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Warum „Wissensgesellschaft“ die Verallgemeinerung von Kulturindustrie ist und zur neoliberalen Politik gut sich schickt

Christine Resch

Wenn Sie die soziologischen Gesellschaftsmodelle beobachtet haben, dann ist Ihnen Risiko-, Erlebnis-, Informations- und ganz bestimmt Wissensgesellschaft vertraut. Dazu kommt noch die Spaßgesellschaft oder auch -Generation, die hauptsächlich im Spiegel stattgefunden hat. Die wichtigste Evidenz dafür war und ist alle Jahre wieder die Love-Parade oder vergleichbare Ereignisse. Wenn gerade kein Event dieser Art stattfindet, wird es auch wieder still um die Spaßgesellschaft. Anders ist das mit Wissensgesellschaft. Diese Gesellschaftsdiagnose hat sich als erstaunlich stabil erwiesen. In allen Medien und von fast allen Fraktionen der Gebildeten wird sehr selbstverständlich davon ausgegangen, dass es eine Wissensgesellschaft sei, in der wir leben. Das muss nicht mehr begründet, das kann unterstellt werden.

Dass diese Gesellschaftsdiagnostik viel mit Kulturindustrie zu tun hat, davon war schon im Vortrag von Heinz Steinert die Rede. Von der Sache her, den Veränderungen, auf die mit solchen Begriffen reagiert wird, ist es nicht immer angebracht, gleich eine ganz neue Gesellschaft auszurufen. Häufig sind es nicht mehr als Moden oder subkulturelle Praktiken, die zum Symptom einer ganz neuen Gesellschaft verallgemeinert werden. Was da alles stabil bleibt, sich nicht ändert, wird in solchen Theorien vernachlässigt. Damit bleibt auch unerklärt, welchen Stellenwert eine wahrgenommene Veränderung tatsächlich hat. Öffentliche Aufmerksamkeit allerdings lässt sich mit der Behauptung von Neuheiten, von dramatischen Veränderungen leichter erreichen. Sensationen auszurufen gehört zu den wichtigen kulturindustriellen Mechanismen. Besonders am Beispiel Wissensgesellschaft ist auch leicht zu sehen, dass mit solchen Begriffen Politik gemacht wird. Das tun Wissenschaftler, Journalisten, Wirtschaftsbosse und Politiker. „Unsere 35-Stunden-Woche ist die reinste Vergeudung von Wissen“, sagte kürzlich der Vorstandschef der Siemens AG in einem Interview. (Heinrich von Pierer in: Der Spiegel, 42/2003, S. 50)

Ich möchte im Folgenden zeigen, dass es in der Wissensgesellschaft nicht auf vorhandenes Wissen, allgemeine höhere Bildung also, sondern darauf ankommt, das Bewusstsein von fehlendem Wissen zu erzeugen. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass Wissen in größeren Mengen verkaufbar wird. An Beratungen aller Art will ich in einem zweiten Abschnitt zeigen, welche Politik mit dem Befund „Wissensgesellschaft“ verbunden ist. Die Analyse von Ratgebern macht auf ein zweites Bestimmungsstück von Wissen aufmerksam, das erfüllt sein muss, wenn es kulturindustriellen Imperativen gehorchen soll: Inhaltlich muss es nach einmaligen Konsum vergessen werden, darf also keine nachhaltigen Erfahrungen bewirken. Über den schnellen Verbrauch, stellt sich neue Nachfrage her. Die Haltung, in die uns Ratgeber bringen, ist damit interessanter: wir werden zur Anpassung angehalten. Schließlich soll es im letzten Abschnitt um die Leute gehen, die nicht über das gerade erwünschte Wissen verfügen und wie über sie geredet wird.

Die alte und die neue oder von der euphorischen zur defensiven Wissensgesellschaft

Wie das mit Moden so ist, so neu, wie es uns manchmal nahegelegt wird, ist Wissensgesellschaft gar nicht. Vielmehr wurde sie schon Anfang der 70er Jahre erfunden. Sie hieß damals zwar „postindustrielle Gesellschaft“, kam aus den USA, aber die zentralen Bestimmungsstücke von Wissensgesellschaft sind darin schon ausgearbeitet. Das wichtigste davon: Wissen werde zur wichtigsten Produktivkraft. Die traditionellen Produktionsfaktoren – Grundbesitz, Arbeit, Kapital – verlierten an Bedeutung, der Dienstleistungssektor wachse dagegen. Das sind Motive, die auch für die Beschreibung der gegenwärtigen Wissensgesellschaft herangezogen werden. Aber: Die erste Wissensgesellschaft war ein optimistisches Projekt, war Fortschritt, gewollt und machbar. Die erste Wissensgesellschaft propagierte ein Bündnis zwischen Gebildeten und Facharbeitern: Ingenieure und Techniker sind neben Planern und Verwaltern die attraktiven Figuren. In der gegenwärtigen Wissensgesellschaft sind die Gebildeten dagegen bestrebt, sich für die Herrschenden attraktiv zu machen. Handarbeit wird jetzt abgewertet. Die attraktiven Figuren sind Betriebswirte: Finanzjongleure und Berater. Und die Wissensgesellschaft wird uns jetzt als Sachzwang nahegebracht. Bürokratie und Staat stören nur, der Markt soll es richten. In beiden Fällen beanspruchen die Gebildeten eine wichtige soziale Position: deshalb ist ihnen „Wissensgesellschaft“ plausibel und angenehm. Sie ist Politik in eigener Sache. Darin drückt sich ihr Kampf um den Umgang mit ihren Produktionsmitteln aus, wie es Horkheimer und Adorno in der Theorie der Kulturindustrie beschrieben hat. Was sind die Erfahrungen der Gebildeten, die die Diagnose „Wissensgesellschaft“ hervorbringt?

Die gegenwärtige Wissensgesellschaft hat eine komplizierte Geschichte: In der Hoch-Zeit der New Economy wurde sie wiederentdeckt und begeistert begrüßt. Wissen wurde mit Internet, dieser „Megamaschine Wissen“ (Rötzer) gleichgesetzt, die Wissensgesellschaft als Gesellschaft des jederzeit und überall verfügbaren Wissens per Mausklick verstanden. Dazu kommen e-mails als neue und grenzenlose Kommunikationsmöglichkeiten. Darüber wem diese Möglichkeiten offen standen und welches Wissen da eigentlich abrufbar ist, machte man sich kaum Gedanken. Das Netz, das war Demokratie. Die neue Technologie wurde gefeiert. Als „Verlierer“ gelten Entwicklungsländer, die weiter nichts zu bieten haben als Rohstoffe. Neue chice Berufe sind entstanden: Informatiker und Web-Designer, die unkonventionelle und schnelle Karrieren machten. Wir alle arbeiteten immer mehr am PC, machten unsere Bankgeschäfte dort und kauften am PC auch ein. Bald würden Stereo-Anlage, Fernseher und PC verkabelt sein, der Kühlschrank digital gesteuert. Eine schöne neue Welt wurde ausgemalt.

Seit dem Zusammenbruch der New Economy haben wir es zwar immer noch mit Wissensgesellschaft zu tun, aber mit einer defensiven Konzeption davon. Wissensgesellschaft ist jetzt einfach da, ist über uns gekommen, ist ein Sachzwang, überfordert uns, wir müssen uns aber anpassen. Keiner hat sie gewollt und gemacht, entziehen können wir uns aber auch nicht. Wissensgesellschaft heißt „lebenslanges Lernen“. Das betrifft uns als Individuen, das betrifft Organisationen – „lernende Organisation“ ist das Stichwort dafür – und das betrifft die nationalstaatliche Standortpolitik. Wer nicht mitzieht, geht in der Konkurrenz unter. Alle sollen ständig über das allerneueste Wissen verfügen, wird als Anforderung nahegelegt.

Das ist eine Suggestion des Begriffs „Wissensgesellschaft“, dass alle jetzt umfassendes und jedenfalls viel mehr Wissen haben müssten. Tatsächlich ist die Wissensgesellschaft aber eine Gesellschaft des enteigneten Wissens: Sie funktioniert darüber, dass Experten für alles und jedes den anderen klar machen, wie notwendig sie ihre Beratung in allem und jedem brauchen. Die Verkäuflichkeit dieser Beratung hängt genau davon ab, dass die anderen wissen, dass sie nicht wissen. Die Wissensgesellschaft braucht verbreitet Halbwissen, gerade genug, dass man um den Beratungsbedarf weiß, gerade genug, dass man die Geräte anschafft, die man dann alleine nicht bewältigen kann. Erfahrung wird reduziert auf den Umgang mit Gebrauchsanweisungen, manchmal ziemlich komplizierte, etwa im Fall des Computers, aber zuletzt nicht mehr als das. Die Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft von Lehrern und Beratern. Ihr wichtigster Rohstoff ist nicht, wie behauptet wird, Wissen und Information, sondern das Bewusstsein ihres Fehlens. Und Wissensgesellschaft ist neuerdings auch eine Gesellschaft der Unterhalter, die Wissen für den schnellen Konsum herstellen. In populären Ratgebern findet man beides.

Beratung: zur Kritik der „unterhaltenden“ und der „instrumentellen“ Vernunft

Unser Alltag ist von Beratung umstellt. Viele Gespräche mit Freunden und Bekannten, mit Eltern, Kollegen und Vorgesetzten enthalten Beratungsanteile. Das sind, im glücklichen Fall, Hilfe, Unterstützung und Reflexionen von Leuten, die mehr Erfahrung haben, im weniger glücklichen unerwünschte Ratschläge, die einem aufgedrängt werden, weil man es doch nur gut meint. Dazu kommen alle Formen von kulturindustrieller Beratung, der man sich nicht entziehen kann. Das sind Verkaufsgespräche aller Art – von der Öko- und Kultur- über die Kredit- und Vermögens- bis zur Computer- und sonstiger Technik-Beratung. Das können direkte Interaktionen sein, das kann auch die Lektüre einschlägiger Zeitschriften sein. Immer wird uns mitgeteilt, dass wir nicht genug wissen, um unseren Alltag, unsere Karriere, unsere Beziehung und Ehe, unsere Kinder souverän zu beherrschen, zu planen, zu gestalten und zu erziehen. Am nachhaltigsten greift Beratung aber dort in unser Leben ein, wo wir nichts damit zu tun haben: in der Unternehmens- und Politikberatung. Hier wird Gesellschaft umgebaut. Darauf wird zurückzukommen sein. Zunächst aber die populären Ratgeber.

In der Ratgeberliteratur werden wir häufig mit banalen bis absurden Regeln konfrontiert: „Ruhen Sie sich aus, ehe Sie müde werden.“ (Dale Carnegie) Viele davon sind gar nicht dazu gedacht, in die Praxis umgesetzt zu werden, auch dann nicht, wenn sie den Charakter einer Gebrauchsanweisung haben. Jeder weiß, dass der Umgang mit dem Chef, dem Partner, mit Kindern oder mit sich selbst andere Fähigkeiten voraussetzt als die Montage eines Videogerätes. Technische Anweisungen wird man also nicht befolgen. Wenn es nicht die Inhalte sind, um die es hier geht, was ist es dann. Diese Artikel, Bücher und CDs sind Unterhaltung. Der Klappentext eines Beziehungsratgebers mit dem Titel „Der Bettseller“ veranschaulicht das:

„Martina Wimmers Guide durch alle Lebens- und Liebeslagen macht so viel Spaß wie ein gelungener Frauenabend, ist frech, frivol, manchmal böse, aber nie verbissen. Dieses Buch gibt mit größtem Vergnügen Antworten auf die ewig ungelösten Rätsel des weiblichen Daseins. Zum Beispiel: Hilft Nymphomanie gegen Liebeskummer? Darf im Bett gelacht werden? Gibt es ein Leben nach dem dreißigsten Geburtstag?“ (Martina Wimmer, Der Bettseller, 1998)

Solche Beziehungsratgeber, die das Genre zugleich ironisieren, werden von jungen Leuten geschrieben, von Journalistinnen meistens, kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag. Es ist das schriftliche Pendant zur Fernsehserie „Sex in the City“, sowie Katja Kuhlmanns (2002) „Generation Ally“ (als weibliches Gegenstück zu Florian Illies’ „Generation Golf“) von der Fernsehserie „Ally McBeal“ inspiriert ist, als deren Fan sie sich darstellt. Das oben zitierte Buch, so wird weiter gesagt, „bleibt dabei immer in der Position der besten Freundin, die gute Ratschläge gibt, obwohl sie selber in der Praxis kein bisschen klüger ist.“ Hier werden alle Leser darauf vorbereitet, dass keine praktikable Hilfestellung zu erwarten ist, sondern es nur darum geht, sich gemeinsam die Zeit zu vertreiben, etwa, indem man über die Männer (oder die Weiber) herzieht.

Auch das Verkaufskalkül ist leicht zu durchschauen: Ratgeber verkaufen sich gut, sex sells, eine Mischung von beidem wird sich umso besser verkaufen. Das Kalkül geht häufig auf: die Spiegelbestseller-Liste enthält immer eines oder mehrere dieser Bücher, einige davon erstaunlich lange, mehrere Wochen oder sogar Monate – bis ein neuer ansprechender Titel sie ablöst: „Warum Männer lügen und Frauen immer Schuhe kaufen“ ist einer der gerade aktuellen. Wenn es Unterhaltung um der Unterhaltung willen ist, Schall und Rauch, der verflogen ist, bevor die Buchdeckel geschlossen sind, sollte man die Kritik dann nicht damit abschließen? Das Problem ist nur: ganz ohne „Inhalte“ kommen auch die komischen, die ironischen Ratgeber nicht aus, von den ernsttuenden, die es auch gibt, gar nicht zu reden. Ich will deshalb versuchen, die Kritik dieser „unterhaltenden Vernunft“ noch ein wenig fortzusetzen. Was sind diese „Inhalte“? Und gibt es da vielleicht doch eine Verbindung zur „instrumentellen Vernunft“? Ich will das an drei Beispielen tun: der schon genannten, ironischen Variante, an neuen ernsthaften Karriere-Ratgebern und schließlich an einem Lebenshilfe-Klassiker.

Zunächst zur ironischen Variante: Den Inhalt dieser Serien und Bücher kann man schnell zusammenfassen: Sex hat man, um den Freundinnen davon zu erzählen. Das ist auch das Beste daran. Die große, romantische Liebe kann man sich nicht leisten, sie ist unpraktisch, nur die gelegentliche Regression bei der besten Freundin. Das Leben: ein Pubertäts-Drama ohne Ende. Hier geht es um Selbstdarstellungsnormen der jungen gebildeten Schicht, besonders der jungen gebildeten Frauen. Ein Problem soll gar nicht bearbeitet werden. Vielmehr wird vorgeführt, wie es in jeder Lebenslage gelingt, „cool“ zu erscheinen. Die jungen Power-Frauen nehmen es mit den Jung-Machos auf, wird hier mitgeteilt. Das ist Geschlechter- als Konkurrenz-Kampf. Das sind Ratgeber, die davon ausgehen, dass es nicht ganz unwahrscheinlich ist, dass man das Bett mit seinem Konkurrenten teilt, dass man das gegebenenfalls auch bleiben lassen kann und stattdessen „Ally McBeal“ in der Glotze einschaltet, dass man aber keinesfalls eine Schwäche zeigen darf.

Karriere-Ratgeber sind dagegen an uns als konkurrierendes Individuum adressiert, dem ein Konkurrenzvorteil versprochen wird, der freilich den Charakter eines Geheimtipps hat, der in einem populären Reiseführer veröffentlicht ist: die Konkurrenten lesen mit. In den 80er Jahren hat die instrumentelle Karriere-Beratung die „inhaltliche“ Berufsberatung abgelöst. Hier wird die flexible Arbeitskraft propagiert, aber es werden auch Techniken vorgestellt, wie es Individuen gelingen kann, das geforderte Leben gekonnt zu meistern. An vielen Karriere-Ratgebern fällt auf, dass sich Individuen in der Logik eines Unternehmens denken sollen: kalkulierender Betriebswirt und Motivationsgenie zugleich. Dass jeder „seines Glückes Schmied sei“ und damit an seinem „Unglück“ selbst schuld, ist eine Alltagsmoral, die für die gegenwärtige Politik ganz nützlich ist. Mit Inhalten wird die Karriere nicht verbunden, sie zu machen ist sinnvoll und notwendig. Auch inhaltliche Kompetenzen rücken in den Hintergrund: um Selbst-Management und Selbst-Präsentation geht es. Selbstbewusstsein ist alles, es darf auch überzogen sein.

In diesen neueren Ratgebern rückt Selbstdarstellung in den Vordergrund. Sie sind Anleitungen, wie es in jeder Situation möglich ist, gut dazustehen, und dass genau das auch nötig ist. Mit gekonnter Selbstdarstellung können wir mehr aus uns machen und in jeder Situation souverän sein. Und weil fast immer Konkurrenzverhältnisse angenommen werden, heißt Souveränität meistens „Gewinner“ sein.

Ich möchte deshalb noch eine kleine Gegenprobe machen und einen älteren Ratgeber einbeziehen: Dale Carnegies „Sorge Dich nicht – lebe!“ Dieses Lebenshilfe-Buch beruht auf Kursen, die Carnegie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts abgehalten hat, ein Ratgeber, der zum a-historischen Klassiker geworden ist, immer noch viel verkauft wird, immer noch als Seminar gebucht werden kann.

„Wenn uns das Schicksal eine Zitrone gibt – machen wir Zitronenlimonade daraus“ – ist einer der Merksätze darin, eine Regel, die wir uns durch wiederholtes Lesen aneignen sollen. Hier geht es um positives Denken. Wir haben unser Leben nicht in der Hand, das Schicksal spielt uns mit, aber mit viel Gottvertrauen können wir es trotzdem meistern. Das Wichtigste, was wir selbst dazu beitragen können, ist, sich mit dem Gegebenen arrangieren, ist eine Anpassungsleistung: „Akzeptieren Sie das Unvermeidliche.“ Ein sorgen- und angstfreies Leben ist das höchste Gut: „Um Sorgen und Müdigkeit zu verhindern, machen Sie Ihre Arbeit mit Begeisterung.“

In 30 Erfahrungsberichten, mit denen das Buch endet, wird uns dann vorgeführt, wie sich diese Ratschläge umsetzen lassen. Die Mode-Krankheit für geplagte Leute war damals noch das Magengeschwür und Schlafstörungen. Staatsmänner, Multi-Millionäre, Rechtsanwälte, Professoren und Prominente genesen, wenn sie lernen, sich zu entspannen. Von Rockefeller wird da etwa erzählt, dass er 150 Dollar (bei einem Einkommen von einer Million pro Woche) verschwendet hatte und deshalb sterbenskrank wurde. Als er die Rockefeller Foundation gründete und Millionen verschenkte, fand er durch seine Wohltätigkeit seinen Frieden und wurde achtundneunzig Jahre alt. Wir sind alle nur Menschen, ist die wichtigste Botschaft dieses Buches. Auch Reichtum macht nicht glücklich, im Gegenteil, lernen wir. Der wahre Sinn des Lebens besteht für alle darin, „zu einem von Ängsten und Aufregungen befreiten Leben zu finden“, wie es im Untertitel heißt. Zugleich gehören freilich (fast) alle „Fälle“ auf die er sich beruft und mit denen er seine Ratgebertätigkeit legitimiert – er kann die Wirksamkeit seiner Regeln belegen –, zur herrschenden Klasse. Aus den Problemen von Multi-Millionären und Staatsmännern lassen sich keine Bestseller machen. Sie müssen also verallgemeinert werden. Was Sorgen und Ängste sind, weiß schließlich jeder. Mit diesen allgemeinen und unspezifischen Wörtern wird gemenschelt. Vielleicht unterschieden sich Sorgen und Ängste derjenigen „da oben“ ja doch von denen, die Leute in anderen sozialen Positionen haben. Aber davon wird nicht berichtet, auch nicht von den Ressourcen, die für Lösungen zur Verfügung stehen.

Mich interessiert an dieser Stelle, ob es sich erklären lässt, dass dieser Ratgeber immer noch populär ist. Viele der Regeln sind veraltet, einerseits. Andererseits hat sich in den letzten Jahren, neben den Ratgebern zur Selbstinstrumentalisierung in jeder Lebenslage, eine Literatur ausdifferenziert, die bei den Folgen hilft, die diese Lebensweise mit sich bringt. Psychologen und inzwischen auch Philosophen und Theologen fühlen sich berufen, bei der Bewältigung und der Suche nach dem „wahren Ich“ zu helfen. Beratungen zur Sinnfindung ergänzen das instrumentelle Angebot. Dazu kommt, dass es wieder Werbung für Mittel gegen Sodbrennen und für Pillen gegen Schlafstörungen gibt. In den Filmen über die „neuen Helden“, den Banker- und Berater-Filmen, wird uns vorgeführt, dass Geld nicht alles im Leben ist. Es ist kein Zufall, dass dieser Ratgeber alle Moden überlebt hat: Was seinerzeit Ratschläge für die Herrschenden waren, sich von der Verantwortung und den Risiken, die mit ihrer Arbeit verbunden sind, nicht krank machen zu lassen, hat sich ist dieser Tage über die neue Arbeitsmoral verallgemeinert. Wir alle, und die Unterschicht vor allem, sollen zu Arbeitskraft-Unternehmern, zu kleinen Selbständigen ohne Produktionsmittel gemacht werden, uns in der Logik eines Unternehmens denken und uns dabei vor Schlafstörungen und Sodbrennen hüten.

Lassen Sie mich eine kurze Zwischenbilanz ziehen, bevor ich an einem letzten Beispiel vorführen will, wie in Politik und Politikberatung solche populären Ratgeber relevant werden.

Ratgeber sind, Horkheimers und Adornos Bestimmung von Amüsement folgend, Unterhaltung. Und sie sind „schlechte“ Unterhaltung, weil sie mehr als Unterhaltung sein wollen. Es geht hier nicht um den wahren Luxus, sich zu vergnügen, nicht um „glücklichen Unsinn“. Vielmehr wird Sinn produziert, werden Haltungen und Denkweisen popularisiert und eingeübt. In den Beziehungsratgebern dominieren inzwischen wieder biologistische Erklärungen. Zugleich haben wir es mit den Segnungen der Gentechnologie zu tun, von der wir nichts verstehen und das auch nicht unbedingt sollen. Nur das Grundmodell des Nachdenkens soll uns plausibel sein. Biologistische Argumente, mit denen uns der Geschlechter-Unterschied, die Neigung zu Kriminalität oder unser Umgang mit Musik erläutert werden, leisten das – Haltungen werden selbstverständlich gemacht.

Kulturindustrie leistet, so meine These, die Reproduktion von gesellschaftlich erwünschten Normen, Regeln und Haltungen. In Ratgebern drückt sich das aus. Hier geht es darum, die dem Neoliberalismus entsprechende Arbeitsmoral und Lebensweise auch im Alltag durchzusetzen, uns Anpassung nahezulegen, weil wir es eh nicht ändern können und uns Taktiken anzutrainieren, mit denen es gelingt, das Schlimmste von uns selbst – im Zweifelsfall gegen die anderen – abzuwenden. Es liegt an uns, unser Leben vollständig zu kontrollieren.

Damit aber nicht genug. Auch die politische Klasse nimmt diese Unterhaltung zur Kenntnis und gestaltet damit den Umbau der Gesellschaft, an die wir uns dann anpassen sollen. Das angekündigte letzte Beispiel handelt von Politik als Unterhaltung mit Folgen.

Sie alle kennen das „Unwort“ des Jahres 2003: „Ich-AG“, eine Wortschöpfung, die in deutschen Übersetzung eines populären Ratgebers von Tom Peters, ein Guru der Management-Beratung, vorkommt: Selbstmanagement. Machen Sie aus sich die Ich AG (2001). In der hochbezahlten Beratung kann auf diese Diagnosen und die damit verbundenen Lösungen selbstverständlich aufgebaut werden. Die hochkarätig besetzte Hartz-Kommission hat nämlich aus der lächerlichen Ich-AG ein politisches Programm entwickelt.

Ich will hier nicht weiter auf die Inhalte dieses Ratgebers eingehen, interessanter ist die Form. Es handelt sich um eine verschriftete Erweckungs-Veranstaltung. Hier tritt ein Prediger auf. Bei Gurus der Größenordnung eines Tom Peters sind das volle Stadt-Hallen mit großer Bühne, von der aus Begeisterung und Größenwahn erzeugt wird. Die Analogie zu Bierzelt-Veranstaltungen in Wahlkampfzeiten drängt sich auf. Vielleicht war dieser Ratgeber der politischen Klasse deshalb so plausibel. Das ist kein Lesetext, sondern eine Aneinanderreihung von verschiedenen Bühnen-Sprecharten: von ganz leise bis schreiend, vieles ganz langsam gesprochen, mit wohl placierten Pausen und beschwörerischen Wiederholungen. Der Text enthält eine Fülle von Hervorhebungen: rot, fett, gesperrt, Großbuchstaben, verschiedene Schriftgrößen, Pünktchen, Ausrufezeichen, rhetorische Fragezeichen. Richtig vorgetragen wird er zur Heilsversprechung. Die Ich-AG ist ein kurzfristiges Aufputschmittel, mit dem man sich in der entsprechenden Situation einen Kick holen kann. Danach ist man bekanntlich verkatert.

Was mir in diesem Kontext wichtig ist: Die herrschende wirtschaftliche und politische Klasse bezieht ihr Wissen und ihre Programme von erstklassigen Showmastern, die aus aufgeschäumtem Unsinn autoritäre Unterhaltung machen. Die Ich-AG ist kein Einzelfall: Mit Spencer Johnsens „Mäuse-Strategie“ haben US-Generäle ihre Planspiele organisiert und interpretiert. Die „Mäuse-Strategie“ ist eine Geschichte über zwei Mäuse und zwei Zwergen-Menschen, die in einem Labyrinth nach Käse suchen. Ich will Sie mit den Weisheiten verschonen, die dieses Buch enthält. Bemerkenswert ist, dass mit solchen Kindereien gute Geschäfte und Politik gemacht werden. Die Ich-AG als Programm, um die flexible Arbeitskraft durchzusetzen, die Herrschenden von Verpflichtungen zu befreien und bei den Beherrschten, Unsicherheit zu erzeugen und so die Nachfrage nach Beratung zu stimulieren. Der Um- und Abbau des Sozialstaates, aber auch die dazugehörigen Bildungsreformen erzeugen einen riesigen Markt für Beratung: Kommissionen wie die nach Hartz und Rürup benannten und, in deren Folge, gigantische Projekte, die Arbeitsamt und andere Einrichtungen reformieren, aber auch der Bürger, der mehr Selbstverantwortung tragen, Ich-AGs gründen und sich überhaupt an allem selbst beteiligen soll, braucht dazu Expertenhilfe. Die Soziologen nennen das dann Wissensgesellschaft und naturalisieren die dazugehörige Politik. Die Akteure, die sie betreiben und ihre Interessen werden nicht reflektiert. Stattdessen werden daraus Sachzwänge gemacht.

Die Notwendigkeit der Haltungen, die uns von populären Ratgebern nahegebracht werden, ist durch den Umbau der Produktionsweise und den Abbau des Sozialstaats erst hergestellt worden, der zum Teil unter Berufung auf dieselben Ratgeber betrieben wird. Davon wollen die Gebildeten nichts wissen. Sie sagen Wissensgesellschaft dazu und erklären ihre Lebens- und Arbeitsweise zur einzig Wichtigen. Was verhandelt wird, ist, wie schwer es die Gebildeten dabei haben. Schließlich seien sie für das wirtschaftliche Schicksal von Wohlstandsgesellschaften verantwortlich. Das werde von den Wissensarbeitern und ihrer Innovationsfähigkeit entschieden. Dazu kommt, dass die „Halbwertszeit“ von Wissen immer kürzer werde. Heute habe professionelles Wissen eine grob geschätzte „Halbwertszeit“ von drei bis fünf Jahren, in vielen Hochtechnologiebereichen und hochprofessionellen Dienstleistungsbereichen (wie Management, Beratung und Finanzanalyse) eine deutlich kürzere. Wissensarbeiter zu sein, ist anstrengend: Sie müssen souverän mit explodierendem Wissen umgehen und lebenslang lernen. Aber auch dann ist damit noch keine Sicherheit verbunden: Reichtum und Ausbildung schützen nicht vor Risiken, nicht vor unbeabsichtigten Nebenfolgen des technologischen Fortschritts und vor Katastrophen auch nicht. Auch die „Neue Mitte“ ist von Arbeitslosigkeit bedroht. Soziale Ausschließung, die mit Wissensgesellschaft verbunden ist, wird trotzdem verleugnet oder zynisch gerechtfertigt. Davon soll jetzt abschließend die Rede sein.

Über die Verleugnung von sozialer Ausschließung

Die Wissensgesellschaftsdiagnostiker kann man unterscheiden in Euphoriker (schöne neue Welt) und Dramatisierer (Überforderung, Untergang des Abendlandes). Dazwischen steht eine Fraktion der Abgeklärten, die die Chancen, die sich da bieten, nutzen will und die Kosten dieser Entwicklung selbstverständlich macht. Da gibt es eben Leute, die nicht mithalten können: „Die Überflüssigen“ (Bude), „die Entschleuniger“ (Glotz), „die Unqualifizierbaren“ (Willke):

„Das unterste Segment der rund 20% nicht oder gering qualifizierter oder qualifizierbarer Arbeitnehmer ist hoffnungslos. Es wird mit deutlicher Ausbildung der Wissensgesellschaft immer weniger in der Lage sein, sich durch Arbeit selbst zu erhalten und mithin die Armutsgrenze unterschreiten und/ oder dauerhaft auf zusätzliche Transfereinkommen angewiesen sein.“ (Helmut Willke, Systemisches Wissensmanagement, 1998: 363)

Die „Unqualifizierbaren“ liegen „uns“, dem mittleren und oberen Segment auf der Tasche. Die Lösung dafür heißt Brot, genauer kleine Brötchen und Spiele, also Abbau des Sozialstaats und immer mehr Fernsehen. An mehr an Partizipation ist da nicht gedacht, irgendwelche Nostalgien sollten wir uns nicht leisten, weil der Rest der Welt wird davon nicht beeindruckt sein und „er wird seine komparativen Vorteile im globalen Wettbewerb der Ökonomien und der Regulierungsregime nutzen“. Für diejenigen, die mithalten wollen, kann der Preis, ein Fünftel bis ein Drittel abzuhängen und auszuschließen, nicht zu hoch sein. Das wird alles ganz nüchtern, zynisch könnte man auch sagen, festgestellt. Das Problem ist nur: Wissensgesellschaft hat in diesen Diagnosen kein Subjekt. Es ist ganz so als habe es nie jemanden gegeben, die Neoliberalismus betrieben und durchgesetzt haben. Thatcher, Reagan, Kohl und jetzt Schröder und ihre Politik der massiven Privatisierungen und die Herstellung einer Arbeitslosenrate von 10%, die Weltbank und ihre Politik der Liberalisierung der Weltmärkte, Spekulation, der Börsen-Hype, feindliche Übernahmen – haben die nie existiert? Sind da nicht vielleicht doch mächtige Akteure daran interessiert? Oder sind es einfach diese mächtigen Akteure und die von ihnen betriebenen Veränderungen, die diese neuen chicen Dienstleister hervorbringen und gut bezahlen: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing...“ Nur: inzwischen ist die schöne neue Welt nicht mehr ganz so schön.

Neuerdings spricht Willke von „den Dummen“. Da heißt es: „Aus der Sicht der Dummen ist die Wissensgesellschaft kein reines Vergnügen.“ Zu den, so Willke weiter, „regulären Dummen, Personen mit geringer Intelligenz, mit wenig formaler Ausbildung und Bildung und ohne besondere Erfahrungen und relevante Praxis“ kommen „die neuen Dummen“ dazu: ein kognitives Proletariat, das in den Universitäten Erfahrungen pflegt, die gesellschaftlich als irrelevant angesehen werden. Was aber ist relevant? Willkes „neue Helden“ der Wissensgesellschaft sind da aufschlussreich:

„Einige der neuen Helden der Wissensgesellschaft sind, jedenfalls für die ‚alte’ Oberschicht, ziemlich seltsame Figuren und in jedem Falle Emporkömmlinge, Hacker, Modeschöpfer, Popmusiker, Schönheitschirurgen, Schauspielerinnen, TV-Moderatoren, Models, Talkshow-Wissenschaftler wie Sloterdijk oder Höhler, Fußballer, Trainer oder Tennisspieler fallen die Treppen der Wissensgesellschaft hinauf, weil sie über relevante Erfahrungen in Feldern von großem allgemeinem Interesse verfügen, während zur gleichen Zeit die meisten Schriftsteller, Gelehrten oder sogar Nobelpreisträger völlig unbekannt und einflusslos bleiben.“ (Helmut Willke, Dystopia, 2002: 210)

Wissensgesellschaft ist damit zur Kenntlichkeit entstellt. Es ist die Verallgemeinerung von Kulturindustrie. Um Wissen geht es dabei nur, soweit es sich um Wissen handelt, wie aus jedem Einfall und sei er noch so albern, Geld zu machen ist. Wissensgesellschaft, das ist die Konkurrenz der Gebildeten um Prominenz und um Einschaltquoten: relevant ist nur, was von „großem allgemeinem Interesse“ ist. Relevant ist nur, wenn viele Leute dazu gebracht werden können, Geld dafür auszugeben. Wissensgesellschaft ist der Ausdruck dafür, dass es gelungen ist, die gebildete Klasse zu vereinnahmen. Sie spielt das herrschende Spiel, beansprucht nicht mehr, für Aufklärung und Kritik zuständig zu sein, sondern kämpft um Popularität. Und sie leidet. Woran? An der scharfen Konkurrenz darum, aus dem eigenen Wissen einen Bestseller zu machen.

Die meisten Gesellschaftsdiagnostiker können da nämlich leider nicht mithalten.

© links-netz März 2004