Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Deutsche Zustände Übersicht

 

  Text in eigenem Fenster anzeigen    rtf-Datei herunterladen 

Erwerbszentrierung – und kein Ende!

Harald Rein*

Am 8. August 2002 wurde in Berlin auf einer Pressekonferenz eine überparteiliche Initiative für eine sozialstaatlich orientierte aktive Arbeitsmarktpolitik vorgestellt. Sie versteht sich als Alternative zu den Vorstellungen der Hartz-Kommission. Zentrale Elemente sind eine andere Qualifizierungs- und Beschäftigungspolitik. Als Verantwortliche fungieren Axel Troost (Geschäftsführer des Progress-Instituts für Wirtschaftsforschung, Bremen) und Jürgen Klute (Industrie- und Sozialpfarrer, Herne). Bisher haben rund 150 WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen sowie VertreterInnen aus Gewerkschaften, Kirchen und verschiedener Initiativen unterschrieben. Die folgende kritische Einschätzung des von der "Initiative für eine sozialstaatlich orientierte aktive Arbeitsmarktpolitik" vorgelegten Aufrufs wird von zwei Bundesorganisationen der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen (BAG-E, BAG-SHI) vertreten.

Der von der "Initiative" vorgeschlagene langfristige "Konsens über die Aufgaben, Ziele und Grenzen der Arbeitsmarktpolitik" ist an mehreren Punkten kritikwürdig.

Er fällt hinter eine Diskussion zurück, in der seit einiger Zeit, nicht nur unter Arbeitslosen- und Sozialhilfeinitiativen, die bisherigen traditionellen Vorschläge, Wege aus der Arbeitslosigkeit zu finden, kritisiert werden und die Alternative eines bedingungslosen, existenzsichernden Einkommens aufgezeigt wird.

Auffallend an den Ausführungen der "Initiative" sind deren ausschließlich lohnarbeitszentrierte Vorstellungen. So soll das Arbeitskräftepotential gefördert und die vorhandene Arbeit umverteilt werden, "moderne Angebote" sollen das "zunehmend flexiblere Beschäftigungssystem" unterstützen. Worthülsen wie "synergetische Verbindung", "Kundenorientierung" und "Innovationsimpulse" umklammern die Vorschläge – Hartz lässt grüßen. Um welche Arbeitsplätze es sich handeln soll, welche Bedeutung Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz haben, darüber schweigen sich die Autoren aus. Sie stecken in dem Dilemma, ein Vollbeschäftigungsprogramm zu verkünden, obwohl die kapitalistische Wirtschaft in ihrer grenzenlosen Profitsuche immer mehr lohnarbeitende Menschen durch Maschinen ersetzt, durch Arbeitsverdichtung die Last auf wenigen Schultern verteilt und immer weniger Arbeit benötigt wird, um die wichtigsten Güter, aber auch Sinnloses, zu produzieren. Statt diese Entwicklung mit der gerechteren Verteilung des angehäuften Reichtums zu konfrontieren, wird die "Sinnhaftigkeit" von Lohnarbeit als zentrales Element des Lebens weiter propagiert. Während die politischen und wirtschaftlichen "Eliten" des Staates kommunale Arbeitsdienste, unsinnige Weiterbildungs- und Trainingsmaßnahmen und u.a. über Leiharbeit erzwungene Arbeitseinsätze in schlechter bezahlte Jobs fördern, fordert die "Initiative", mit Hilfe staatlicher Beschäftigungsprogramme und mit befristet geförderten Beschäftigungsmöglichkeiten möglichst viele wieder in den kapitalistischen Arbeitstrott zu integrieren. Dabei setzen sie auf eine Qualifizierungsoffensive und unterliegen dem Irrtum, mit "besserer" Qualifikation bzw. "Beschäftigungsfähigkeit" das Arbeitsplatzproblem lösen zu können. Damit wird auch ein Stück jener neoliberalen Ideologie transportiert, wonach der Arbeitslose durch seine Trägheit und geringe Flexibilität Arbeitslosigkeit selbst verursacht. Nach einem internen Bericht des Bundesrechnungshofes hat jedoch nur jeder dritte Teilnehmer einer Bildungsmaßnahme nach einer solchen Maßnahme wieder eine Arbeit aufgenommen. Weitere "28 Prozent der Arbeitslosen, die von den Arbeitsämtern zur Fortbildung geschickt werden, brechen die Maßnahme ab. Hauptgrund: Sie erwarten keine Verbesserungen ihrer Chancen, einen Job zu bekommen" (Handelsblatt, 11. Juli 2002). Fortbildung und Umschulung unterliegen ebenfalls kapitalistischen Interessen, wer qualitäts- und quantitätsmäßig nicht gebraucht wird, landet nach der Bildungsmaßnahme wieder in der Arbeitslosigkeit.

Für Weiterbildung kassierten die beauftragten Weiterbildungsinstitute im letzten Jahr 2,2 Mrd. ?. Wahrscheinlich hätte dieses Geld zur Aufstockung der Lohnersatzleistungen der Arbeitslosen und der Sozialhilfe bessere Dienste geleistet.

Zwar kritisiert die "Initiative" einige Leistungskürzungen aus den letzten Jahren, betreibt dies aber halbherzig, indem weder die jüngsten Verschärfungen unter Rot-Grün in Form des Job-Aqtiv-Gesetzes beim Namen genannt noch die Zumutbarkeitsregelungen generell abgelehnt werden. Stattdessen heißt es: "Eine weitere Verschärfung der bereits derzeit äußerst restriktiven Zumutbarkeitsregelungen ... [ist] deshalb abzulehnen." Dies heißt nichts anderes als eine Akzeptanz der bisherigen gesetzlichen Festlegungen, nur schlimmer soll es nicht werden. Aber es ist schon schlimm genug, und die Behauptung der "Initiative", sie lehne den Zwang zu niedrig entlohnter Arbeit ab, relativiert sich dadurch. Denn die bestehenden rechtlichen Voraussetzungen erlauben es gerade, Arbeitslose in Niedriglohnbereiche zu verschieben.

Mit dem Begriffspaar "Fördern und Fordern" ist eine von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft allgemein anerkannte Umschreibung einer "modernen" Sozialpolitik geschaffen worden. Auch die "Initiative" übernimmt diese Begrifflichkeit und suggeriert ideologisch eine Situation gleichberechtigter Gegenseitigkeit, indem einfach der Förderaspekt stärker hervorgehoben wird. Aber Ideologie bleibt Ideologie: Es handelt sich hierbei um eine unter Rot-Grün initiierte Veränderung sozialstaatlicher Regulierung, wonach soziale Leistungen ausschließlich bei Pflichterfüllung zu gewähren sind. Damit werden soziale Rechte des Einzelnen in ihrer Eigenständigkeit dezidiert abgelehnt und eine Verschärfung des Druckes auf Arbeitslose ausgeweitet. "Fördern und Fordern" lässt sich nicht reformieren oder umdeuten, von angeblich gleichberechtigten Vertragspartnern (das Arbeitsamt hat das Recht einem Arbeitslosen die Leistungen zu verweigern, welches gleichberechtigte Recht hat der Arbeitslose umgekehrt?) reden nur die politisch Verantwortlichen.

Auch die Forderung nach "lebenslangem Lernen" verbreitet eher Unbehagen als Freude, da sie den allgemeinen Arbeitsethos nicht nur perpetuiert sondern zuspitzt. Ribolits (2001) hat dies treffend kritisiert: "Denn nicht ein Lernen, das Menschen selbstbewusst und mündig macht und ihnen hilft, gesellschaftliche Zustände zu durchschauen und im Sinne ihrer Interessen mitgestalten zu können, wird damit angesprochen, sondern die bewusstlose Anpassung an die durch den Bedarf der Profitökonomie vorgegebenen Qualifikationserfordernisse." (Ribolits, Erich: "Die Arbeit hoch?", München/Wien 2001) Statt einen höheren Anteil an frei verfügbarer Lebenszeit zu fordern (mit existenzsicherndem Einkommen), findet sich nur die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung – um sich beruflich weiterzuqualifizieren!

Nach Ribolits ist es nicht die Arbeit, "die den Menschen aus der restlichen Natur heraushebt, sondern die Tatsache, dass er der Arbeit nicht naturwüchsig unterworfen ist. Das Besondere des Menschen besteht auch nicht in den gewaltigen Leistungen, die er arbeitend vollbringt, sondern in seiner prinzipiellen Fähigkeit, sich frei zu entscheiden, ob er arbeiten will oder nicht." (Ebd.)

Logische Konsequenz aus dem bisher Gesagten ist die Forderung nach einem ausreichenden und bedingungslosen Einkommen für Alle. Vorschläge in diese Richtung gibt es bereits von Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen (Existenzgeld), und auch in anderen gesellschaftlichen Feldern wird diskutiert. So findet sich in der jüngsten Ausgabe des evangelischen "Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt" (kda) unter der Überschrift "Wer nicht arbeitet, soll trotzdem essen" folgende Ausführung: "Moralisch gut ist eher der zu nennen, der die knappe Ressource Erwerbsarbeit anderen überlässt und auf dieses Privileg verzichtet ... Das Grundeinkommen kann dann als eine Art 'Ausstiegsprämie' für den Verzicht auf einen Erwerbsarbeitsplatz verstanden werden." Und: "In dieser Situation weist ein staatlich garantiertes Grundeinkommen, das die Existenz des einzelnen sichert ohne diskriminierende Bedingungen wie Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitsverpflichtung, einen Ausweg, der als sozial gerecht zu bezeichnen wäre." (kda, Nr. 2/2002) Von all dem ist in den Ausführungen der "Initiative" kaum etwas zu finden, sie bewegen sich in den ausgetretenen Vollbeschäftigungspfaden und wollen nicht erkennen, dass es darum geht, radikale Alternativen zur kapitalistischen Verwertung zu finden.

Auch erwerbszentrierte Reformer müssen akzeptieren, dass es immer weniger existenzsichernde Arbeitsplätze geben wird (wobei die Sinnfrage noch nicht einmal gestellt ist). Viel wichtiger wäre zukünftig, aus dieser "Not" eine Tugend zu machen. Notwendig ist eine kulturelle Bewegung, in der die Menschen fremdbestimmte moralische Fesseln ablegen und sich selbstbestimmt einer "Tätigkeit in Freiheit" (Dahrendorf) zuwenden, die sie aus ihren Interessen heraus entwickeln.

Anmerkung

* Harald Rein (Bundesarbeitsgemeinschaft der unabhängigen Arbeitslosengruppen BAG-E)
Diese Kritik wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen (BAG-SHI) ausdrücklich befürwortet; sie wurde auch bei LabourNet Germany veröffentlicht. Zurück

© links-netz August 2002