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Ein Grund, den Roman Angstblüte von Martin Walser zu lesen, und mehrere, das nicht zu tun

Christine Resch

Bücher über Berater verkaufen sich gegenwärtig nicht so richtig schlecht. Die unbeabsichtigte Prominenz, die dieser Zunft von der Gerster-Affäre1 beschert wurde, wirkt noch nach. Thomas Leif hat kürzlich eine journalistische Arbeit zu diesem Thema vorgelegt. Sein Schwarzbuch Beraten und Verkauft (2006) hat es auf Anhieb auf die Spiegel-Bestseller-Liste geschafft und hält sich dort seit Wochen. Über die Tricks der Berater informiert auch der Insiderbericht von Neil Glass Rip-Off! The Scandalous Story of the Mangement Consulting Money Machine (2005), dt.: Die große Abzocke. Die skandalösen Praktiken der Unternehmensberater (2006). Rolf Hochhuth hat in seinem hochmoralischen (also unpolitischen) und dazu stilistisch schlechten Drama McKinsey kommt (2003) zwar nichts zu sagen, was nicht ohnehin alle schon wussten, aber seinerzeit trotzdem einiges an Aufmerksamkeit erreicht. In der hervorragend recherchierten Milieubeschreibung Wir schlafen nicht (2004) hat Kathrin Röggla die Vorteile und Kosten von Arbeitskraft-Unternehmertum bei den „Hochleistungsträgern“ in einem sprachlich brillant durchgearbeiteten Doku-Drama reflektiert. Jetzt beschäftigt der Roman Angstblüte (2006) von Martin Walser die Kritiker, in dem, passend zu dieser Verkaufsmasche, ein Anlageberater die Hauptfigur ist. Auch wenn man davon genervt sein mag, dass gut etablierte Autoren, die es sich leisten können, den Stoff relativ autonom zu bestimmen, auf kulturindustrielle Moden aufspringen, so ist das doch nicht der entscheidende Grund, den Roman nicht zu lesen.

Aber zunächst zur Handlung: Der Roman ist eine (komische) Oper in drei Akten, was heißt, dass eine Handlung kaum vorhanden und ziemlich irrelevant ist. Der erste Akt handelt von einem vermeintlichen Betrug: Lambert Trautmann, von seiner dritten Frau Gundi zu Diego umbenannt, liegt im Krankenhaus und bringt auf diese Weise den Finanzberater Karl von Kahn dazu, eine gemeinsame Firma übereilt zu verkaufen. Am Abend desselben Tages geht es Lambert wieder besser. Karl von Kahn vermutet, dass die Krankheit inszeniert wurde, um ihn über den Tisch zu ziehen. Im zweiten Akt wird er dazu veranlasst, sich an der Finanzierung eines Films zu beteiligen. Er verliebt sich in die viel jüngere Hauptdarstellerin Joni Jetter. Als er das Drehbuch zum Film liest, dessen ästhetische Idee darin besteht, „am Leben entlang“ zu arbeiten, erkennt er darin die Geschichte wieder, wie er dazu gebracht wurde, Geld dafür zur Verfügung zu stellen und wähnt sich betrogen und gedemütigt. Im dritten Akt sagt Lambert zu, Karl von Kahn seinen gesamten Anteil aus dem Erlös (und nicht nur die vertragliche vereinbarte Summe) auszuzahlen. Dazu verspricht der Film ein Erfolg zu werden und damit eine lohnende Investition gewesen zu sein. Auch die Firma Kahn und Partner hat alles schadlos überstanden. Auf der inhaltlichen Ebene löst sich nach einigen Verwicklungen alles zum Guten auf – wie in einer komischen Oper eben.

Interessanter als die Geschichte ist die Erzählperspektive. Gegen Ende des Buches schreibt Karl von Kahn seiner Frau Helen einen Brief, der es ihr erleichtern soll, zu ihm zurückzukehren. Das Kapitel wird eingeleitet mit: „Er konnte dann nicht immer ich sagen. Wenn er von sich in der dritten Person schrieb, schien es leichter, genau zu sein.“ (453) Das ist deshalb aufschlussreich, weil Walser den gesamten Roman in der dritten Person, häufig im Konjunktiv, in indirekter Rede und im Imperfekt formuliert. Die Allwissenheit des Erzählers beschränkt sich auf diese eine Figur. Nur das Innenleben Karl von Kahns wird preisgegeben. Walser lässt den zitierten Satz Karl von Kahn sagen: Dass die Hauptfigur im Roman sich damit die Erzählperspektive des Autors aneignet, markiert den Roman zugleich als autobiografische Phantasie.

Das Buch ist in mancher Hinsicht bemerkenswert und aus vielerlei Gründen ärgerlich.

Bemerkenswert ist, dass und wie sich Walser über den „sinnlosen Kulturzwang“ lustig macht – einen Kulturzwang, den es längst nicht mehr gibt. Mag sein, dass Walser und seine Generation sich dieser „Kulturkeule“ – die Analogie zur „Auschwitz-Moral-Keule“ sei erlaubt – noch ausgesetzt sahen. Mag sein, dass seinen relativ jungen, aber doch mit dem Autor gealterten Lesern die im Roman kolportierte und denunzierte Vorstellung von Hochkultur als Bildungsgut noch vertraut ist. Ob sie sich freilich noch damit identifizieren, sei dahingestellt. Für sie und alle noch Jüngeren läuft diese Kritik also weit offene Türen ein und bekommt Züge einer Apologie von Halbbildung, wenn nicht kulturellem Analphabetentum. Zugleich protzt Walser mit seiner eigenen Bildung, wie einige von unzähligen Beispielen veranschaulichen:

„Die Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, in einer Streichquartett-Version von Hindemith. Hindemith gab seiner Version den Titel: Die Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens vom sieben vom Blatt spielt.“ (51)
„Aber als Diego eine halbe Stunde später Leonie von Beulwitzen ermuntern wollte, zuzugreifen und dazu sagte, er sage es ihr mit Karl Kraus, der in den Letzten Tagen der Menschheit zu Ganghofer sage: Jetzt essen Sie doch Ganghofer!, da konnte und mußte Babenberg verbessern, das sage nicht Karl Kraus, sondern Karl Kraus lasse das Wilhelm II. sagen!“ (138)
„In diesem Stadium, sagte Joni, teilt Theodor Strabanzer immer mit, Rossini habe den Barbier von Sevilla in vierzehn Tagen geschrieben.“ (213)
„Jetzt, sagte Joni, mußt Du sagen: Hast du zur Nacht gebetet, Desdemona. Und erklärte ihm, so habe Shakespeares Othello seine Desdemona gefragt, bevor er sie erwürgte.“ (275)
„Ohne Verabredung kamen sie gemeinsam weiter, zweistimmig, ein Text, schließlich streckte sie ihre Arme aus nach links und nach rechts, als werde sie gefoltert, nein, gekreuzigt, weit draußen die Hände verborgen wie die auf dem Grünewald-Bild.“ (338)
„Na ja, sagte Karl von Kahn jetzt sanft triumphierend, nämlich über die Kulturfraktion, Warren Buffett ist unter den Wirtschaftsmenschen des 20. Jahrhunderts das, was Picasso unter den Malern ist.“ (398)
„Jeder hat natürlich einmal Candide gelesen. Diesen sinnlosen Kulturzwang gibt es eben.“ (400f)

Wie auch immer: Diese Auseinandersetzung mit Kulturindustrie in Angstblüte könnte in Bezug auf Walsers Oeuvre und im Vergleich mit anderen Autoren durchaus interessante Facetten bieten.

Auf den 477 Seiten, in Lebenszeit ausgedrückt ist das ein Wochenende inklusive der dazugehörigen Abende, wird man aber mit einigem mehr konfrontiert. Somit zu den Ärgernissen:

Ärgerlicher ist, dass sich die ohnehin spärliche Handlung in Sprachkünsteleien und pseudo-philosophischen Diskursen verliert. Ein Beispiel kann das illustrieren:

„Die Sehnsucht der Deutschen nach durch keine Vernunft begrenzten Figuren. Selbst wenn das eine Sehnsucht aller Menschen sein sollte, so haben andere Länder doch verläßliche Hemmungen kultiviert, die uns fehlen. Hitler war der erste Mediendiktator, wie Wilhelm der ersten Medienkaiser war. Verglichen mit Hitler darf man Wilhelm schuldunfähig nennen. Nach dem antiken Rom hat es, außer der deutschen, keine westliche Gesellschaft mehr zugelassen, daß sich einer zum Abgott machen lassen konnte und sich dann auch entsprechend benahm. Derjenige muß nur die jeweils neueste Technik der Selbstvervielfältigung so rechtzeitig, so früh benutzen, daß seine Person das technische Wunder selbst wird. Eine bis dahin unerhörte Allgegenwart. Dann funktioniert das. In Deutschland. Warum? Die Person im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.“ (184f)

Die junge Liebhaberin des „Helden“ nennt vergleichbare Überlegungen „philosophistisch“ und beschreibt damit treffend die Gedanken-Kunststücke, die einen Großteil des Romans ausmachen.

Noch ärgerlicher ist, dass zum wiederholten Male ein alternder Romanheld, der sich wie ein pubertierender Jüngling benimmt und seine pornografische Phantasien ausbreitet, ausführlich beschrieben wird. Einen Tag, nachdem Karl von Kahn Joni kennengelernt hat, ruft sie ihn im Büro an und begrüßt ihn mit den Worten: „Ich möchte Deine Eier lecken.“ Weitere Zitate sollen an dieser Stelle unterbleiben. Wer sich mehr an Eindrücken wünscht, sei auf die Glosse „Altweiberblüte“ von Iris Radisch (Die Zeit, 27.7.06) verwiesen: Sie reproduziert diese Passage mit umgedrehten Geschlechtern – „Ich möchte Deine Titten lecken“ – und führt es damit als das vor, was es ist: krude Pornografie. Dass sie abschließend ganz „unschuldig“, also mit sarkastischer Ironie fragt, warum dieser bedeutende Roman dieser wichtigen Autorin bisher keinen Verlag gefunden habe, ist eine scharfe Kritik am Roman und an Kulturindustrie. Jeder Roman von Walser findet einen Verlag. Radisch genügt diese eine Passage, um Walsers sexuelle Phantasien lächerlich zu machen. An Material hätte es ihr wahrlich nicht gefehlt. Am Ende des Buches entwirft Walser viele solcher Geschichten von Zufallsbegegnungen mit relativ jungen Frauen, die ihn auf vergleichbare Weise einladen und auffordern. Selbstverständlich reflektiert Walser das als Phantasien von älteren Herrn (und spielt auf Geschichten seiner Kollegen an), aber kennen wir sie inzwischen nicht gut genug als das sie hier nocheinmal ausführlich reproduziert werden müssten? Um ein Missverständnis zu vermeiden: Das ist keine Frage der Moral, sondern der Langeweile.2

Am ärgerlichsten aber ist, dass der Finanz- und Anlageberater als Verkaufsmasche eingesetzt wird. Walser kennt offensichtlich das Milieu der Berater höchstens vom Hörensagen (und aus der Lektüre der Wirtschaftsseiten von Tageszeitungen), aber er hat sich das Vokabular der Finanzwelt angeeignet. Damit bringt er sich in die Position, dass er als „weiser Alter“ seinen ahnungslosen, wie unterstellt wird, Leserinnen geduldig erklärt, wie Spekulieren funktioniert. Ein Beispiel:

„Low-Five-Strategie, zum Beispiel. Am Jahresanfang werden aus den zehn Dow-Jones-Titeln, Sie wissen, das sind die, die jeden Abend mit dem Dax im Fernsehen gezeigt werden, das werden aus den zehn Aktien mit der höchsten Dividende die fünf Aktien mit dem niedrigsten Kurswert gewählt, und die sollen verkauft werden. In dreißig Jahren wurden so jährlich 17,7 Prozent verdient. Oder: Die Deutsche Börse gibt alle fünfzehn Sekunden den iNAV bekannt. Das ist der indicative Net Asset Value, also der Nettoinventarwert von börsennotierten Indexfonds.“ (408)

Die Leserinnen haben zwar auch vor mindestens zwanzig Jahren das Gymnasium besucht und verstehen deshalb die zahlreichen Anspielungen auf Hochkultur, aber für Wirtschaftliches interessieren sie sich nicht, weil das zu keinem Kanon gehörte. So schätzt das autobiografische Alter Ego Walsers seine Frau und der Autor seine Leserinnen ein. Dieser Nachhilfekurs in „Wirtschaftssprache“ ist dann auch schon so ziemlich alles, was wir über Berater erfahren. Wer sich also, wie es die PR-Maschine verspricht, dafür interessiert, wie die Wirklichkeit der schillernden Figuren der gegenwärtigen Produktionsweise in der Literatur dargestellt und bearbeitet wird, dem sei nachdrücklich geraten, Angstblüte nicht zu lesen. Er bekommt hier nur die überheblichen Phantasien eines Autors zu lesen, der es versteht, populäre Themen aufzugreifen.

Anmerkungen

  1. Im März 2002 wird Florian Gerster zum Vorstands-Chef der Bundesanstalt für Arbeit ernannt. Er ist ein Vertrauter des Kanzlers und die große Hoffnung der Regierung: Er soll die Bundesanstalt reformieren und die Arbeitsmarkt-Reformen effizient umsetzen. Im November 2003 wird bekannt, dass Gerster mit dem Unternehmen WMP einen PR-Beratervertrag über 1,3 Millionen Euro ohne öffentliche Ausschreibung abgeschlossen hat; im Dezember 2003 und Januar 2004 folgen weitere Meldungen über Berater-Verträge, die ohne Ausschreibung vergeben wurden, darunter zufällig auch Verträge in einer Höhe von 12,4 Millionen Euro mit Roland Berger Strategy Consulting, einem Unternehmen, das auch in der Hartz-Kommission vertreten war, die die Re-Strukturierung des Arbeitsamtes forcierte; am 24. Januar 2004 wird Gerster schließlich von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der dem Votum des Verwaltungsrates folgt, entlassen.Zurück zur Textstelle
  2. Damit soll auch nicht gesagt sein, dass die „sexuellen Nöte“ von Männern, die krank und alt werden, (literarisch) weniger interessant oder öfter bearbeitet sind als etwa die von pubertierenden Jünglingen oder die Schuldgefühle von bürgerlichen Ehefrauen, wenn sie ihren Gemahl betrügen. Für alle Beispiele gilt: „Es ist eine alte Geschichte, / Doch bleibt sie immer neu; Und wem sie just passieret, / Dem bricht das Herz entzwei.“ Aber „alte Geschichten“ kann man doch auf sehr unterschiedliche Weise bearbeiten. Philip Roth, um nur ein Beispiel zu nennen, findet in Everyman (2006) eine viel raffiniertere Form: Einiges ist da Erinnerung an „bessere Zeiten“, die, jedenfalls in der verspäteten Reflexion auch nicht eindeutig gut und ohne Ambivalenzen waren (eine Affäre und schließlich Ehe mit einem Model), anderes, wie die junge Joggerin, die der kranke, alte „Held“ anspricht, ist eine Darstellung von gegenseitigem Respekt und von ungeteilten sexuellen Phantasien. Zurück zur Textstelle
© links-netz August 2006