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Über die Grässlichkeiten aller Herrschaftsformen:
Gangs of New York

Christine Resch

Dass es dem amerikanischen Präsidenten an demokratischer Legitimation fehlt, liegt nicht nur daran, dass die Auszählung der Stimmen bei der letzten Wahl, vornehm ausgedrückt, problematisch war. Auf die herrschende Groß-Politik reagiert die Bevölkerung völlig angemessen mit „Politikverdrossenheit” und spart sich den Gang zur Wahl-Urne. Jeder weiß außerdem, dass man in den USA Millionär sein muss, um Präsident zu werden, dass man einem Clan angehören muss, um an die Macht zu kommen. Das ist Demokratie als Plutokratie. Diese Form von Demokratie reicht aber aus, dass Bush jr. sagen kann, er werde auch im Irak nach dem Krieg eine Demokratie einrichten, die zum Vorbild in der ganzen Region werden wird. Die gegenwärtige Kriegsvorbereitung ist insgesamt ein Beispiel dafür, dass demokratische Legitimation ziemlich hilfreich ist, eine Fassade davon aber auch ausreicht. Bush jr. (und Blair) brauchen das UN-Mandat innenpolitisch – eine nicht unbeachtliche Zahl ihrer (Nicht-) Wähler/innen sind nämlich gegen den Krieg. Aber die Art wie das verhandelt wird, lässt einen doch zweifeln, ob da ausschließlich über die Sache abgestimmt wird. Und Bush jr. hat für sich ein „Minderheitenvotum” vorgesehen, falls er im Weltsicherheitsrat keine Mehrheit erreicht, die einen Krieg gegen den Irak legitimiert – was immer noch das Völkerrecht unterlaufen würde, aber immerhin die Mehrheit als relevant anerkannter Staatsoberhäupter wäre.

Und wie genau Bush jr. eine Demokratie im Irak errichten will, erfahren wir nicht. Von Afghanistan wissen wir immerhin, dass Stammeshäuptlinge einbezogen werden müssen. Martin Scorsese in Gangs of New York zeigt uns, wie das geht: eine Bandenherrschaft demokratisch abzulösen. Und wie ein „Minderheitenvotum” aussieht, zeigt er uns, ganz nebenbei, auch.

In New York, genauer an einem Ort, der „Five Points” heißt, kämpfen zwei Gangs, die Iren, religiöse Fanatiker (Dead Rabbits) und die Natives, Patrioten, Rassisten und Anti-Katholiken (Bowery Boys) um die Vorherrschaft im Viertel. Ganz langsam färbt sich der schneebedeckte Platz rot. Mann kämpft gegen Mann, ohne Schusswaffen. Wir sehen Zweikämpfe auf Leben und Tod. Das ist der „Realismus” wie wir ihn aus dem Endzeitwestern kennen, wo beim Sterben zuschauen etwas anderes ist als fesche Indianer vom Pferd purzeln sehen. Zwischendurch dreht sich die Kamera (für die insgesamt bemerkenswerte Kameraführung: Michael Ballhaus) ziemlich schnell und zeigt ein Menschengetümmel. Wir verlieren den Überblick und fragen uns, wie es überhaupt möglich sein soll, in dieser Enge und Hektik Feinde von Verbündeten zu unterscheiden. Es ist die Perspektive der Kämpfer, die uns hier aufgezwungen wird. Aber dann wieder ein Zweikampf: Erst als der Iren-Häuptling, Priest Vallon (Liam Neeson), tot ist und sich sein kleiner Sohn von ihm verabschiedet hat, wissen wir wer gewonnen hat. Erst dann kommt auch eine zeitliche Einordnung: Gangs of New York (2002) spielt Mitte des 19. Jahrhunderts, Amerika befindet sich im Bürgerkrieg.

Als der kleine Sohn, Amsterdam Vallon (Leonardo DiCaprio) 16 Jahre später wiederkommt, herrscht der Häuptling der Natives, William Cutting (Daniel Day-Lewis), den alle Bill, the Butcher nennen, noch immer. Alle Gangs arbeiten für ihn, sie plündern, stehlen und betrügen, zahlen ihre Abgabe – einen Anteil an die Bezirkspolizei, einen an Butcher. Jenny Everdeane (Cameron Diaz), eine Einzelkämpferin und gerissene Diebin, von Butcher großgezogen, kann ihr Diebesgut zwar behalten, schläft dafür aber mit ihm. Die seinerzeit überlebenden Iren gehören längst zum Clan. Und auch Amsterdam gehört dazu, wird zum Liebling, zum Adoptiv-Sohn von Butcher. Zur Polizei und den Politikern pflegt man gute Beziehungen. Beide sind korrupt, die Polizei ist mit ihrem Anteil zufrieden, die Politiker wollen Wahlstimmen. Unter diesen Bedingungen lassen sie Butcher gewähren. Der sucht als Gegenleistung auch vier Männer aus, die gehängt werden, damit der Politiker hartes Durchgreifen demonstrieren kann. Auch die Feuerwehrleute, das muss man dieser Tage extra erwähnen, kontrolliert er. Verschiedene Gangs von Feuerwehrleuten bekämpfen sich gegenseitig statt den Brand zu löschen und überlassen derweil den Bewohnern von Five Points die Plünderung.

Inzwischen ist aber auch der Bürgerkrieg fortgeschritten. Nicht nur irische Einwanderer, die mit einer warmen Suppe (wegen ihrer Wahlstimme) empfangen werden sollen, auch Särge werden im Hafen zunehmend ausgeladen. Die Iren unterschreiben bei Ankunft auch gleich zwei Formulare: ihre Einbürgerung und ihre Verpflichtung zur Armee. Sie sind Menschenmaterial, das verheizt wird. In Uniform besteigen sie sofort wieder ein Schiff – in der Hoffnung, jetzt die versprochene Suppe zu bekommen.

Irgendwann verrät ein Bandenmitglied die Identität von Amsterdam, der, wir wissen es längst, Rache üben will. Der Machtkampf der Gangs bricht erneut aus. Amsterdam wird als Stimmenbeschaffer gewonnen, fordert aber im Gegenzug, dass ein Ire für das Amt des Sheriffs kandidieren darf. Butcher, der endgültig um seine Macht fürchtet, bringt diesen gewählten Volksvertreter brutal um, der dank Amsterdams Engagement mehr Stimmen bekommen hat als es Iren gibt. Butcher nennt den Mord „Minderheitenvotum”.

Aber dann passiert noch etwas: die „Freiwilligen” für den Bürgerkrieg fehlen und wer sich nicht mit 300 Dollar freikaufen kann, wird eingezogen. Five Points – da hat niemand 300 Dollar. Der „Pöbel” rebelliert gegen das Einberufungsgesetz von Präsident Lincoln. Es formieren sich zwei Großgangs – auch Klassenkampf genannt. Der entscheidende Kampf zwischen den Dead Rabbits und den Bowery Boys findet nicht mehr statt, beide Gangs werden von der Army niedergemetzelt. Die Anführer überleben – so ist das im Kino. Aber Amsterdam übt noch Rache. Die Toten, die der Klassenkampf gefordert hat, sind auch für die neue Herrschaft ärgerlich: Sie beerdigen eine Menge Wahlstimmen.

Amsterdam wird Jenny nach Californien zu den Goldgräbern begleiten. New York wird wieder aufgebaut. Scorsese zeigt die verschiedenen Phasen, wie aus den Trümmern die Metropole New York entsteht – ganz am Schluss die Südspitze von Manhattan mit dem WTC. Der Abspann ist von einem Gesang mit dem Text „these are the hands that built America” unterlegt.

In diesem Film werden alle kulturindustriellen Register gezogen und vorgeführt. In den Szenen, die in einer Art Theater spielen, in der Butcher seine Feste feiert, das wichtigste zum Gedenken seines Erzfeindes, den er als ehrenvollen Kämpfer geschätzt hat, wird man darauf aufmerksam. Einige dieser kulturindustriellen Mechanismen sind bis zur Kenntlichkeit entstellt. So, wenn Butcher Amsterdam nach seinem unfreiwilligen Preisgabe seiner Identität zusammenschlägt und als marktschreierischer Metzger die Körperteile von Amsterdam dem Publikum anbietet, sich dann aber doch zu gut dafür ist, ihn zu töten. Zuschauer und Schausteller schaukeln sich gegenseitig hoch. Die Zuschauer werden als blutrünstige Monster dargestellt, die Show kann ihnen nicht grausam genug sein.

Das ist durchaus eine zeitgenössische Version von Sergio Leones Once upon a time in America (1983). Inzwischen ist das Publikum noch abgebrühter, um denselben Effekt zu erzielen, werden die Gewalt-Darstellungen noch brutaler. Wie in Leones Film auch, ist das keine abstrakte Gewalt: Schon Robert de Niros demoliertes Gesicht hat man seinerzeit kaum ertragen, und auch wenn man de Niro schätzt und DiCaprio nicht leiden kann, mit einem derart zugerichteten Gesicht, mehrmals im Film, möchte man ihn dann doch auch nicht sehen.

Oder wenn er, kurz vorher, mit Jenny, inzwischen die Geliebte von Amsterdam, eine berühmte Messerwerfer-Nummer aufführt, sie diesmal aber leicht verletzt und damit Amsterdam darauf aufmerksam macht, dass er über seine Herkunft Bescheid weiß. In diesen Sequenzen macht der Film die Zuschauer zu Bewohnern von Five Points: Sie wollen Hinrichtungen sehen, Brände, Kämpfe, ein bisschen Sex. Hier wird mit „niedrigen Instinkten” gespielt, das aber grotesk überzogen. Erwartungen werden enttäuscht: Butcher ist noch ganz freundlich, wenn er Amsterdam mit Jenny im Bett erwischt. Die Zuschauer erwarten schon hier, dass der Vater-Sohn-Konflikt ausbricht. Am eindrucksvollsten geschieht das am Ende. Man erwartet, dass die Rache ausbleibt und sich die beiden Häuptlinge gegen den Klassenfeind verbünden – das wäre das kulturindustrielle Klischee. Hier aber gibt es keine Helden und keine Verbrüderung. Es ist ein Film über Kulturindustrie.

Und es ist ein Film über die Anfänge der Demokratie. Eigentlich hätten am Ende beide Capos in einem Zweikampf sterben müssen. Das nämlich macht den Film so schwierig: die retrospektive Umdrehung. Mehr als zwei Stunden glaubt man, ein Gangsterbanden-Epos zu sehen. Tatsächlich ist es aber ein Film über einen Volksaufstand der von der herrschenden Klasse zum Anlass genommen wird, das alte Regime der über Capos vermittelten Herrschaft zu Ende zu bringen. Wie im Endzeitwestern die alten Revolverhelden ins Nichts der Prairie verschwinden, so erweisen sich hier die Banden-Chefs als dysfunktional und überholt und müssten eigentlich alle umkommen. Amsterdam durchschaut die Entwicklung nicht. Er will noch Häuptling werden als sich das Ende dieser Herrschaftsform schon abzeichnet. Da ist Scorsese nicht konsequent genug – der rettet Amsterdam für Jenny, die genau das begriffen hat.

Zugleich werden alle Herrschaftsformen als grässlich vorgeführt. Der Volksaufstand ist grässlich: Lynch-Morde an Schwarzen, „für die” man nicht in den Krieg ziehen will. Seine Niederschlagung geschieht kriegerisch und ist grässlich – schon durch den Fortschritt der Destruktivkraft im Vergleich zu den Waffen der Gangs. Die Bandenherrschaft davor wird ohnehin in allen Grässlichkeiten ausgespielt: abgeschnittene Ohren sind die Trophäen der Sieger im ersten Kampf. Der Bürgerkrieg ist in seinen Grässlichkeiten durch endlose Reihen von Särgen präsent. Das Erbe dieser grauenhaften Herrschaftsformen tritt die siegreiche herrschende Klasse an. Der Ausblick ist Demokratie als Plutokratie mit ihren Grässlichkeiten: Das Volk ist Menschenmaterial, das im Zweifel massakriert wird.

Diese Demokratie beruht von Anfang an auf populistischer Politik. Am direktesten und ins Komische gewendet, geschieht das mit der mehrmals wiederholten Rede von den Wahlstimmen, die man gewinnen (und beerdigen) muss. Das einzige Interesse am „Volk“, das die politische Klasse hat, ist die Organisation nach Köpfen und nicht die Vertretung ihrer Interessen: nach Wahlstimmen und nach Wehrpflichtigen eben. Hier wird uns vorgeführt, dass Demokratie, dass der Kampf um Wahlstimmen derselben Logik folgt wie gewaltförmige Auseinandersetzungen um Vorherrschaft. Beide Formen sind zunächst auch miteinander verbunden, brauchen sich gegenseitig. Das geschieht sehr direkt in den Kooperationen der Anführer der Gangs mit der politischen Klasse, die sich gegenseitig erpressen. Die Mittel, mit denen Demokratie hergestellt wird, sind nicht demokratisch. Interessant ist für die Politiker der Häuptling, der eine große Gruppe mobilisieren kann. Butcher dankt als Mehrheitsbeschaffer in Five Points ab, weil die neu zugewanderten Iren in der Überzahl sind. Die Politiker erkennen das schnell und wechseln die Seiten. Opportunismus wäre dafür schon ein zu starkes Wort, eine inhaltliche Zusammenarbeit war das nie. Aber auch die Instrumentalisierung überholt sich mit dem Sieg der „Demokraten“. Sie benutzten die Gangs, um allein zu herrschen.

Historisch interessant ist an diesem Film, dass der Bürgerkrieg nicht nur dort stattgefunden hat, wo die Schlachten geführt wurden – wir kennen das nicht nur aus Vom Winde verweht –, sondern auch in Städten wie New York „angekommen” ist, die nie davon berührt wurden. Das gab es bisher im Kino noch nicht. Auch die Aufstände, die „Civil War Draft Riots” (1863) sind nicht besonders bekannt. Man kann darüber nachlesen, dass das hauptsächlich von irischen Arbeitern angeführte Proteste waren: „a rich man’s war and a poor man’s fight”. Viele Gruppierungen in New York, so ist weiter zu lesen, sympathisierten mit dem Süden und lynchten während dieser Ausschreitungen Schwarze und Abolitionisten. Auch das ist Populismus: Feinde werden unten und oben konstruiert – „Neger” und „Negerfreunde”.

Aber es ist auch ein Aufstand der Arbeiter, die sich, nicht gerade solidarisch, die Konkurrenz der befreiten Sklaven vom Hals halten wollen. Arbeit fehlt in Gangs of New York auffällig. Das alltägliche Leben in Five Points wird nicht gezeigt, und auch wie die feine Gesellschaft zu ihrem Geld kommt, bleibt unklar. Dass ist auch deshalb eine Schwäche, weil in den wenigen Anspielungen aufscheint, dass die einzigen anständigen Leute diejenigen sind, die das kapitalistische Prinzip begriffen haben. Jenny, die zu den Goldgräbern und dort schnell Geld machen will und der Ire, der als Sheriff kandidiert und umgebracht wird. Er hat seinerzeit Priest Vallon gegen Geld gedient und dem Toten dann die Taschen geleert, aber nicht, wie wir und Amsterdam zunächst annehmen, um sich sein Geld zu holen, sondern, um das noch mit Blut beschmierte Rassiermesser – ein Kampf-Fetisch – für Amsterdam aufzubewahren. Über die Stammes-Ökonomie im Vergleich zur kapitalistischen, wüsste man gerne Genaueres.

Scorsese erzählt eine Geschichte ohne Helden. Schon das haben wir nicht so gerne. Dass es die einzige Frau in diesem Männer-Epos ist, die begreift, was da passiert – die am ehesten die Publikumsrepräsentantin ist – ist eine der bösen Ironien und für eine Patriarchats-Analyse ziemlich interessant. Auch hier ist es wieder Sergio Leone, an den wir denken: Auch in Once upon a time in the West (1968) ist Jill McBain (Claudia Cardinale) die Publikumsrepräsentantin – ein Frauenwestern. Es sind die Frauen, denen es gut gelingt, sich mit dem Kapitalismus zu arrangieren.

Gangs of New York bringt aber auch ein neues Thema – großstädtische Konflikte – in den US-Heimatfilm. Aber hier wird nicht einfach ein neuer Bereich in den Gründungsmythos einbezogen. Vielmehr wird zugleich die ganze Genre-Geschichte des Westerns mitbearbeitet, der Mythos reflexiv gewendet. Dieses Thema aber wird man in den USA nicht mögen. Die neuen Herrscher sind korrupt, das Volk wird als Verschubmasse gesehen. „The hands that built America”: das ist nicht so richtig positive Geschichtsschreibung. Man wird es vor allem nicht mögen, weil der Norden nicht geschlossen gegen die Sklaverei war, die Soldaten nicht freiwillig in einen „moralisch gerechtfertigten” Krieg gezogen sind. Patriotismus, so lernen wir, muss(te) aufwendig hergestellt und erzwungen werden.

Scorsese hat einen erstaunlich politischen Film gemacht. Seit mehr als dreißig Jahren arbeitet er an diesem Film – die gegenwärtige Entwicklung konnte er nicht vorhersehen. Trotzdem ist der Film aus genau diesem Grund interessant. Mit Hilfe der Geschichte über die Ursprünge der Demokratie bringt er heutige Politik-Strukturen auf den Begriff, also: ins bewegte Bild. Er reflektiert, was die US-Politik schon lange auszeichnet: Populismus und Re-Feudalisierung. Er reflektiert populistische Politik, die gegenwärtige Demokratien prägt, als Grundstruktur von (Real-)Demokratien.

© links-netz März 2003