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„Wir“ und „die“: polarisierende Diskussionen über Flüchtlinge

Christine Resch

Es gibt viele und gute Gründe, bestimmten Büchern durch Rezensionen keine (zusätzliche) öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das Büchlein von Markus Metz und Georg Seeßlen (2016) Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge (Berlin: Bertz + Fischer) gehört dazu. Anhand dieses Buches lässt sich aber veranschaulichen, was politische Diskussionen (nicht nur) über Flüchtlinge gegenwärtig prägt: Polarisierungen in „us“ and „them“. Die Thesen und Überlegungen, die Metz und Seeßlen präsentieren, sollen hier exemplarisch für eine Kritik dieses Symptoms stehen.

Streitschriften zu aktuellen politischen Themen haben seit einigen Jahren wieder Konjunktur. Metz und Seeßlen haben zum Thema Flüchtlinge ein solches, wie sie selbst sagen, im Zorn geschriebenes und teilweise aus in Zeitschriften schon veröffentlichen Texten zusammengestelltes Buch vorgelegt. Sie wollen Menschen zum Aufwachen bringen, das aber keineswegs als „schlechte Replik“ auf die Weckruf-Rhetorik der Rechten verstanden wissen, wie es in der Vorbemerkung heißt. Genau um einen solchen Weckruf handelt es sich allerdings. Verneinungen bedeuten bekanntlich häufig ihr Gegenteil.

An der „Flüchtlingskrise“ wollen Metz und Seeßlen den Zerfall von Demokratie und Europa veranschaulichen. „Postdemokratisches Regieren basiert in großem Umfang darauf, den Ausnahmezustand in Permanenz zu halten.“ (21) Wie der Satz impliziert, gehen sie davon aus, dass die Probleme als so groß behauptet werden, dass sie mit demokratischen Mitteln nicht gelöst werden könnten und daher das nationale Interesse der Demokratie übergeordnet werde. Welche Politik genau wird aber forciert, wenn der Ausnahmezustand zur Regel gemacht wird? Metz und Seeßlen haben eine schnelle Antwort parat: „Die Regierung (der ‚älteste‘ unter den Souveränen) ist in ihrem Pakt mit dem Medien- und Wahlvolk (der nachgeborene Souverän) so gefangen in der Tyrannei der selbst erzeugten Mehrheit, dass ‚souveränes‘ Handeln gar nicht mehr möglich ist. Denn der dritte und wahre Souverän, die Marktmacht, das Kapital, verlangt genau das, was die beiden anderen zumindest scheinhaft überwinden wollen: Unruhe, Ungleichheit, Gewalt.“ (23f) Über die Gleichsetzung von Marktmarkt und Kapital mag man noch generös hinwegsehen. Dass das Kapital ein Interesse an Unruhe und Gewalt hat, gehört nicht gerade zu den fundierten historischen Erkenntnissen. Die Infrastruktur, die der Staat (von Lassalle bekanntlich polemisch als „Nachtwächterstaat“ bezeichnet) dem Kapital schon in Zeiten des Liberalismus zur Verfügung gestellt hat, war Befriedung nach innen und Imperialismus nach außen. „Das (Medien- und Wahl-)Volk“ als nachgeborenen Souverän zu bezeichnen, ist demokratietheoretisch zwar eine eigenwillige Annahme, mag faktisch aber gute Gründe haben – es lassen sich wahrlich Argumente führen, dass und wie die politische Klasse Wählerinnen und Wähler populistisch instrumentalisiert. Bei Metz und Seeßlen gibt es statt Populismus der Herrschenden ein Opferverlangen des Volks, genauer im „wachsenden braunen Sumpf“ der europäischen Gesellschaften. (29) In Rekurs auf Giorgio Agamben heißt es weiter: „Natürlich ‚gibt‘ es das Lager nicht; das Abschieblager unterscheidet sich definitiv von einem humanitären Flüchtlingslager des Roten Kreuzes, soweit der Einwand von Daniel Kretschmar in der taz. Und selbst ein Abschiebelager ist kein Konzentrationslager. Doch die Gier des Souveräns nach der Materialisierung seiner Macht trifft auch das humanitäre Flüchtlingslager; es ist zumindest auf das Wohlwollen dieses Souveräns angewiesen, und es kann sich kaum einer schleichenden oder manifesten Übernahme entziehen. Unfreiwillig, gewiss, wird das humanitäre Lager zum Abschiebelager und dieses zum Todeslager, weil es zwar Hilfe, aber keinen Schutz gewähren kann.“ (29f) Seeßlen ist bekannt dafür, schnell eine Analogie zu den Nazis herzustellen und so die Verhältnisse zu skandalisieren.1 Damit ersparen sich die Autoren die Mühe, genauer zu verstehen, wie die Rechte gegenwärtig beschaffen ist und wie die Faschisierung mit der zeitgenössischen Form von Kapitalismus zusammenhängt. Ich will das Zitat aber weiter nicht inhaltlich kommentieren, sondern die Aufmerksamkeit auf die Form, den Duktus lenken: Das vermeintlich aufklärerische Anliegen wird so vorgetragen, dass die Leser/innen es nur abnicken können. Es ist eine Aussage, der man nur zustimmen kann. Wer sie ablehnt tut das um den Preis dem Lager der Neo-Nazis zugerechnet zu werden. Ein Argument, das diskutiert werden könnte, ist es jedenfalls nicht.

Solche „Argumentationen“ verführen wahrlich nicht dazu, die Kernthesen zu referieren, vielmehr dazu, den Gestus des Buchs zu interpretieren. Das soll im Folgenden anhand einzelner Aussagen geschehen.

Im Kapitel Neues Deutschland, ganz das Alte? wird prognostiziert, dass sich soziale Ungleichheit verschärfen wird. Da geht es um den Westen und Osten, um Aufstiegsmöglichkeiten und der durch Sozialpolitik erzeugten Abstiegsangst, besonders betont wird ein Stadt/Provinz-Gefälle. Da gibt es die „gute Zivilgesellschaft“ – die Intelligenz und der liberale Mittelstand – die „in urbanen ‚Bubbles‘„ leben werden, „inmitten eines finsteren Landes“, das von der dumpfen, völkischen Mehrheit bewohnt wird. (106) Ein weiterer Fokus liegt auf der Veränderung von Sprache (die lange verbotenen Worte, die in Hetzreden endlich wieder verwendet werden dürften – 119), der Medienberichterstattung und den Kommentaren von Politiker/inne/n zu Flüchtlingen sowie dem Umgang mit rechten Bewegungen á la Pegida. Statt gesellschaftlichen gäbe es nur noch nationale Aufgaben. Aber „bemerkenswerterweise scheint niemand etwa den Kampf gegen den Neofaschismus oder die Gewährung einer wirklich freien Presse als ‚nationale Aufgabe‘ anzusehen“. (139) Es sind solche in polemisch-anklagendem Gestus vorgetragenen Einfälle, die besonders irritieren und verärgern. Sie verärgern, weil die Pointe über Inhalte triumphiert. Neofaschismus mit Nationalismus zu bekämpfen, hieße den Bock zum Gärtner machen.

Im Kapitel über Bayern wird auf der ökonomischen Dimension herausgearbeitet, was man „Wohlstands-Chauvinismus“ nennen könnte. Aber weil der (Neo-)Nazi immer schon da ist, fallen den Autoren keine Differenzen auf. Im V. Kapitel – Europa im Krieg wird betont, dass nicht der Islam Terroristen hervorbringt, sondern der arabische Kapitalismus die Religion instrumentalisiert. Und es wird gezeigt, was inzwischen längst bekannt ist, dass der Dschihadist ein europäisches Produkt ist. Als Generalthese fungiert, dass die nationalistischen, rassistischen Faschisten und radikalen Islamisten gleichen Ursprungs sind: Die westliche Zivilgesellschaft hält nicht, was sie verspricht: Man hätte selbst werden können, wogegen sich die Angriffe wenden: „lebenslustige, bürgerliche, liberale, konsum-affine, hedonistische, freizügige, entspannt erfolgreiche junge Menschen“ – „wenn die Zivilgesellschaft eben Platz für einen gehabt hätte und etwas von ihrem Reichtum und ihren Möglichkeiten abgegeben hätte“. (228f) Das war und ist nicht der Fall, die Zivilgesellschaft wird stattdessen in eine Gesellschaft im Krieg umgewandelt. (235)

Im Epilog, so würde man jedenfalls beim Buchtitel vermuten, sollte die Büchse der Pandora geöffnet werden – war da nicht von Hoffnung die Rede? Aber nein, es ist nur „der Appell, dass keine Zeit mehr zu verlieren ist“ (252). „Es fehlt der einigende Impuls der linken, ökologischen, demokratischen und aufklärerischen Initiativen.“ (253) Und dass es fünf vor zwölf sei, gehört dann halt doch ins Genre „Weckruf“ – oder aber in den Western, womit sich Seeßlen als Filmtheoretiker bestens auskennt.

Im ersten Kapitel wird Diskurs im Unterschied zu Dispositiv in einem langen theoretischen Exkurs als eine Form bestimmt, die Gemeinschaft (statt Debatten) erzeugt. „Das Dispositiv erzeugt eine Zustimmung, die ihrerseits auf Zustimmung hoffen darf.“ (65) Die Autoren, so kann man zusammenfassen, sind bemüht, ein Gegen-Dispositiv (keinen Gegen-Diskurs) zu etablieren. Man könnte sich hier über begriffliche Schlampereien auslassen. Dispositiv wird begriffsgeschichtlich entwickelt, viele andere Begriffe werden gesetzt und in einer bestimmten Verwendung behauptet und reproduziert. Derartige Begriffsanalysen kann man aber auch bleiben lassen. Das Buch ist in einer Reihe erschienen, die Politik aktuell heißt, daher gibt es kaum Grund, es wie in einem akademischen Oberseminar (das es nicht erst seit Bologna nicht mehr gibt) zu diskutieren. Der für das gesamte Buch zentrale Begriff „Zivilgesellschaft“ hätte allerdings eine sorgfältige begriffsgeschichtliche Einordnung verdient.2 Die Autoren verwenden ihn in der Bedeutung, die er nach 1989 in Deutschland erlangt hat: als Synonym für die friedvollen, guten Deutschen. Bei Gramsci ist Zivilgesellschaft Teil des Herrschaftsapparats. Auch Pegida und Konsorten gehören dementsprechend zur Zivilgesellschaft. Ein derart geschärfter Begriff wäre womöglich hilfreich gewesen, den durchklingenden Bildungs-Elitismus zu vermeiden. Für ein linkes politisches Projekt, das den Flüchtlingen und dem Fortschritt verpflichtet ist, scheint mir noch zentraler, dass es nicht damit getan ist, den alten immer wiederkehrenden Faschismus anzuprangern. Vielmehr wäre nach den ökonomischen, politischen und institutionellen Grundlagen für die gegenwärtige Faschisierung (der Zivilgesellschaft) zu suchen statt „die Bösen, die Dummen und die Gemeinen“, wie es als Überschrift im Epilog heißt, auszumachen. Das Buch ist in einem Gestus verfasst, der es verlangt, den Autoren beizupflichten (oder ins „rechte“ Lager eingeordnet zu werden). Es legt nahe, wenn auch umgekehrt konnotiert, in „wir“ und „die“ zu denken. „Wir“ sind die städtische Intelligenz und Zivilgesellschaft, „die anderen“ gehören zum braunen, provinziellen Sumpf. Ist das noch Dialektik der Pop-Aufklärung oder doch schon Gegenaufklärung?

Markus Metz und Georg Seeßlen (2016) Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge. Berlin: Bertz + Fischer

Anmerkungen

  1. Seine beiden Bücher Tanz den Adolf Hitler (1994) und Natural Born Nazis (1996), jeweils mit dem Untertitel „Faschismus in der populären Kultur“ sind ein Beispiel dafür. So leicht wie es sich Seeßlen in diesen Arbeiten mit einer vermeintlich faschistischen Ästhetik macht, ist es halt im richtigen Leben nicht. Zurück zur Textstelle
  2. Rudolf Walther hat an anderer Stelle die begriffliche und argumentative Schlamperei der beiden Autoren angemessen scharf kritisiert.Zur�ck zur Textstelle
© links-netz Mai 2016