getragen; dieser Anteil ist bis zum Jahr 2004 auf rund 16,9 % zurückgegangen. Der Anteil der Arbeitgeber hat sich im gleichen Zeitraum von 40,1 % auf 36,0 % reduziert. Rund 36 Milliarden Euro mehr gaben dagegen die privaten Haushalte (zu denen immer auch die privaten Organisationen ohne Erwerbszweck gezählt werden) 2004 im Vergleich zum Jahr 1995 aus. Damit ist ihr Anteil an der Finanzierung der gesamten Ausgaben im Gesundheitswesen von 41,9 % im Jahr 1995 auf 47,1 % im Jahr 2004 gestiegen. Insgesamt hat sich damit die Struktur der Finanzierung im Gesundheitswesen zu Gunsten der öffentlichen Haushalte und vor allem der öffentlichen und privaten Arbeitgeber und zu Lasten der privaten Haushalte verschoben. (Stat. Bundesamt 2006: 21ff.) Auch die paritätische Finanzierung der GKV-Beiträge, die schon immer Ideologie war, weil der Arbeitgeberanteil auch nur zurückgehaltener Lohn ist, wurde durch die rot-grüne Regierung endgültig auch formal gekippt. Inzwischen zahlen die Arbeitnehmer 0,9 %-Punkte mehr als die Arbeitgeber. Mit diesem Geld sollen die Zahnersatzleistungen und das Krankengeld finanziert werden. Auch wenn langwierige Krankheiten, für die das Krankengeld bezahlt werden muss, erwiesenermaßen in der Regel aus den Arbeitsbedingungen bzw. der Arbeit selbst resultieren, verabschieden sich die Arbeitgeber hier aus der Finanzierung – aus der Verantwortung sowieso. Es gilt, was schon zu Marx Zeiten gegolten hat: „Après moi le déluge! ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.“ (Marx 1989: 285f)

Kaum jemand hält es in den gesundheitspolitischen Debatten für nötig, darauf hinzuweisen, dass inzwischen die Privathaushalte und damit die Arbeitnehmer den größten Anteil an den Ausgaben für Gesundheit bezahlen. Stattdessen wird das Mantra der zu hohen Lohnnebenkosten für die deutschen Unternehmen gebetet und „mit einer keinen Zweifel zulassenden Selbstverständlichkeit wiedergekäut“ (Reiners 2006: 18), dass die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland gefährdet sei. Die Logik stammt aus dem Lehrbuch des Vulgärökonomen: die Lohn“neben“kosten sind zu hoch (wobei Lohnnebenkosten ideologisch verkürzt werden auf die Sozialversicherungsbeiträge, obwohl lt. ILO zu den Lohnnebenkosten praktisch alle Lohnkosten außer den Direktvergütungen, also z.B. Sonderzahlungen, Aufwendungen für die berufliche Aus- und Weiterbildung, Aufwendungen für Wohnungsfürsorge, Kosten für Belegschaftseinrichtungen, Arbeitgeberaufwendungen für die soziale Sicherheit etc. gehören), deshalb sind die Lohnkosten zu hoch, darunter leide die Wettbewerbsfähigkeit (der „deutschen Wirtschaft“, meint der „deutschen Unternehmen“, was auch immer das heute noch ist...) und deshalb würden keine neuen Arbeitsplätze (in Deutschland) geschaffen. Das wiederum sei schlecht für Alle (Deutschen) – so die allgemein übliche Argumentationskette, die den einzigen Sinne hat, irgendwie zu legitimieren, dass weniger Lohn gezahlt werden soll.

Eigentlich ist an all diesen Behauptungen kaum etwas richtig. Nicht nur das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) bemüht sich immer wieder, mit empirischen Daten nachzuweisen, dass all diese Thesen nicht haltbar sind. In einem Fazit heißt es dort: „Fasst man die empirischen Befunde zusammen, so kann nicht von ‚unerträglich’ gestiegenen Lohnnebenkosten gesprochen werden. Selbst die starke Zunahme der Beitragssätze in der Sozialversicherung hat in der Summe nicht zu einem wesentlichen Quotenanstieg bei den Lohnnebenkosten geführt.“ (Bontrup 2004: 316f) Eine andere, 2004 erschienene Studie über die Belastung der Arbeitgeber in Deutschland durch gesundheitssystembedingte Kosten im internationalen Vergleich hat ergeben, dass die gesundheitssystembedingte Arbeitgeberbelastung – gemessen am Wert aller in Deutschland produzierten Güter und Dienstleistungen – 3,2 % ausmache. Das entspreche 3 012 Euro pro Beschäftigtem und liege damit deutlich unterhalb der Werte in Frankreich, den Niederlanden und auch den USA (IGES 2004). Die Studie konnte entsprechend keinen Zusammenhang feststellen zwischen niedriger oder hoher Belastung der Unternehmen durch Gesundheitskosten und dem Schaffen oder Vernichten von Arbeitsplätzen. Dennoch werden die subjektiven und objektiven Zwänge der Kapitalisten als so groß dargestellt, dass die Drohung, wegen der zu hohen Lohn(neben)kosten Arbeitsplätze, Betriebe oder Betriebsteile zu verlagern, unter bestimmten Bedingungen als realistisch erscheint. Die Profitraten scheinen so knapp, dass jeder Cent beim Profitmachen zähle.

Hartmut Reiners bringt einen weiteren Aspekt in die Diskussion: „Selbst wenn man die Lohnnebenkosten als eigenständigen Wettbewerbsfaktor betrachtet, gibt es keine belastbaren empirischen Belege für die Behauptung, die Höhe der Sozialabgaben schädige den Standort Deutschland. Man findet eher Anhaltspunkte dafür, dass es sich dabei um einen Popanz handelt: Für internationale Standortvergleiche sind nicht die Sozialabgaben, sondern diese zusammen mit den Steuern als Abgabenquote entscheidend“ (Reiners 2006: 20). Diese liegt aber in Deutschland – entgegen der ebenso weit verbreiteten Propaganda über hohe Steuern für die Untenehmen – inzwischen mit 34,7 Prozent (2003: 35,5 Prozent) nicht nur weit hinter den Spitzenreitern zurück; sie liegt auch mehr als einen Prozentpunkt unter dem OECD-Durchschnitt (FR 12.10.2006). Damit setze sich die Bundesrepublik weiter vom Trend anderer Industrienationen ab, so die Frankfurter Rundschau. Seit Mitte der 70er Jahre hatte sich die öffentliche Hand in Deutschland lange Zeit deutlich mehr als im OECD-Mittel gegriffen. Erst 2003 kippte diese Tendenz. Seitdem kommt der deutsche Sozialstaat mit einem kleineren Teil vom Wohlstand aus als in den anderen Industrienationen – und der Abstand hat sich in den vergangenen beiden Jahren vergrößert. Deutschland ist inzwischen wieder auf dem Niveau von 1972 angekommen, so kommentiert die Frankfurter Rundschau und zieht das Fazit: Der deutsche Sozialstaat ist also nicht zu teuer, er ist im internationalen Vergleich eher billig (FR 12.10.2006).

Das bestätigt auch das Gutachten 2003 des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVR-G 2003: 45ff). Dies hindert allerdings Keinen, interessiert am Mythos weiterzustricken. Tatsächlich sind es längst die Arbeitnehmer, die über ihre Lohnsteuern einen Großteil der Steuern finanzieren. Die Gewerkschaft ver.di rechnet vor, dass die Lohnsteuern vor 25 Jahren rund 30 % der gesamten Steuereinnahmen ausgemacht haben; der Anteil der Steuern auf Gewinne und Vermögen war ungefähr ebenso hoch. Heute betrage der Anteil der Lohnsteuer rund 36 %. Der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuern sei auf ungefähr 14 % gefallen (ver.di 2004). Selbstverständlich war die rot-grüne Bundesregierung daran maßgeblich beteiligt und verschärfte diese Tendenz noch. Hagen Kühn vom Wissenschaftszentrum Berlin argumentiert gegen den vermeintlichen Sachzwang der „leeren Kassen“ und resümiert, dass zum einen die öffentlichen Kassen nicht zwangsläufig leer sind, sondern bewusst leer gemacht wurden, und zum anderen das Steueraufkommen zum großen Teil von den Arbeitnehmern aufgebracht wird. Den Sozialstaat finanzieren in Deutschland letztlich die Arbeitnehmer selbst (Kühn 2003: 732ff.) – und das bei stagnierenden bis schrumpfenden Löhnen. In den letzten Jahren ist, wie Thorsten Schulten vom WSI feststellt, die jährliche Steigerung der Nominallöhne in Europa zwar „etwas zurückgegangen“, aber Deutschland habe nicht nur die „mit Abstand schlechteste Verteilungsbilanz“, sondern sei auch „das einzige Land mit einer negativen Reallohnentwicklung“ (BöcklerImpuls 14/2005). Und das seit langem: Deutschland ist das einzige europäische Land, in dem die Beschäftigten real (also wenn man die Preissteigerung berücksichtigt) weniger Geld zur Verfügung haben als vor zehn Jahren (BöcklerImpuls 14/2005). Die daraus und aus der hohen Arbeitslosigkeit resultierende rückläufige Lohnquote führt, da die Bruttolöhne die Finanzierungsbasis der Sozialversicherungen sind, zu steigenden Beitragssätzen nicht nur der GKV. Die bereinigte Lohnquote1 ist von 1980 (74,5 %) auf 65,2 % im Jahr 2001 gefallen. Wäre sie heute noch so hoch wie 1980 hätte die GKV kein – finanzielles – Problem, denn dann könnte der Beitragssatz für Sozialversicherungen statt bei 41 % bei 32,4 % liegen (Kühn 2003: 732ff.).

All diese guten und seit Jahren von kritischen Minderheiten vorgebrachten Gegenargumente ändern allerdings wenig daran, dass sich Politik und damit auch Gesundheitspolitik am Ideologem der Senkung der Lohnnebenkosten orientiert. Dies ist nicht – wie wohlmeinende sozialdemokratische Gesundheitswissenschaftler es vorstellen – bloß „Rahmenbedingung“, sondern elementarer Inhalt von Gesundheitspolitik. Nahezu alle Maßnahmen, die im Moment gesundheitspolitisch vorgeschlagen und zum Teil umgesetzt werden, werden – wie Hartmut Reiners schreibt – „aus wirtschafts- und verteilungspolitischen Gründen verfügt und nicht, um GKV-Ausgaben rationaler zu strukturieren. Es geht einzig und allein darum, die Krankenkassenbeiträge und damit die sog. Lohnnebenkosten zu Lasten der medizinische Leistungen in Anspruch nehmenden Patienten zu senken“ (Reiners 2006: 18). „Hinzu kommt, dass man bei entsprechender Bezahlung für jedes en vogue befindliche Thema ein ‚Mietmaul’ der C4-Klasse finden wird, das in den Medien Sonderinteressen und Privilegien bestimmter gesellschaftlicher Gruppen zum Anliegen der Allgemeinheit veredelt werden“ (Reiners 2005: 32), womit sie dann politikfähig wären ... .

Nun darf man es sich im Bereich des Gesundheitswesens – wie auch sonst – nicht zu einfach machen. Das allgemeine Diktat der Senkung der Lohnnebenkosten darf nicht hinwegtäuschen über durchaus unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Interessenslagen. Z.B. findet man inzwischen in der konservativen und der Pharmaindustrie nahestehenden Ärzte Zeitung unter der schönen Überschrift: „Das Mantra der Experten hält einer Prüfung nicht stand“: „Geringere Lohnnebenkosten bescheren kein Jobwunder“ ebenfalls die Kritik daran, dass die hohen Lohnnebenkosten in der öffentlichen Diskussion als Haupthindernis für die Entstehung neuer Arbeitsplätze gelten und dass über niedrigere Krankenkassenbeiträge also Jobs geschaffen würden. Bezeichnenderweise beruft sich die ÄZ auf den Verband der Krankenhausdirektoren (VKD) in Schleswig-Holstein, der „dies für einen Trugschluss“ hält und nachgerechnet hat: „Ein Unternehmen mit einem 70prozentigen Personalkostenanteil würde bei einer völligen Streichung des Arbeitgeberanteils immerhin 3,92 Prozent seiner gesamten Produktionskosten sparen. Bei einem 30prozentigen Personalkostenanteil spart es nur noch 1,68 Prozent, bei zehn Prozent nur noch 0,56 Prozent. Wenn der Arbeitgeberanteil nicht ganz, sondern immerhin noch zur Hälfte gestrichen wird, spart etwa ein Unternehmen mit einem 30prozentigen Personalkostenanteil nur noch 0,84 Prozent seiner Gesamtkosten.“ (ÄZ, 23.08.05) So sehr sich die Krankenhausdirektoren z.B. im Streik also als Arbeitgeber gesehen und hier die übliche Politik des Lohndrückens betrieben haben, stellen sie sich doch in diesem Zusammenhang anders dar – aus ureigenstem Interesse. Denn hier sind sie sogenannte Leistungserbringer und auf der Seite derjenigen, die sich den riesigen Kuchen der Gesundheitsausgaben teilen. Und hier geht es zu wie im Haifischbecken. Nicht nur die Krankenhäuser, ob öffentlich oder privat, auch die niedergelassenen Ärzte, die Untenehmen aus dem medizinisch-technischen Komplex, also vor allem die Pharmaindustrie und die Geräteindustrie, aber auch die Versicherungen, ob gesetzliche oder private stehen hier in Konkurrenz zueinander.

Wer teilt sich das Geld wie?

Damit die Dimensionen klar werden: Es geht im Gesundheitswesen um 4,2 Millionen Beschäftigte, also um etwa jeden neunten Beschäftigten in Deutschland und um die schon erwähnten ca. 240 Mrd. Euro laufender jährlicher Ausgaben. Es wundert nicht, dass die Ärzte Zeitung hier in Vertretung ihrer Klientel abstrakt die Arbeitgeber kritisiert. Jede Kürzung der Beiträge oder Beitragssätze bedeutet zunächst, dass es auch für die Ärzte weniger zu verteilen gibt. Schaut man sich zunächst den ambulanten Sektor an – der in Deutschland relativ streng getrennt ist vom stationären, womit die fachärztliche Versorgung kostenintensiv verdoppelt wird –, so haben die niedergelassenen Ärzte bzw. ihre standespolitische Vertretung, die Kassenärztliche Vereinigung, es mit dem Kassenarztrecht von 1955 geschafft, dass die ambulante ärztliche Behandlung „in vollem Umfang den niedergelassenen Ärzten übertragen, Krankenhausambulanzen und Eigeneinrichtungen der Krankenkassen als Konkurrenz ausgeschaltet“ wurden. So feierte im letzten Jahr das Deutsche Ärzteblatt dieses Gesetz als „Paradebeispiel für das politische Durchsetzungsvermögen der ärztlichen Standesorganisationen in der Aufbauphase der Bundesrepublik Deutschland“. Gegen vielfachen Widerstand gelang es, so schreibt Thomas Gerst dort, „ein Gesetz zu bewirken, das den Kassenärzten das Monopol bei der ambulanten medizinischen Versorgung garantierte und aufgrund seiner Honorarbestimmungen die Voraussetzungen für den in der Folge zu verzeichnenden überdurchschnittlichen Einkommenszuwachs der niedergelassenen Ärzte schuf“ (Gerst 2005). In den 60er Jahren setzten die Kassenärztlichen Vereinigungen in allen Kassenarten die „ungedeckelte“ Einzelleistungsvergütung durch (Gerlinger 2006: 135). Entsprechend waren dann die 70er Jahre „für die Ärzte Goldgräberzeiten“ (ÄZ, 01.09.06), das gibt inzwischen sogar die Ärzte Zeitung zu. Die Folgen wurden bald sichtbar und von den wenigen kritischen Ärzten massiv kritisiert: Überversorgung, explodierende Leistungsmengen, vor allem in der Technik, im Labor und bei den Arzneimitteln. Hinzu kommt, dass sich die Arztzahlen seit Anfang der 70er Jahre erhöht haben. Nimmt man das Jahr 1992 als Bezugszeitpunkt Deutschland, dann hat die Zahl der berufstätigen Ärzte in Deutschland bis 2004 um knapp 22 % zugenommen. Dabei stieg die Zahl der Ärzte in der ambulanten Versorgung überproportional um 28 %, die im stationären Bereich um 18 %. (Cobbers/Schölkopf 2006: 11) Weil sich diese Entwicklung bei vergleichsweise geringfügig steigenden Einwohnerzahlen und Versichertenzahlen vollzog, erhöhte sich die Arztdichte im ambulanten Sektor von 1970 1027 Versicherte je Vertragsarzt auf 2003 593 Versicherte je Vertragsarzt (Gerlinger 2006: 125f). Gleichzeitig weiteten sich die Leistungen aus und stiegen die Einkommen all dieser Ärzte – wenn auch nicht mehr in dem Maße wie früher. Kritiker sprechen hier von einer „anbieterinduzierten Nachfrage“.

Allerdings verweist Reiners darauf, dass es nicht einfach sei, diese Zusammenhänge empirisch zu belegen. Auch gäbe es keine schlüssige Quantifizierung des Ausmaßes der angebotsinduzierten Nachfrage im Gesundheitswesen, da es kein hinreichendes Instrumentarium zur Messung des Ungleichgewichtes in der Arzt-Patient-Beziehung gebe. Aber er kann auf verschiedene Untersuchungen verweisen, die für Deutschland und die Schweiz „einen signifikanten Zusammenhang von Ärztedichte bzw. Zahl der Krankenhausbetten und Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen ergeben haben“. (Reiners 2006: 22)

Hält man sich nicht an diese im heutigen Wissenschaftsgebaren einzigen Möglichkeiten, etwas begründet behaupten zu können, nämlich empirische Belege und quantifizierbare Daten vorzulegen, sondern zeigt die immanente Logik eines bestimmten sozialen Verhältnisses auf, kommt man zu Schlüssen wie Erich Wulff: „So erscheint es mir beinahe ein Euphemismus, zu sagen, dass das Vergütungssystem die Arzt-Patient-Beziehung ‚beeinflusst’. Finanzielle Motive beeinflussen die Prioritäten und wirken sich so auf Entscheidungen aus, die nach der ärztlichen Berufsethik lediglich vom Wohle des Patienten abhängig gemacht werden dürften. Sie bringen den Arzt auch dazu, dem Eide des Hippokrates entgegen zu handeln, der von ihm verlangt, reiche und arme Kranke genau gleich zu behandeln.“ (Wulff 1971: 966f) Wulff bringt den ökonomischen Status des Arztes als Unternehmer in Zusammenhang mit dem autoritären Verhältnis des Arztes zum Patienten: „Der Arzt wird deshalb die Tendenz zeigen, seine Entscheidungen den Kranken in einer autoritären Weise aufzureden, d.h. sich auf seine ärztliche Autorität zu beziehen, die manchmal weder von der medizinischen Wissenschaft noch von der Logik gerechtfertigt werden kann. Die Mystifizierung der Arzt-Patient-Beziehung scheint mir also kein Zufall zu sein, sondern eine Notwendigkeit, die sich aus der Situation ergibt, ökonomischen Motiven folgen zu müssen und diese noch zu verleugnen.“ (Wulff 1971: 967)

Hört man heute die Ärztevertreter bei ihren Protesten, findet man diese Argumentation wieder – neuerdings aber etwas gebrochener. Die Ideologie des selbstlosen Arztes, der nur „das Beste für die Patienten“ will, wird zwar nach wie vor in der Öffentlichkeit vorgeschoben, wenn die Ärzte wieder Honorar-Erhöhungen fordern, aber natürlich geht es auch hier um Geld und Einkommen. Nicht nur die Statistiken, die zeigen, dass die sogenannten Individuellen Gesundheitsleistungen (IgeL) in den letzten Jahren massiv zugenommen haben, sondern auch die praktische Erfahrung, dass manche Arztpraxis zum Marktstand für medizinische Leistungen verkommen ist, und auch die Durchschnittsverdienste von 83.871 Euro im Jahr (Cobbers/Schölkopf 2006: 12) bei den niedergelassenen Ärzten, die in jeder Tageszeitung und auf der Homepage der Kassenärztlichen Vereinigung nachzulesen sind, müssen manchen Arbeitnehmer ins Grübeln kommen lassen.

Vor diesem Hintergrund wirkt die Diskussion über die aktuelle oder erst drohende Ökonomisierung des Gesundheitswesens etwas schräg, denn sie suggeriert, dass das Gesundheitswesen irgendwann nicht ökonomisiert gewesen sei. Bislang ist das deutsche Gesundheitssystem als korporatistisch und selbstverwaltet charakterisiert worden, weil es vor allem von den beiden Körperschaften öffentlichen Rechts, den selbstverwalteten Krankenkassen und den selbstverwalteten Kassenärztlichen Vereinigungen, bestimmt wurde. Die beliebte und durchaus kritisch gemeinte Gegenüberstellungen von Korporatismus hier und marktförmiger Organisierung da, suggerieren dabei, dass der Korporatismus ein nicht-ökonomisches Organisationsprinzip sei. Das ist eine falsche Gegenüberstellung, denn die Ökonomisierung der Medizin ist mindestens seit 1945 integratives Moment des Korporatismus im Gesundheitswesen. Allerdings war diese Ökonomisierung im Gegensatz zur jetzt diskutierten eben nicht marktförmig. Die Strukturen in der ambulanten medizinischen Versorgung waren und sind gemäß den betriebswirtschaftlichen Kalkülen der Pharma- und Geräteindustrie und vor allem der niedergelassenen Kassenärzte organisiert.

Wenn heute die offiziellen Ärztevertreter ebenfalls die Ökonomisierung oder gar den Neoliberalismus beklagen, heißt das nicht, dass diese Kritik die gleiche Stoßrichtung oder die gleiche Perspektive (schon gar nicht die gleiche Motivation) hat, wie eine linke Kritik. Die heuchlerische Kritik der Ärztefunktionäre, die in den aktuellen Protesten der niedergelassenen wie der angestellten Ärzte geäußert wird, ist tatsächlich nicht eine an Ökonomisierung, sondern bloß eine an dieser bestimmten Form der Ökonomisierung. Es wird drohende Rationierung beklagt, die den Patienten treffe, aber es geht um die Rationierung der Ärzteeinkommen.

Das Verhältnis von medizinischen Kriterien zu ökonomischen ist aber nicht als äußerliches zu denken – wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch. Medizinische und ökonomische Überlegungen sind oft nicht mehr zu trennen. In die Definition von Krankheiten, von kritischen Werten bei bestimmten Diagnosen, in die Entscheidungen zur Einführung neuer Verfahren, in die Begründung von Therapien und Verweigerung von Therapien gehen schon ökonomische Kriterien ein. Der frühere Vorsitzende der demokratischen Ärzte, Winfried Beck, hat das schön vorgeführt am Beispiel der Osteoporose: Die sogenannte postmenopausale Osteoporose wurde Anfang der 90er Jahre von der Pharmaindustrie, den Ärzten und der WHO qua Neudefinition der Kriterien zur Volkskrankheit gemacht. Beck beschrieb das in einem Interview so: „Also bei der Beantwortung der Fragen: Ist Osteoporose eine Erkrankung mit oder ohne Brüche, wie viel Knochendichte ist noch normal und wie viel nicht etc., wurden einfach die Werte gesenkt und die Knochenbrüche herausgenommen aus der Definition. D.h. man hat jetzt auch eine Osteoporose, wenn man keine Brüche hat und eine relativ – im Vergleich zu vorher – gute Knochendichte (aufweist). Und sofort war das eine millionenhaft auftretende Erkrankung! ... Ja, soviel zur naturwissenschaftlichen Objektivität, die gibt es nicht. Dahinter stecken Interessen, das ist klar. Und so kommt eine Krankheit nach der anderen dazu: der Reizdarm, die erektile Dysfunktion usw. Alles wird zu Krankheiten, die man dann behandeln kann und dann – weil es ja neue Krankheiten sind – gibt es entsprechend innovative Arzneimittel, die dem Patentschutz unterliegen und für die jeder Preis genommen werden kann. Die sind irrsinnig teuer. Also, da ist nichts heilig in diesem Geschäft.“ (Beck 2003) Ähnliches ließe sich auch von der Geräteindustrie berichten.

Die aktuelle Situation offenbart interessante Widersprüche. Die jahrzehntelange enge Beziehung der Ärzteschaft zur Pharmaindustrie gerät nämlich zur Zeit ordentlich ins Wanken. Nicht etwa, weil man moralische oder medizinische Bedenken hat, sondern – so scheint es zumindest – weil der Ärzteschaft inzwischen dämmert, dass bei einem gedeckelten Gesamtbudget die Milliardengewinne, die die Pharmaindustrie aufgrund ihres geschützten Status in Deutschland jedes Jahr einfahren kann, den Kuchen für die anderen Leistungserbringer immer kleiner werden lässt. Im Januar hat die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns mit einem ganzen Bündel an Vorschlägen die Politik aufgefordert, den „Einfluss der Pharmaindustrie auf das Verordnungsverhalten der Ärzte wirksam zu begrenzen“. So tritt die KVB beispielsweise dafür ein, Kostentreibereien durch teure Medikation bei der Krankenhausentlassung, rechtswidrige Musterabgaben oder dubiose Anwendungsbeobachtungen zu unterbinden (KVB 2006). Am liebsten würde Axel Munte, der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern, den Einsatz von Pharmareferenten verbieten. Keiner der 15.000 Außendienstler in Deutschland solle dann noch Praxen oder Apotheken besuchen. Mit Sorge dürften, so schreibt die Süddeutsche Zeitung, einige Konzerne wohl auch Muntes Eintreten für eine Positivliste beäugen. Auf so einer Liste sollen mehrere tausend wirksame Medikamente vermerkt sein – und was nicht draufsteht, soll nur noch ausnahmsweise verschrieben werden dürfen. Damit würden teure Schein-Innovationen beseitigt. Dass so eine Liste für einige Hersteller das wirtschaftliche Aus bedeutet, lässt Munte laut SZ-Interview kalt: „Mir ist es vollkommen wurscht, wenn die ein oder andere Firma über die Klinge springt.“ Bisher würde die Wahl der Medikamente zu sehr von den Arzneimittelherstellern manipuliert. Allzu oft „werden Mediziner von der Pharmaindustrie verführt“. Die Branche investiere bis zu 40 Prozent der Umsätze in Marketing. „Die sollen das Geld lieber in die Forschung stecken.“ Und tatsächlich geht Munte sogar so weit, auch die Mediziner zu kritisieren, die sich kaum gegen die Einflussnahme wehrten (SZ 06.09.2006). Inzwischen legt die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein nach und probt ebenfalls den Aufstand gegen die Pharmaindustrie. Der Verband beauftragte im vergangenen Herbst den Heidelberger Pharmakologen Ulrich Schwabe mit einer „Me-too-Liste“. Das Ergebnis war eine Liste mit 86 Medikamenten, bei denen es sich angeblich um Analogpräparate handelt – medizinische Schein-Innovationen, die kaum einen Zusatznutzen bringen. Das konterkariert, so die SZ, das allgemeine Verschreibungsverhalten der Ärzte: Die Liste enthält Topseller der Industrie, wie die Präparate Pantozol und Rifun (Wirkstoff: Pantoprazol) der Hersteller Altana und Schwarz Pharma. 2006 wurden mit dem Mittel gegen Magenbeschwerden hierzulande 222 Millionen Euro umgesetzt. Das ist Platz 2 auf der Liste der umsatzstärksten Präparate. Die Ärzte im Rheinland sollen diese Mittel nur noch als Ausnahme verschreiben. Inzwischen haben 17 Pharmakonzerne gegen die Liste geklagt (SZ 25.08.2006). Diesbezüglich erscheint plötzlich die Ärzteschaft fortschrittlicher als alle bisherige Gesundheitspolitik, egal welcher Couleur. Aber auch hier gilt es, sich nicht blenden zu lassen. So fortschrittlich das alles erscheinen mag, fordert gleichzeitig z.B. Axel Munte von der Bayrischen KV öffentlich mehr Zuzahlungen für die Patienten, damit das Gesundheitswesen in Zukunft noch finanzierbar sei.

Keiner Regierung ist es bisher gelungen, der Pharmaindustrie Grenzen zu setzen. Immerhin geht es bei den Arzneimitteln nach den Ausgaben für Krankenhausbehandlung um den zweitgrößten Posten bei den Ausgaben der GKV. 18 % der Ausgaben werden für Arzneimittel bezahlt. Das waren immerhin 23,7 Milliarden Euro im Jahr 2005. An denen verdient auch der Pharmagroßhandel, der – von der breiten Öffentlichkeit kaum beachtet – Anfang September diesen Jahres wegen Kartellbildung zu einem Bußgeld von vergleichsweise milden 2,6 Millionen Euro verdonnert wurde, weil die vier Marktführer – Anzag, Gehe, Phoenix und Sanacorp – Preisabsprachen getroffen und den Markt unter sich aufgeteilt haben sollen (FTD 01.09.2006).

Der andere großindustrielle Akteur auf dem Gesundheitsmarkt ist die – von Kritikern im Moment weniger als die Pharmaindustrie beachtete – Medizintechnik. Die deutsche Medizintechnik-Industrie zählt mit 108.000 Beschäftigten eher zu den kleineren Wirtschaftssektoren, der aber gegen den gesamtwirtschaftlichen Trend Beschäftigung in hochwertigen Arbeitsplätzen aufbaut. Die deutsche Medizintechnik-Industrie ist nach den USA auf dem Weltmarkt führend. Laut einer Studie, die vom Aachener Kompetenzzentrum Medizintechnik und der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung erarbeitet worden ist, hat der Markt für Medizintechnik in Deutschland ein Volumen von rund 18 Milliarden Euro. Sechs Milliarden Euro davon würden mit Krankenhäusern umgesetzt. Im Vergleich zur Gesamtwirtschaft, so die Ärztezeitung, werde der Branche ein überproportionales Wachstum prognostiziert. Auch innerhalb der Gesundheitsausgaben werde bis 2010 ein von 6,8 auf 7,1 Prozent steigender Anteil vorausgesagt (ÄZ 12.05.2006). In Deutschland ist für den Markterfolg neuer Medizintechnik-Produkte wesentlich, dass die damit verbundenen medizinischen Leistungen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden. Insofern ist die jüngste Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses über seine Verfahrensordnung, so die ÄZ, besonders brisant: danach könnte der Ausschuss, ähnlich wie in der ambulanten Medizin, den Nachweis des Nutzens medizintechnischer Innovationen auch bei Krankenhausleistungen verlangen – was aus kritischer Sicht nur zu begrüßen wäre, was von der ÄZ aber interessiert beklagt wird als mögliche „neue Hürde für medizinischen Fortschritt“ (ÄZ 12.05.2006). Ein weiterer Haifisch also im großen Gesundheitsmarktbecken, dessen Geschäftsaussichten auch dadurch besser geworden sind, dass die Großgeräteverordnung, die eine flächendeckende und wirtschaftliche Aufstellung von teuren medizinischen Spezialgeräten regelte, 1997 nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts abgeschafft wurde. Das passt zur allgemeinen Tendenz einer Kritik aller gesellschaftlichen bzw. staatlichen Planung und der entsprechenden Forderung nach Steuerung durch den Markt, kam aber auch wieder dem Interesse der niedergelassenen Ärzte mit großer technischer Ausstattung (z.B. Radiologen, Orthopäden, Internisten, Urologen) zupass, die unter den Ärzten auch deshalb am meisten verdienen, weil man mit „technischen Leistungen“ höhere Punktwerte erreichen kann als mit kommunikativen, sie also besser honoriert werden.

Zuletzt soll noch ein Blick auf die Krankenhäuser geworfen werden. Mit der Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG) als Grundlage der Berechnung der Krankenhausfinanzen ist nicht nur der „tagesgleiche Pflegesatz“ abgeschafft, sondern die Konkurrenz der Krankenhäuser untereinander eingeführt worden. Das führt dazu, dass Krankenhäuser – auch wenn sie noch öffentlich sind, das Prinzip der Konkurrenz und des Wettbewerbs zur Grundlage ihrer Organisation und Kalkulation machen müssen. Das wird eine „Bereinigung des Krankenhausmarktes“, also die Schließung unrentabler Häuser zur Konsequenz haben. Das muss gesundheitspolitisch oder medizinisch zunächst kein Problem sein, denn die Bettendichte in Deutschland ist europaweit immer noch relativ hoch. Aller Qualitätsrhetorik und allem Qualitätsmanagement zum Trotz ist aber zu befürchten, dass die Rentabilität und die medizinische Qualität nicht in einem notwendigen Zusammenhang stehen. Im Gegenteil, eine qualitativ gute Versorgung ist allzu oft unrentabel und vice versa. Im Krankenhaussektor gestaltet sich der Ökonomisierungsprozess auch als Privatisierungsprozess. Immer mehr Krankenhäuser werden an private Konzerne verkauft, inzwischen selbst ganze Unikliniken wie die in Gießen-Marburg. Der Privatisierung gehen in der Regel Rationalisierungsprozesse voraus, die das nichtärztliche Personal noch mehr trifft als das ärztliche. Hier wird Personal abgebaut bis an die Grenzen der Fahrlässigkeit: „Die Braut wird schön gemacht“, heißt das in schönstem Marketingdeutsch. Auf der Seite der Belegschaften in den Krankenhäusern ist in diesem Jahr viel passiert. Am spektakulärsten waren die beiden parallel verlaufenden Streiks der nichtärztlichen Beschäftigten und der Ärzte, die sich unter Führung des Marburger Bunds aus der Solidarität der Krankenhausbeschäftigten verabschiedet und einen eigenen Tarifvertrag angestrebt und auch erreicht haben. Was dies für die deutschen Gewerkschaften heißt, ist bislang noch genauso umstritten wie die Frage, was das für die angestellten Ärzte bedeutet. Michael Wendl von der Gewerkschaft ver.di beschreibt die Auseinandersetzungen so: „Es sind die Abwehrkämpfe eines Berufsstandes, dem der Standescharakter unter der Hand verloren geht und der sich mit den Mitteln der Lohnarbeit gegen die Degradation zur Lohnarbeit wehrt“ (Wendl 2006: 28). Welche Konsequenzen das haben wird, falls es die richtige Analyse ist, ist noch nicht klar und noch zu diskutieren. Dass es gerade die privaten Krankenhauskonzerne sind, die dem Standesgebaren der Ärzte zum Teil ein Ende bereiten, indem sie – nicht aus demokratischen oder emanzipatorischen Überlegungen heraus – die Krankenhaushierarchie und mir ihr die Privilegien der Chefärzte abschaffen, irritiert manchen linken Traditionalisten, ähnlich wie die Tendenzen, das ehemals autoritäre Arzt-Patient-Verhältnis aufzuheben und die Patienten zu „Kunden“ zu machen, was nicht wirklich ein Fortschritt ist. So ist das in der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Fortschritt: „Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehn.“ (Marx/Engels 1972: 465)

Literatur:

Sievers, Markus: „1972. Kommentar zur Steuerquote“, Frankfurter Rundschau 12.10.2006.

„Den Ärzten geht es heute dramatisch schlechter“, Ärzte Zeitung 01.09.2006.

Beck, Winfried: In diesem Geschäft ist nichts heilig. Interview zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie, in: express. Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 2/2003 und Nr. 3/2003.

BöcklerImpuls 14/2005

Bontrup, Heinz-J.: Zu hohe Löhne und Lohnnebenkosten – Eine ökonomische Mär, in: WSI Mitteilungen, Nr. 6/2004, S. 313-318.

Cobbers, Birgit/Schölkopf, Martin: Zahlen und Fakten zur Situation der Ärzteschaft in Deutschland, in: Gesundheits- und Sozialpolitik, Nr.2-3/2006: Der Arzt in der Armutsfalle?

„Das Mantra der Experten hält einer Prüfung nicht stand: Geringere Lohnnebenkosten bescheren kein Jobwunder“, in: Ärzte Zeitung 23.08.2005.

„Der Streitbare. Axel Munte, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern, will die Privilegien von Ärzten und Pharmafirmen beschneiden“, SZ 06.09.2006.

„Deutschland unter Schnitt. Steuerquote relativ klein“, Frankfurter Rundschau 12.10.2006.

Ecker, Thomas e.a.: Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) / Beratungsgesellschaft für angewandte Systemforschung mbH (BASYS) (Hg.), Belastung der Arbeitgeber in Deutschland durch gesundheitssystembedingte Kosten im internationalen Vergleich, Berlin/Augsburg 26.10.2004.

Engels, Friedrich / Marx, Karl: Das Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, Berlin 1972, S. 459-493.

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Anmerkungen

  1. Um den Einfluss der Einkommensänderungen zu isolieren, berechnet man auch eine sogenannte bereinigte Lohnquote, die angibt wie sich die Lohnquote entwickelt hätte, wenn die Zahl der Empfänger der verschiedenen Einkommenskategorien konstant geblieben wäre. Die bereinigte Lohnquote muss sich also immer auf ein bestimmtes Jahr beziehen, um aussagekräftig zu sein. Es ergibt sich dadurch eine große Abweichung zwischen bereinigter und unbereinigter Lohnquote. Für redliche Vergleiche der Einkommensänderung muss man mit der bereinigten Lohnquote argumentieren.Zurück zur Textstelle
© links-netz Dezember 2006