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Totalitäre Basisdemokratie: Der Circle als Dystopie über die Entmachtung von Politik und Staat

Christine Resch

Fast jeder weiß, welcher Dramatik (zeitgenössische) Dystopien folgen. Es ist (immer noch) eine Insel, jedenfalls ein abgeschottetes Terrain, in dem eine neue Lebensweise erprobt, verordnet, schließlich erzwungen wird. Einige der „Gefangenen“, meistens ein heterosexuelles Paar (der Liebesgeschichte wegen) durchschauen irgendwann die Ideologie der jeweils anvisierten „schönen neuen Welt“. Ihnen gelingt dann die Verhinderung des Schlimmsten oder zumindest die Flucht. Erfahrungen mit der Herkunftsfamilie, erotische Abenteuer und amouröse Verhältnisse sind für die emotionale Einbeziehung der Leser/innen in solchen Erzählungen beinahe unumgänglich: Da geht es um Gefühle, die sich nicht so leicht und sei es nur durch gekonnte Selbstdarstellungen, manipulieren lassen. Schicksale kommen ins Spiel. Die klassischen Utopien waren „Reiseberichte“: Schilderungen von solidarischem Leben (die, Jahrhunderte später gelesen, durchaus ihre Repressionen kannten – selbst in Utopia werden Verbrechen mit Zwangsarbeit bestraft). Die zeitgenössischen Dystopien erzählen von Hierarchien und Konkurrenz, Themen, die ohne individuelle Schicksale schnell langweilig wären und blutleer blieben.

Die Geschichte ist viele Male erzählt, das Muster ist bekannt, der Einfallsreichtum zeigt sich in den Variationen. Aus den Variationen lässt sich zudem erschließen, was sich an gesellschaftlichen Veränderungen als „Aufhänger“ für ein Szenario des Grauens eignet. Vom Öko-Desaster über die permanente Kontrolle der Lebensgewohnheiten durch einen in den Körper integrierten Chip bis zur Unterschicht als Ersatzteillager, um den Reichen und Schönen Unsterblichkeit zu ermöglichen, war alles schon da – in Romanform, als Science-Fiction-Filme, häufig in beiden Formaten.

Gegenwärtig sorgt der Roman Der Circle (2014) von Dave Eggers für Furore. Auf der Rückseite des Covers der inzwischen schon 4. Auflage sind Auszüge aus den Besprechungen in den „großen“ Medien zitiert: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Süddeutsche Zeitung, Zeit online, Deutschlandradio. Der Verlag für die deutschsprachige Ausgabe, Kiepenheuer & Witsch, hat Spiegel-online 50 Exemplare geschenkt, die wiederum an Leser (User) mit einer Einladung, den Roman zu diskutieren, weitergegeben wurden. Was mag also der Gegenstand sein, der es naheliegend macht, Leser einer online-Zeitschrift zur Debatte aufzufordern? Die Antwort ist vermutlich längst bekannt und erübrigt sich angesichts der rhetorischen Frage ohnehin fast: ein Internet-Konzern.

Die Details des Plots will ich gar nicht darstellen – es ist zum einen eine Variation auf das oben genannte Muster, zum anderen meint die Genre-Bezeichnung „Roman“ bei aktuellen Dystopien genaugenommen „Thriller“. Eine genaue inhaltliche Schilderung würde nur das Lese-Vergnügen schmälern, das im Wesentlichen auf einer spannend erzählten Geschichte und weniger auf brillanter Sprachkunst basiert. Aber so viel sei gesagt: Es handelt sich um einen gigantischen Internet-Konzern mit Sitz in Kalifornien, wo auch sonst? Gegründet von jungen, legeren Männern, wem auch sonst? Mit engagierten, aufstrebenden Rettern der Welt als Mitarbeiterinnen, welchen auch sonst? Es ist eine Mischung aus Apple (Habitus), Microsoft (Spendenaufrufe), Google (Suchmaschine), Facebook (Netzwerke aller Art), YouTube (Videoportal), Wikipedia (das Wissen der Welt), Twitter (mehr oder weniger politische Kurznachrichten) ... alles in Einem. TruYou lautet das Motto: Die Anonymität im Netz ist suspendiert, jeder zählt ausschließlich als real existierendes Individuum.

Die „klassische“ Dystopie kritisiert autoritäre Regime (=Staaten). Im Kapitalismus beruhen diese nur in Ausnahmefällen auf offener Gewalt, Propaganda ist das wichtigere Instrument der Vereinnahmung, Geheimhaltung die dazugehörige Strategie im Hintergrund. Eggers stimmt nicht in den Kanon der Skandalisierung von Geheimdiensten ein, die von zuerst Wikileads und dann Snowden mit geschicktem PR-Management in die öffentliche Debatte transportiert wurden. Er nimmt sich die freiwillige, kommerziell organisierte Beteiligung vor. Es geht um Versprechungen auf ein besseres, freieres (und sichereres!) Zusammenleben, mit denen begeistert wird. Nach innen und außen wird Partizipation kultiviert, die den Circle als basisdemokratische Avantgarde erscheinen lässt. Meinungsumfragen sind allgegenwärtig, die Verpflichtung daran teilzunehmen auch. Alles wird zum Wohle aller gerankt und vermessen. Alles. Dass alles Private, wie einer der Slogans heißt, Diebstahl sei, hat mit klassischer Kapitalismuskritik nichts mehr zu tun. Vielmehr geht es darum, das Wissen der Welt, jede intime Erfahrung allen zugänglich zu machen. Die Ideologie ist Gutmenschentum: Wenn jeder müsste, wer homosexuell ist (nicht zuletzt unter seinen Bekannten), hätte sich das als diskriminierende Kategorie erledigt; wenn jeder an den Reise-Erfahrungen aller teilnehmen könnte, wären auch Behinderte und sonst nicht Mobile in der Lage, alle Zipfel und Gipfel dieser Welt (per Videos, die Reisende aufnehmen) kennenzulernen; uswusf. Auch ethnic profiling hätte sich zulasten der „üblichen Verdächtigen“ erledigt – für die Ordnungshüter würden Vorbestrafte markiert. Dass Schwarze nur qua Hautfarbe auffallen, würde nicht mehr vorkommen. Jeder beobachtet jeden zu jeder Zeit, alles wird für immer in der Cloud archiviert. Schöne neue Welt eben.

Damit zum im Titel angespielten Thema: Politik und Staat. Kein autoritäres Regime drangsaliert hier die Bevölkerung. Junge innovative Projektemacher erfinden unentwegt Tools, die den Leuten das Leben bequemer machen, sie über alles informieren und an allen relevanten Entscheidungen beteiligen sollen. Der Circle strebt den, im wahrsten Sinne des Wortes, transparenten Politiker an. Er, genaugenommen erklärt sich zuerst eine Sie bereit, an diesem Experiment teilzunehmen, also die Abgeordneten tragen immer eine Kamera um den Hals, die alle Gespräche aufzeichnet:

„Nie wieder würden Politiker sich aus der Verantwortung stehlen können, weil ihre Worte und Handlungen bekannt und aufgezeichnet und unstrittig sein würden. Es wäre Schluss mit Hinterzimmergemauschel, Schluss mit undurchsichtigen Deals. Es würde nur noch Klarheit, nur noch Licht geben.“ (276)

Mittelfristig ist nicht wählbar, wer sich dieser An-/Zumutung verweigert. Der Circle weiß dafür zu sorgen, dass die Gegner in Skandale verwickelt werden. Es geht um umfassende Aufklärung („Licht“). Aber das ist noch nicht alles. Sie ergattern aus Washington eine Subvention, um Schülerleistungen zu messen und die Daten effektiv auszuwerten und für Vergleiche zugänglich zu machen. Auf Elitecolleges könnten dann wirklich die Besten gehen, wie eine Angehörige der Oberschicht bemerkt. Quoten (affirmative-action) haben verhindert, dass sie es geschafft hat. Diskriminierung, so könnte man es auch ausdrücken, wäre zugunsten von eindeutig definierten Kriterien abgeschafft, oder etwa nicht? Washington, so einer der Gründer des Konzerns, habe eingesehen, dass der Circle weit besser als der Staat alles messen kann. (384) Der Clou besteht dann darin, dass der Circle vorhat, Wahlen zu organisieren und durchzuführen. Alle wahlberechtigten Bürger sollen verpflichtet werden, bei Circle einen TruYou-Account zu haben, über den sie ihre Steuern zahlen, andere behördliche Leistungen beziehen und eben Wahlen und Volksabstimmungen aller Art durchführen, mit weitreichenden Konsequenzen:

„Es gäbe keine Spekulationen mehr“, sagte Stenton (einer der „drei Weisen“, wie die Gründer genannt werden, ChR), der jetzt am Kopfende des Tisches stand. „Keine Lobbyisten mehr. Keine Stimmauszählung mehr. Vielleicht gäbe es sogar keinen Kongress mehr. Wenn wir den Willen des Volkes jederzeit feststellen können, ungefiltert, ohne Fehlinterpretationen und Verfälschungen, wäre dann nicht sogar Washington größtenteils überflüssig?“ (444)

Angesichts der möglichen Einsparungen, die das bietet, und der effizienten Durchführung, die der Circle gewährleistet, klingt die Stimme des Skeptikers beinahe kleinlich: „Findest du die Vorstellung etwa gut, dass ein Privatunternehmen den Fluss sämtlicher Informationen kontrolliert? Dass Partizipation auf Befehl des Circle Pflicht ist?“ (455) Bei einer internen Probeabstimmung darüber, ob Amerika eine Drohne schicken sollte, um einen lokalisierten Terroristenführer in Pakistan zu töten selbst wenn mit Kollateralschäden zu rechnen sei, überwindet eine Protagonistin mit folgender Überlegung ihre Skrupel: „Wieso sollte die Klugheit von dreihundert Millionen Amerikanern nicht bei der Entscheidung berücksichtigt werden, die sie alle betraf?“ (458) (Das Buch von James Surowiecki, 2004, The wisdom of crowds. Why the many are smarter than the few and how collective wisdom shapes business, economies, societies and nations, hat diese Idee populär gemacht.) Eine erzwungene Wahlbeteiligung von 100%, das ist die Vision, wäre die Vollendung des Circles – das Firmensymbol, ein „c“, könnte sich zum Kreis schließen.

In abgeschwächter Form sind viele der Phänomene, die Eggers in seinen Roman einbezieht längst bekannt und gehören zum Alltag. Die Dystopie besteht darin, dass mit dem Circle als Monopolunternehmen alle Spuren, die wir im Netz hinterlassen (das Leben davor, auch eines der Projekte, soll schnellstmöglich digitalisiert werden), zentral gesammelt und von jedem jederzeit abgerufen werden können. Alles Staatliche und alles Leben, wie der Skeptiker anmerkt, soll durch ein einziges Netzwerk geschleust werden. (545) Kontrolle und Überwachung werden total, permanente Partizipation wird Zwang, Verweigerung und Flucht sind unmöglich. Zweifellos handelt es sich um eine Zuspitzung, aber das Interessante an Dystopien besteht darin, dass sie auf die gegenwärtige Gesellschaft verweisen, in der sie entstanden sind. Eggers Thriller macht auf einige Verschiebungen in der öffentlichen Diskussion aufmerksam.

1) Für die furchterregenden Entwicklungen werden nicht machtgierige Politiker und Populisten, die die Macht übernehmen wollen, verantwortlich gemacht. Vielmehr ist Politik mächtigen Konzernen hilflos ausgeliefert. Das bildet sicherlich keine Realität ab, indiziert aber doch, dass Herrschaft in der gegenwärtigen Phase von Kapitalismus verstärkt durch die Interessen von Konzernen gesteuert wird. In der literarischen Bearbeitung ist die relative Autonomie von Politik und Staat abgeschafft. „Demokratie“ wird kommerziell organisiert. Interessen und ephemere Meinungen werden gleichgesetzt. Dass es an Institutionen der „politischen Bildung“ und an gesellschaftlichen Prozessen der Interessensklärung fehlt, scheint mir das reale Kernstück dieser Phantasie.

2) Sofern direkte Interessen des Staates nicht betroffen waren, gehörte es zu seinen Aufgaben, Privatheit zu schützen. Übergriffe lös(t)en Proteste aus – Volkszählung und großer Lauschangriff mögen als Stichworte genügen. Wenn fehlender Datenschutz skandalisiert wird, war dieser Vorwurf bisher meistens an den Staat adressiert. Eggers verschiebt das Gewicht: Was kommerziell an Daten verfügbar ist, die wir alle „freiwillig“ abliefern, und die (ohne unsere direkte Zustimmung) verwertet werden, übersteigt bei Weitem, was der Staat über die Bürger weiß. Wir lernen: Es greift zu kurz, ausschließlich zu kritisieren, dass der Staat uns überwacht.

3) Anhand der Hauptfiguren thematisiert Eggers, wie die permanente Verfügbarkeit von elektronischen Medien Subjektivität zurichtet. Gegenwart und Spontanität verschwinden zugunsten der Notwendigkeit, die Gegenwart zu dokumentieren; zugunsten der Anforderung, ständig für nicht Anwesende verfügbar sein zu wollen/müssen; das Leben so zu gestalten und zu planen, dass man für die Netz-Community attraktiv bleibt/wird. Wer das nicht schafft oder nicht will, dem werden Ressourcen entzogen, der wird denunziert, krank oder in einer tödlichen Hetzjagd (und sei es nur, weil es möglich und spaßig ist) zu Grunde gerichtet. Neutraler formuliert: Welche Subjektivierungsprozesse mit der Allgegenwart von elektronischen Medien verbunden sind, wie sich das „Netz-Individuum“ konstituiert, harrt noch genauer Analysen. Inwiefern unsere Netz-Aktivitäten mit herstellen, was als gegenwärtige Arbeitsmoral gebraucht wird, ist Teil dieser Frage.

Da es sich bei diesem Buch um keine wissenschaftliche Untersuchung handelt, sondern um eine Dystopie, kann man Eggers kaum vorwerfen, dass die Vorteile – im Alltag und zur Selbstdarstellung, als informatives und politisches Medium –, die „das Internet“ bietet, nicht ausgelotet werden. Das Buch macht „nur“ auf einige Schieflagen in der öffentlichen Debatte aufmerksam.

Da es sich bei diesem Buch um einen Thriller handelt, und in dieser Besprechung schon ziemlich viel verraten wurde, erlaube ich mir zumindest, das Referat der Schlusspointe des dritten, kurzen Teils rätselhaft zu formulieren: Die Heldin des Buches hat, aus ihrer Perspektive, die Apokalypse verhindert. Es lebe die Apokalypse, ist meinerseits hinzuzufügen. Wie Hollywood das Ende modifizieren wird, bleibt spannend.

Dave Eggers (2014) Der Circle. Köln: Kiepenheuer & Witsch

© links-netz Oktober 2014