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Sozialpolitik als Infrastruktur Übersicht

 

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Fordistisches Wohnen: Ideologie und Materialität

Klaus Ronneberger

Genau genommen hat sich der Fordismus als vollständig ausgebildete Gesellschaftsformation in der Bundesrepublik erst in den späten 1950er Jahren durchgesetzt. Doch bereits in der Weimarer Republik kam es zu einer intensiven Diskussion über betriebliche Rationalisierung, Massenkultur und Sozialmanagement. Auch die Idee des Wohlfahrtsstaates, der stets mit dem Fordismus in Verbindung gebracht wird, lässt sich in Deutschland bis zur Bismarkschen „Socialpolitik“ zurückverfolgen. Die Vorstellung einer konfliktfreien und uniformen Solidargemeinschaft gehört zu den wichtigsten Elementen der fordistischen Vision. Für sie spielt der Stadt- und Wohnungsbau eine herausragende Rolle: Sozialwohnungen und Eigenheime sind im Fordismus sowohl zentrale Stätten der individuellen und generativen Reproduktion als auch wichtige Orte der Konsumtion. Zugleich materialisieren sich in den Urbanisierungsprogrammen staatliche Ideologien und Normalisierungsprozeduren, die in einer langen Tradition sozialhygienischen und bevölkerungspolitischen Denkens stehen. Angesichts der verschiedenen politischen Regime weist der soziale Wohnungsbau in Deutschland von der Weimarer Republik bis zu den fordistischen Modernisierungskonzepten der 1960er Jahre eine erstaunliche Kontinuität auf.

Erfindung des Sozial-Staats

Als Reaktion auf den anwachsenden Pauperismus und die erstarkende Arbeiterbewegung gewinnt die „soziale Frage“ im Regierungsdenken an Bedeutung: Das Phänomen der Armut erscheint nicht mehr nur als notwendige Begleiterscheinung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten oder als individuelle Schuld, sondern als ein Problem, das durch staatliche Interventionsmaßnahmen reguliert werden kann und muss. In verschiedenen Ländern Westeuropas kommt es zu einer Reihe von Gesetzesinitiativen, die bis heute die Grundlagen des Sozialrechts bilden.

Im selben Zeitraum setzen sich Formen einer betrieblichen Konfliktregelung durch, die den Streik als legitimes Verhandlungsinstrument anerkennen und ihm so den Charakter einer grundlegenden Gefährdung der staatlichen Ordnung nehmen. Das Arbeits- und Sozialrecht untergräbt die paternalistisch-despotische Form der unternehmerischen Macht und trägt zur Ausbildung neuer Formen der Arbeitsorganisation bei. Tayloristische Verfahrensweisen ermöglichen es, auch herkömmliche Kontrollmodelle zumindest teilweise zu ersetzen. Über die enge Einbindung der menschlichen Tätigkeiten in den maschinellen Fertigungsprozess verschiebt sich die Beaufsichtigung der Arbeitskräfte schrittweise von der „persönlichen“ Überwachung hin zur „sachlichen“ Disziplinierung. Die Maschine gibt das Tempo vor, nach dem sich die Arbeiter zu richten haben. Die „Versachlichung“ der Betriebsführung durch den Taylorismus nimmt damit der realen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital den politischen Charakter: Probleme in der Fabrik lassen sich nun als solche der Arbeitsorganisation verhandeln, die keine Beziehung zu sozialen oder politischen Konflikten aufweisen. Während sich betriebliche Auseinandersetzungen im Wesentlichen nur noch auf der Ebene von Lohnverhandlungen abspielen, wird die Produktion nach Effizienzstandards organisiert, die den Anschein von Objektivität erwecken (Donzelot 1994: S. 136-139)

Mit der Durchsetzung des Arbeitsrechts und des Versicherungssystems wird das „liberale“ Regierungsmodell durch ein „soziales“ abgelöst, das den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit befrieden, die Folgen der Armut kompensieren und die Auswirkungen der Unterdrückung einschränken soll. Statt der Vorstellung einer Gesellschaft konkurrierender Individuen herrscht nun die Idee der solidarischen „Gemeinschaft“, die allerdings auf völkisch-nationalen Kriterien basiert. Die Einheitlichkeit dieser Konstruktion wird durch Metaphern wie die des „Volkskörpers“ nachdrücklich erzeugt. Neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und sanitäre Erfolge etwa auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung führen zur Übertragung des technisch-wissenschaftlichen Fortschrittsmodells auf die Lösung des Armutsproblems. Aus dieser Perspektive erscheinen politische Fragestellungen und Konflikte vor allem als „sozialhygienische“ Probleme, die nicht im Widerspruch zu den Imperativen der kapitalistischen Vergesellschaftungslogik stehen. Zwar ist der Ausbau des Sozialstaats auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen zurückzuführen, strategisch gesehen geht es jedoch gerade darum, das „Politische“ dem „Sozialen“ unterzuordnen und politische Kämpfe stillzulegen (Lemke 1996: S. 193). Die Gesellschaft soll „besänftigt“ und nicht umgestaltet werden. Allerdings baut sich damit im Gegenzug ein Spannungsverhältnis zwischen sozialer und ökonomischer Rationalität auf. Die Notwendigkeit, beiden Erfordernissen in der staatlichen Politik Rechnung zu tragen, löst historisch immer wieder eine Pendelbewegung zwischen diesen rivalisierenden Polen aus. Der spätere Erfolg des keynesianischen Interventionsmodells lässt sich auch dadurch erklären, dass es dem Staat eine Rolle zuweist, über die das Ökonomische und das Soziale gleichberechtigt artikuliert werden können (Donzelot 1994: S. 142-156).

Die Idee der Solidarität ermöglicht es dem Staat, sich selbst positiv zu definieren und zugleich seine Neutralität gegenüber den verschiedenen sozialen Kräften zu betonen. Es entsteht eine Regierungsform, die in gewissem Umfang Arbeitslosigkeit oder Krankheit auszuschließen oder zumindest einzuschränken versucht. Die solidarische Doktrin ersetzt die moralisch aufgeladene Frage nach Gerechtigkeit durch das Prinzip der sozialen Entschädigung, das Chancengleicheit durch Risikoverminderung verspricht. Entsprechend ist das Versicherungssystem auf die gesamte Bevölkerung ausgerichtet, die nach verschiedenen Risikogruppen (Beruf, Alter, Geschlecht) quantifiziert und unterteilt wird. Das Modell der „Versicherungsgesellschaft“ markiert zugleich den Übergang zu einer präventiven Interventions- und Sozialpolitik.

Damit gewinnt die Vorstellung an Einfluss, man müsse die Gesellschaft auch vor den Risiken schützen, die von den Verhaltensweisen bestimmter Individuen ausgehen. Pauperismus oder Kriminalität gelten nun als Gefahrenherde für die öffentliche Sicherheit, die mit „gesellschaftssanitären“ Mitteln bekämpft werden sollen (Evers/Nowotny 1987: S. 152). Die Sozialleistungen erfolgen deshalb nach zwei Selektionsprinzipien: Während die „Randgruppen“ Hilfsleistungen erhalten, deren Zuteilungen nur unter strenger Bevormundung und mit entsprechenden Sanktionen stattfinden, können die Sozialversicherten ihre rechtmäßigen Schutzleitungen beanspruchen.

Die Verteidigung der Gesellschaft gegen „riskante“ und bedrohliche Individuen bildet das komplementäre Gegenstück zum Versicherungsmodell. „Das Konzept der Gefährlichkeit verweist auf die Konstitution der Gesellschaft als eines sozialen Körpers mit den ihm inhärenten Gefahren und Krankheiten. Die gesellschaftliche Bedeutung des medizinischen Komplexes resultiert aus der Objektivierung der Gesellschaft als einer biologischen Entität“ (Lemke 1996: S. 204). „Gesundheit“ entwickelt sich zum zentralen Dispositiv, das unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche miteinander in Beziehung setzt und als normalisierende Macht wirkt. Auf dem sozialmedizinischen Feld besteht ein weitgehender Konsens zwischen Staat und Arbeiterbewegung: Während es dieser um den Schutz der physischen Integrität und die Verbesserung von Lebensbedingungen geht, passen die „sozialhygienischen“ Konzepte auch zu der veränderten Auffassung öffentlicher Sicherheits- und Ordnungspolitik (Evers/Nowotny 1987: S. 151).

Angesichts der hier skizzierten Entwicklungen ist offensichtlich, dass gegen Ende des letzten Jahrhunderts eine neue „politische Positivität“ entsteht, die Francois Ewald (1993) mit dem Begriff „Vorsorgestaat“ zu umschreiben versucht. Er begreift die Ablösung des liberalen Modells nicht nur als tiefen Einschnitt in das Rechtssystem, sondern auch als Novum in der Konstitutionsweise des modernen Kapitalismus. Zunächst spielt dieser neue Machttypus eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung industrieller Strukturen. Dabei geht es vor allem um die Herstellung und Absicherung eines Raumes, der die ökonomisch-technologische Weiterentwicklung ermöglicht. Mit Hilfe des Sozialversicherungssystems und der damit verbundenen Risikoverteilung sollen die Industrie in die Gesellschaft integriert und auftretende Belastungen sozialisiert werden. Die Fürsorgepolitik, die zuvor bereits ihre religiöse Begründung eingebüßt hatte, beginnt nun einen Teil ihrer moralischen Dimension zu verlieren. Der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft wird nicht mehr mit der Anwesenheit oder Abwesenheit einer Moral in Verbindung gebracht, vielmehr setzt sich die Auffassung durch, dass diese selbst ein Produkt des Sozialen ist. Schließlich handelt es sich bei dem Vorsorgestaat um eine präventive „Biomacht“. Mit ihm etabliert sich eine spezifische Körperpolitik, für die statistische Daten über die Bevölkerung zu deren „ökonomischer Führung“ unerlässlich sind. Die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau und die Lebensdauer werden zum Gegenstand staatlicher Kontroll- und Regulierungsprogramme. Zwar hatte sich die Demographie schon im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts im Kontext kameralistischen Regierungsdenkens als Disziplin ausgebildet, doch nun gewinnt die staatliche Bevölkerungspolitik angesichts sozialmedizinischer und eugenischer Paradigmen eine neue Systematik und Rationalität. Über Institutionen wie die Sozialversicherung versuchen die Behörden die Individuen vor sich selbst zu schützen und eine ständige Verbesserung ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft zu erreichen. Weiterhin steht die Wirtschaft im Zentrum der staatlichen Bemühungen; sie wird jedoch nicht mehr als eine Ökonomie der materiellen Güter, sondern als „Ökonomie des Lebens“ (Michel Foucault) verstanden.

Fragen der Fortpflanzung und Aufzucht, der Körperpflege und Hauswirtschaft bestimmen nun die sozialstaatlichen Programme. Als Bestandteile administrativer Fürsorgepraxis werden Gesetze zum Schutz der Familie erlassen und Maßnahmen zur Sicherung von Gesundheit, Erziehung und der Moral der Bevölkerung ergriffen. Auf diese Weise machen gerade die subalternen Gruppen, die bislang kaum von ihr berührt waren, Erfahrungen mit einer rationalisierten Lebensführung. Nicht nur die Fabrik oder die Schule, sondern auch die staatliche Gesundheits- und Sozialpolitik tragen erheblich zur Normalisierung des proletarischen Alltags bei. Zwar werden die „harten“ Kontrolltechniken in Anstalten oder Gefängnissen weiterhin praktiziert, aber mit der gesellschaftlichen Verallgemeinerung der Sozialdisziplinierung tritt deren offen repressive Komponente in den Hintergrund.

Das Neue Bauen: Proto-fordische Praktiken

Eine Hauptursache für die Krise der liberal-kapitalistischen Bürgerstadt des 19. Jahrhunderts lag in den unvorhergesehenen Konsequenzen der Industrialisierung und der Landflucht. Die Städte wurden zu Orten eines ständig anwachsenden Proletariats, das in Elendsquartieren und Mietskasernen am Rande des Existenzminimums lebte. Die städtebauliche Praxis der „Bürgerlichen“ war geprägt von Stilfragen im Zusammenhang repräsentativer Gebäude oder von Bauvorhaben der städtischen Infrastruktur – also Gefängnis, Wasserwerk, Markthalle etc. Der Wohnungsbau für die subalternen Klassen wurde hingegen als architektonische Aufgabe weitgehend vernachlässigt.

Auf die wachsenden Missstände der Bürgerstadt antwortete die städtebauliche Moderne mit der Parole: „Licht, Luft und Sonne „. Dabei ging es insbesondere um die sozial-räumliche Regulation des Arbeitens und des Wohnens für große Menschenmassen. Der erste Schritt zur „Vorsorgestadt“ hatte bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Rahmen staatlichen Sozialgesetzgebungen stattgefunden, der von den zeitlich parallel verlaufenden Bemühungen der Städte, funktionierende Infrastrukturdienstleistungen aufzubauen, flankiert wurde.

Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkten sich innerhalb der kommunalen Verwaltungen die Bestrebung, den gesamten Bereich der lokalen Versorgung und des öffentlichen Verkehrs zentral zu lenken und darüber hinaus eine große Zahl neuer Einrichtungen mit gesundheitspolitischen, sozialen und kulturellen Zielen zu schaffen. Das Konzept der „Daseinsvorsorge“, in den 1930er Jahren von dem NS-Staatsrechtler Ernst Forsthoff als juristischer Ordnungsbegriff entwickelt (vgl. Meinel 2011), dehnte sich im Laufe der Zeit auf immer weitere Bereiche des städtischen Lebens aus. Die verschiedenen Hygienekampagnen der Medizin, der Sozial- und Ingenieurswissenschaften, der Architektur und Stadtplanung nahmen damit Elemente der späteren fordistischen Vergesellschaftung vorweg.

Die neuen urbanistischen Konzepte speisten sich aus den Visionen des Neuen Bauens. Es handelte sich um eine Architekturströmung, die sich gegen eine historisierende und dekorierende Bauweise wendete, wie sie damals in allen europäischen Städten anzutreffen war. Stattdessen wurden einfache, klare Formen, funktionale Grundrisse und den Einsatz modernster Technik im Bauvorgang propagiert. Das funktionalistische Konzept stellte den Versuch dar, im Einklang mit den Produktivkräften die industrielle Stadt tatsächlich zu verwirklichen. Für die progressiven Architekten und Stadtplaner stand es außer Frage, dass sich in vielen europäischen Städten die Lebensbedingungen für große Teile der Bevölkerung erheblich verschlechtert hatten. Die historischen Stadtkerne entsprachen nicht mehr den Anforderungen der industriellen Gesellschaft, die Überbevölkerung führte zu unmenschlichen Wohnbedingungen und die städtischen Infrastrukturen waren völlig überlastet. Die Durchsetzung erträglicher Lebensverhältnisse erforderte deshalb eine strikte räumliche Auslagerung des Wohnens aus der Kernstadt.

Die 1920er Jahre standen für die Durchsetzung des staatlich geförderten Massenwohnungsbaus, der vor allem von den städtischen Spezialisten aus dem Umfeld der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie favorisiert wurde. Bemerkenswert an der neuen städtebaulichen Praxis war, dass weniger die Privatwirtschaft, sondern vielmehr staatlich-kommunale Akteure den Rationalisierungsprozess im Wohnungsbau vorantrieben. Im Analogieschluss zur betrieblichen Rationalisierung fassten die Vertreter des Neuen Bauens die Stadtstruktur konzeptionell als Fabrik auf, die nach einzelnen Funktionen räumlich zerlegt und gemäß der Fließbandlogik sowie den Prinzipien der kurzen Wege wieder miteinander verknüpft wurde. Ähnlich wie das T-Modell von Henry Ford sollten die genormten Wohnungen in industrieller Bauweise rationell produziert und in einheitlich gestalteten Zeilensiedlungen errichtet werden: Standardisierung, Rationalisierung und Typisierung galten als die neuen Prinzipien der räumlichen Organisation. Auf diese Weise konnten die Baukosten minimiert und damit der Bedarf begrenzt zahlungsfähiger Durchschnittskonsumenten nach Wohnraum befriedigt werden. Auf billig erworbenen Grundstücken in den Peripherien entstanden bald Siedlungszellen, die wie Satelliten um die alten Stadtkerne kreisten.

Obwohl die Formen einer traditionellen Architektursprache weiterhin dominant waren, konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit stark auf den progressiven Modernismus, der eine gänzlich neue Wohn- und Alltagskultur propagierte. „Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen“, so Corbusier, ein „Sessel ist eine Maschine zum Sitzen, Waschbecken sind Maschinen zum Waschen.“ (Le Corbusier 1982 [1922]: S. 80). Die Metapher von der Maschine stand für Klarheit, Übersichtlichkeit und Symmetrie (vgl. Hilpert 1984). Auch wenn in der Zwischenkriegszeit nur ein geringer Teil des Neubauvolumens im sachlich-funktionalen Stil errichtet wurde, waren die langfristigen Effekte des Neuen Bauens erheblich. Letztlich hat sich die bauliche Morphologie der modernen Gesellschaft ganz im Sinne der funktionalistischen Architektur gewandelt. Ganz zu schweigen von Innovationen wie der Einbauküche. Unter dem Namen Frankfurter Küche ging dieses Optimierungsmodell in die Architekturgeschichte ein. Die als Teil eines fortschrittlichen Emanzipationsmodells propagierte taylorisierte Hausarbeit ebnete den Weg für die gesellschaftliche Akzeptanz einer konsumorientierten Haushaltsführung.

Mit der Entfaltung einer neuen Formensprache verbanden die modernen Urbanisten auch die Utopie einer sozialtechnischen Ordnung, in der die vormaligen Klassengegensätze mit Hilfe der Architektur überwunden werden sollten. Die Rationalitätsvorstellungen des Neuen Bauens beinhalteten den Anspruch einer paternalistischen Vormundschaft über die breiten Massen, die durch Architektur, Pädagogik und Sozialprävention normalisiert und normiert werden sollten. Eine serienmäßig hergestellte Siedlung, bemerkte etwa Le Corbusier, sei nicht nur eine Garantie für Schönheit, sie würde darüber hinaus auch „einen Eindruck von Ruhe, Ordnung und Sauberkeit auslösen und ihren Bewohner unweigerlich Disziplin beibringen.“ (Le Corbusier 1982 [1922]: S. 215). Im Sinne der neuen funktionalen Gemeinschaft waren die Verwaltungsgesellschaften der Siedlungen stets darauf bedacht, politische Auseinandersetzungen und Konflikte nicht zuzulassen oder zu leugnen. Stadtplaner wie Ernst May betrachteten die Bewohner in erster Linie als ein Volk von Arbeitsbienen, das es zufrieden und arbeitsfreudig zu erhalten galt. Die damit verbundenen harmonisierenden Gemeinschaftsideologien („Keimzellen der Nachbarschaftshilfe“) wiesen teilweise eine starke Affinität zu völkischen Ideen auf (von Saldern 1995: S. 32).

„Sozialer Wohnungsbau“ in der NS-Ära

Zwar diffamierten die Nationalsozialisten den modernen Siedlungen als „gebauten Sozialismus“, allerdings setzten sie später – nach einer anfänglichen Ausrichtung auf Einfamilienhaus und Kleinsiedlung – solche Projekte in modifizierter Weise fort.

Anfang der 1940er Jahre, als sich ein baldiges Ende des Krieges anzukündigen schien, kam die technokratische Fraktion der Nazi-Führung zu der Ansicht, dass ein umfassendes Wohnungsprogramm aus ideologischen und systemintegrativen Gründen dringend erforderlich sei. An die Stelle des bisherigen Siedlungskonzepts traten Überlegungen, wie man durch eine industrielle Fertigungsweise den Massenwohnungsbau vorantreiben könnte. Der „Erlass zur Vorbereitung des deutschen Wohnungsbaus nach dem Kriege“ vom 15. November 1940, der sich vor allem auf bevölkerungspolitische Thesen stützte, griff die Form des staatlich subventionierten Wohnungsbaus aus der Weimarer Republik auf und kodifizierte ihn begrifflich als „sozialen Wohnungsbau“ im sogenannten „Gemeinnützigkeitsgesetz“, das auch in der späteren Bundesrepublik seine Gültigkeit behielt. Allerdings beseitigten die Nationalsozialisten die sozialreformerische Ausrichtung der vormaligen Institutionen, die nun – nach einer rigorosen Zentralisierung – als gleichgeschaltete Instrumente der staatlichen Wohnungspolitik fungierten. So gingen etwa die gewerkschaftseigenen Wohnungsgenossenschaften in der Großorganisation Neue Heimat auf (vgl. Kujath 1988).

Das geplante Wohnungsbauprogramm, die Notwendigkeit der Wiederherstellung und des Neuaufbaus der zerstörten Städte, die expansiven Siedlungspläne für den „Osten“ und der erwartete Ausbau der Infrastrukturen im „Großraum“ Europa verhießen für die imaginierte Nachkriegsordnung einen riesigen Bauboom. Dies erforderte eine Leistungssteigerung in der Bauwirtschaft, die nur über einen verstärkten Rationalisierungsprozess erreicht werden konnte. In den dafür zuständigen Institutionen und Gremien entstand deshalb eine rege Diskussion über Rationalisierung, Typisierung, Normung und Serienfertigung. Unter ausdrücklicher Berufung auf die Methoden von Henry Ford setzte die DAF alles daran, „Wohnungen wie Autos“ zu bauen. Wissenschaftlich abgesichert sollten die konkreten Nutzerbedürfnisse zentralstaatlich ermittelt und in der Form eines normgerechten Wohnungsbaus umgesetzt werden. Bereits im „Führererlass“ von 1940 waren Geschosshöhe, Wandstärke, Dach- und Deckenkonstruktion einheitlich festgelegt worden. Das Programm wies nur wenige Typen auf, da die „Volkswohnungen“, ähnlich wie der „Volkswagen“ oder der „Volksempfänger“, lediglich eine einheitliche und bedarfsgerechte Versorgung der Massen garantieren sollten (Fehl 1995: S. 32).

Für Robert Ley, Reichswohnungskommisar und Führer der DAF, ging es bei der praktischen Umsetzung des „Führererlasses“ zugleich um eine Erweiterung seiner Einflusssphäre. Um seinen Kompetenzbereich gegenüber anderen Ministerien auszudehnen, legte Ley den Begriff des „sozialen Wohnungsbaus“ besonders extensiv aus. Der Kreis der Anspruchsberechtigten für das staatliche Wohnungsprogramm wurde erheblich ausgedehnt. Daran knüpfte später der soziale Wohnungsbau der Nachkriegszeit an, der sich an die „breiten Schichten des Volkes“ richtete. Allerdings konnte sich der Reichswohnungskommisar mit seiner Vision einer staatlich gesteuerten Wohnungspolitik nicht gegen die pragmatischen Fachleute der Bau- und Wohnungswirtschaft sowie der Hypothekenbanken durchsetzen, die im Kampf gegen das planwirtschaftliche Modell der DAF ein sozial-marktwirtschaftliches Konzept entwickelten (Harlander 1995: S. 294).

Alter Wein in neuen Schläuchen: Wohnungspolitik in der BRD

Entgegen der weit verbreiteten Legende, gab es nach 1945 keine Stunde Null. Gerade in der Wohn- und Siedlungspolitik reproduzierten sich die alten Strukturen, Mentalitäten und Leitbilder. Abgesehen von einer kurzzeitigen „Entnazifizierung“ der Bauverwaltung konnten fast alle leitenden Kader und Spezialisten der Wohnungswirtschaft und des Wohnungsbauwesens ihre Tätigkeit auch unter dem neuen politischen Regime fortsetzen und entscheidend den Wiederaufbau mitprägen (vgl. u.a. Durth/Gutschow 1993). Obwohl sich mit der Gründung der Bundesrepublik die Möglichkeit zu einer Neuformulierung der „Wohnungsfrage“ bot, standen in den gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften und Ministerien die Fachleute bereit, die über das Ende des NS-Regimes hinaus die langfristige Kontinuität im deutschen Wohnungswesen garantierten.

Allerdings waren die Ausrichtung und die Umsetzung des Wohnungsbauprogramms in den 1950er Jahren angesichts der materiellen Verhältnisse und der großen Wohnungsnot zunächst sehr widersprüchlich. Einerseits dominierten in der Diskussion der ersten Nachkriegsjahre Fragen der Typisierung und Normierung, die in der Tradition des „Sozialen Wohnungsbaus nach dem Kriege“ standen. Ähnlich den staatlichen Wohnungsbaukonzepten des NS-Regimes plante man den Bau schlichter Klein- und Kleinstwohnungen mit niedrigem Ausstattungsniveau. Die Experten waren überwiegend der Ansicht, dass die Wohnungsbesorgung nicht ausschließlich dem freien Markt überlassen werden sollte, sondern staatliche Interventionen erforderte (vgl. Schildt 1995). Der Mietwohnungsmarkt wurde deshalb durch einen starken Kündigungsschutz und Mietpreisbindungen reguliert. Andererseits erlebten subsistenzwirtschaftliche Überlegungen und Kleinsiedlungskonzepte eine Renaissance, die an die reaktionäre Tradition der 1920er und 1930er Jahre anknüpften (vgl. Haarlander 1995). Dies war nicht nur eine Reaktion auf die allgemeine Güterknappheit und die damit verbundene Selbst- und Nachbarschaftshilfe, sondern auch Ausdruck eines konservativen anti-städtischen Gesellschaftsprogramms, das sich gleichermaßen vom Faschismus und vom Kommunismus abzugrenzen versuchte. Die widersprüchliche Konfiguration von „Modernisierung“ und „Restauration“ war typisch für das erste Nachkriegsjahrzehnt.

Die Forderung nach dem „Einfamilienhaus“, die irgendeiner Weise fast alle Parteien unterstützten, propagierten insbesondere die Christdemokraten. Die Familie interpretierten die Konservativen gemäß der katholischen Soziallehre als kleinste, aber wichtigste „Ordnungszelle des Staates“, die im Modell des subsidären Staatsaufbaus eine entscheidende gesellschaftliche Aufgabe besaß. Insofern betrachtete die CDU eine öffentliche Subventionierung des Massenwohnungsbaus nur als Übergangslösung zur Behebung der ärgsten Wohnungsnot. Mittelfristig sollte der private Wohnungsmarkt die Versorgung sichern und als Kapitalanlage dienen (vgl. Hafner 1993).

In den wohnungspolitischen Vorstellungen der SPD stand nicht die Bildung von Eigentum im Vordergrund, sondern – ausgehend von der Kritik am profitorientierten, privaten Mietwohnungsbau und unter Berufung auf die Tradition des Neuen Bauens – die gemeinnützige Siedlung. Deren Hauptträger sollte die „Gemeinnützige Wohnungswirtschaft“ sein, die als Modell einer künftigen planwirtschaftlichen Orientierung diente. Zugleich hoffte man durch staatliche Planungen und Interventionen die sozialpolitischen Ziele beim Wohnungsbau umsetzen zu können (Schulz 1994: S. 320). Die von den Sozialdemokraten verfolgte Strategie, mit Hilfe gewerkschaftlich-gemeinnütziger Organisationen zentrale Bereiche der räumlichen Reproduktion zu kontrollieren, war als Demokratisierung des Bau- und Wohnungswesens gedacht. Man kann diese Vision auch als „illusionären Fordismus“ charakterisieren (vgl. Wolf 1987). Illusionär deswegen, weil gemeinnützige Organisationen in der Konkurrenz mit privaten Anbietern in der Regel die Unterlegenen bleiben mussten und die von Institutionen durchzusetzende fordistische Lebensweise nicht automatisch demokratische Partizipation bedeutete (Prigge 1988: S. 70f). Zudem hatten sich die gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften mit der faschistischen Gleichschaltung von 1933 in sozialtechnokratische Vollzugsorgane des Staates transformiert, was ein Anknüpfen an die progressiven und sozialreformerischen Ansätze der Weimarer Zeit weitgehend ausschloss.

Eigenheim und Massenwohnungsbau

1950 wurde das „erste Wohnungsbaugesetz“ im Bundestag und Bundesrat ohne Gegenstimmen verabschiedet. Es sollte zur Beseitigung der großen Wohnungsnot beitragen und das sozial abgefederte, marktwirtschaftliche Modell der Wohnungsversorgung rechtlich absichern. Im Unterschied zum historischen Konzept des „Arbeiterwohnungsbaus“ zielte das Programm auf die große Mehrheit der Bevölkerung. Wie zuvor mit der „Wohnung für das Existenzminimum“ beziehungsweise der „Volkswohnung“ versuchte man den durchschnittlichen Massenbedarf an Wohnraum sicherzustellen. Diese gesellschaftspolitisch motivierte Ausweitung der anspruchsberechtigten Nutzergruppen bedeutete eine Revision des Sozialstaatskompromisses der Weimarer Republik. Durch die Gleichstellung gemeinnütziger, privater und öffentlicher Träger und den Verzicht auf eine dauerhafte Sozialbindung des subventionierten Wohnraums entstand eine grundsätzlich neue Situation. Im Gegensatz zu den 1920er Jahren, als Subventionen nur an gemeinnützig orientierte Wohnungsunternehmen vergeben werden durften, war die „Sozialbindung“ nun nicht mehr an den Träger, sondern an das Objekt gekoppelt und zudem auf eine Laufzeit von dreißig Jahren befristet. Auf diese Weise bildeten öffentlicher Wohnungsbau und gemeinnützige Trägerschaft keine notwendige Einheit mehr, da die staatlichen Geldmittel auch von privaten Kapitalunternehmen in Anspruch genommen werden konnten. Die Gemeinnützigen verloren damit ihre vormals bestehende Monopolstellung und mussten fortan mit anderen Bauträgern um Subventionen und Aufträge konkurrieren. Zwar konnten die Wohnungsgesellschaften, die als handlungsfähige Organisation nach dem Kriege sofort zur Verfügung standen, an die Produktionsergebnisse der Weimarer Zeit anknüpfen, aber das neue Wohnungsbaugesetz unterhöhlte strukturell ihre bislang dominante Position im öffentlichen Wohnungsbau (Häußermann/Siebel 1996: S. 146-153).

Obwohl das Wohnungsbaugesetz die Sonderstellung der Gemeinnützigen abgeschafft hatte, konnten die Gesellschaften ihren Anteil am Baumarkt verteidigen. Ungeachtet der ablehnenden Haltung des bürgerlich-konservativen Lagers, errichteten sie zwischen 1950 und 1957 mehr als die Hälfte aller Sozialwohnungen; vor allem in den Großstädten wurden sie zu den privilegierten Ausführungsorganen der staatlichen Wohnungspolitik (Kujath 1988: S. 123). Allerdings passten sich die Gemeinnützigen den neuen Vorgaben der staatlichen Wohnungspolitik an. Das Ziel der quantitativen Versorgung durch eine rationelle und genormte Bauweise ersetzte zunehmend sozialreformerische Absichten – sofern sie überhaupt noch eine Rolle spielten. Diese Strategie führte zur Integration des gemeinwirtschaftlichen Sektors in den fordistischen Modernisierungsprozess. So entwickelte sich etwa die gewerkschaftseigene Neue Heimat nach einem gewaltigen Konzentrationsprozess in den 1960er Jahren zu einer der größten und mächtigsten Bau- und Wohnungsgesellschaften in der Bundesrepublik. Im korporativen Zusammenhang der sozialstaatlichen Regulierung wurde der gemeinwirtschaftliche Sektor des Wohnungsbaus zum entscheidenden Akteur der Durchsetzung fordistischer Raumstrukturen.

Die geforderten Zielvorgaben für das geplante Wohnungsbauprogramm erwiesen sich als ein enormes bautechnisches Problem. Da man offensichtlich mit solchen Umsetzungsschwierigkeiten gerechnet hatte, war in dem Wohnungsbaugesetz eine verstärkte Normierung und Rationalisierung des Wohnungsbaus verordnet worden, um auf diese Weise sowohl die Produktivität der Wohnungswirtschaft zu steigern als auch die Baukosten zu senken. Trotz einer zögerlichen Industrialisierung der Bauwirtschaft konnten die Zielvorgaben des Gesetzes weit übertroffen werden.

Im Jahre 1956 trat das „zweite Wohnungsbaugesetz“ in Kraft, mit dem das Ende der Wohnungszwangswirtschaft eingeleitet wurde. Der CDU ging es vor allem darum, den wachsenden Einfluss der sozialdemokratisch-gewerkschaftlich orientierten „Gemeinnützigen“ zu brechen und die bisherige Wohnungspolitik zu revidieren. Mit Unterstützung der katholischen Kirche starteten die Konservativen eine massive Kampagne für das „Familieneigenheim“, das bislang – trotz aller ideologischer Präferenzen – nicht die erwünschte Verbreitung gefunden hatte. Dies lag zum einen an den beschränkten finanziellen Ressourcen großer Bevölkerungsteile, zum anderen an der Förderpraxis vieler Bundesländer, die wegen der schnelleren Umsetzung vorrangig den städtischen Massenmietwohnungsbau subventionierten (vgl. Schulz 1988).

Das neue Gesetz begünstigte die Bildung von Einzeleigentum und den Bau von „Familienheimen“, wobei die Adenauer-Regierung einen damit verbundenen möglichen Rückgang des gesamten Wohnungsbauvolumens bewusst in Kauf nahm. Mit der endgültigen Abschaffung der Wohnungszwangsbewirtschaftung (Aufhebung der Grundrenteneinschränkung, Beseitigung der Mietpreisbindung) zu Beginn der 1960er Jahre deutete sich zugleich der Rückzug des Staates aus dem subventionierten Massenmietwohnungsbau an. Die weitgehend marktwirtschaftliche Regulation des Wohnungsmarktes brachte eine erhebliche Verschärfung der Mietsituation mit sich. Als Ausgleich und soziale Abfederung führte man deshalb für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen die sog. Individualförderung (Wohngeld) als neue Subventionsform ein. Die gleichzeitige Anhebung der Einkommenshöchstgrenzen für Wohnungsberechtigte und die Einführung eines zweiten Förderwegs („gehobener sozialer Wohnungsbau“) privilegierte jedoch den vermögenderen Mittelstand, der nun sowohl Sozialwohnungen beanspruchen konnte als auch das nötige Kapital für den staatlich geförderten Eigenheimbau aufzubringen vermochte (Hafner 1993: S. 256-257).

Damit zeichnete sich in der BRD eine Hierarchisierung unterschiedlicher Wohnklassen ab: der steuerbegünstigte Wohnungsbau förderte die höheren Einkommensgruppen, die sich Eigenheime mit größerem Wohnkomfort leisten konnten; der „Soziale Wohnungsbau“ stellte den „breiten Schichten des Volkes“ Wohnungen mit bescheidenen Abmessungen und schlichter Ausstattung günstig zur Verfügung; als dritte „Wohnklasse“ verblieb ein Teil der Bevölkerung zunächst im Altbaubestand (Schildt 1995: S. 92f).

Auf Dauer zeigte die Kampagne für den Eigenheimbau dann doch die erwünschte Wirkung. Besaßen 1950 lediglich 24 Prozent der Haushalte ein Eigenheim beziehungsweise eine Eigentumswohnung, steigerte sich der Anteil bis 1987 auf fast vierzig Prozent (Schulz 1994: S. 343). Während auch der besser verdienende Teil der Arbeiterschaft von dieser Politik profitierte, produzierte das staatliche Subventionsprogramm zugleich neue sozialräumliche Spaltungen. Eindeutig wurden Teile der Arbeiterschaft „in ihren Zugriffsmöglichkeiten auf die Leistungen des sozialen Wohnungsbaus benachteiligt“ (von Saldern 1995: S. 266). Die Favorisierung des Eigenheims sollte in den 1950er Jahren vor allem eine konservative Familienpolitik absichern. Und sie wurde fortgesetzt „von einer 'modern' agierenden Sozialdemokratie, die diese Priviligierung nur noch technokratisch [...] als effizienteste Form des staatlichen Mitteleinsatzes begründete“ (Häußermann/Siebel 1996: S. 150). Die Staatsintervention am Wohnungsmarkt war somit nicht in erster Linie als Unterstützung der Armen gedacht, sondern als ein Versuch, strukturelle Defizite in der Reproduktionssphäre zu beseitigen und darüber eine bestimmte Bevölkerungs- und Eigentumspolitik durchzusetzen. Allein die klassenübergreifende Wohnungsnot, die nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschte, hatte dem sozialen Wohnungsbau eine gesellschaftliche Dimension verliehen, an der letztlich auch die subalternen Klassen partizipieren konnten. Dass der Massenwohnungsbau durch ein gleichwertiges Programm der Eigentumsförderung ergänzt wurde, verweist auf die Kontinuität der staatlichen Förderpolitik, die in der Weimarer Republik begründet und durch die Tradition der deutschen Bausparkassen der NS-Zeit konsolidiert worden war (Niethammer 1988: S. 301).

Fordistische Urbanisierungspolitik

Der Funktionalismus – das Konzept räumlicher Trennung gesellschaftlicher Funktionen wie Arbeiten und Wohnen, Konsumtion und Freizeit – entwickelte sich in der BRD zur dominanten Konzeption, die für einige Jahrzehnte die Kohäsion zwischen Städtebau, Politik und Alltagshandeln begründete und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Praktiken miteinander koordiniert. Mobilität und Synchronizität waren dabei die zentralen Momente, nach denen der städtische Raum formiert wurde. Das funktionale Zonierungskonzept erforderte zugleich eine bestimmte Form von Kodifikation, die gewisse Nutzungsweisen zuließ und wiederum andere ausschloss. Daraus resultierte ein Urbanisierungsmodell der forcierten Suburbanisierung und Rationalisierung des Alltags.

Zentral ist somit die Frage, welche Bedeutung der Wohnungs- und Städtebau als ideologisch-repressive Macht in der fordistischen Verknüpfung von staatlicher Infrastrukturpolitik und dem massenhaften Absatz von Sozialwohnungen oder Eigenheimen zur Durchsetzung einer spezifischen sozialen Praxis hatte. Solche „strategischen ideologischen Waren“ (Wolf 1987: S. 220) dienten nicht nur der Befriedigung bestimmter Wohnbedürfnisse, sondern fungierten zugleich auch als ein Instrument der Normalisierung der Subjekte. Mit dem Modell des sozialen Wohnungsbaus – als eine der tragenden Säulen des fordistischen Normalisierungsprogramms – etablierte sich ein Regulationsmodus, in der sich widersprüchliche Interessen wie die Anforderungen an die Reproduktion der Arbeitskraft, ökonomische Strategien der Wohnbaugesellschaften und Banken sowie politisch-administrative Konzepte des nationalen und lokalen Staates „organisch“ aufeinander zubewegen konnten.

Ab den 1960er Jahren verstärkte sich das Problem der demographischen Stadtrandwanderung. Angesichts des Abflusses eines Teils der Einwohnerschaft und damit einhergehender Steuereinbußen sowie eines angespannten städtischen Wohnungsmarktes setzten die meist SPD-regierten Großstädte unter einen erheblichen Legitimations- und Handlungsdruck. Mit einer neuen Form des Massenwohnungsbaus reagierten die Kommunen auf die veränderte Urbanisierungs- und Bevölkerungsdynamik. An den Rändern der Städte wurde in wenigen Jahren eine Vielzahl von Trabentensiedlungen hochgezogen, die in der Regel einen relativ hohen Wohnstandard zu erschwinglichen Mietpreisen aufwiesen.

Während in der ersten Phase des Nachkriegswohnungsbaus die Größenordnung der Neubauviertel bei höchstens 1.000 Einheiten lag, begann man nun in den Ballungsräumen Großsiedlungen mit der zehnfachen Wohnungszahl zu errichten. Der Siedlungsbau wurde nicht mehr als Stadterweiterung, sondern als komplexer Städtebau betrieben. In Absetzung vom Modell der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“, wie er noch in den 1950er Jahren propagiert wurde, galt nun das Leitbild von der „dichten und verflochtenen Stadt“. Der Bau von Trabantenstädten war mit einem erheblich größeren Planungsaufwand verbunden, der sich nur über das Zusammenwirken von sehr unterschiedlichen Spezialisten und Institutionen realisieren ließ. Damit setzte auch eine Verwissenschaftlichung der Planungspraxis ein. Regelungsvorstellungen aus Systemtheorie und Kybernetik bestimmten zusehends die konzeptiven Ideologien der urbanistischen Disziplinen. „Das Großsiedlungskonzept versprach Rationalität, Effektivität und Funktionalität“ (Tessin 1988: S. 500). Die Frage des Funktionalismus war nun gänzlich dem Imperativ der Nützlichkeit unterstellt: „Aber alles Nützliche ist in der Gesellschaft entstellt, verhext. Dass sie die Dinge erscheinen lässt, als wären sie um der Menschen willen da, ist die Lüge; sie werden produziert um des Profits willen, befriedigen die Bedürfnisse nur beiher, rufen diese nach Profitinteressen hervor und stutzen sie ihnen gemäß zurecht.“ (Adorno 1996 [1966]: S. 392)

Die Größenordnung der Satellitenstädte machte den Wohnungsbau nun auch für Großunternehmen attraktiv, die immer stärker in diesen Sektor drängten. Die damals vorherrschenden Verdichtungskonzepte entsprachen den technischen Anforderungen und den ökonomischen Verwertungsinteressen der Industrie. Die Bau- und Wohnungswirtschaft, die sich von einer arbeitsintensiven zu einer kapitalintensiven Branche entwickelte, durchlief einen Rationalisierungs- und Konzentrationsprozess, den vor allem die gemeinnützigen Gesellschaften forcierten. Konstruktionsmethoden und Baustoffe, Mechanisierung, Großserie und Montagebau kamen jetzt zum Einsatz (vgl. Hafner 1993).

Bei der sozialen Zusammensetzung der Bewohnerschaft dominierten zunächst Gruppen aus dem „qualifizierten Arbeitnehmermilieu“ und aus der „neuen Mittelklasse“, die sich mit der Tertiarisierung der Ökonomie herausgebildet hatte. Die öffentliche Wohnungspolitik förderte besonders diese Schichten, da sie mit der einsetzenden Vollbeschäftigung für die Kommunen ein wichtiges Klientel darstellten (Herlyn 1987: S. 105).

Trotz einer deutlich höheren Standardausstattung der Wohnungen wiesen die randstädtischen Großsiedlungen von Anfang an bedeutende infrastrukturelle Mängel auf. Das Fehlen von Einzelhandelsgeschäften und Arztpraxen sowie eine unzureichende Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel beeinträchtigten die Lebensqualität der Siedlungsbewohner nachhaltig. Das Straßennetz und die Ausstattung mit Parkmöglichkeiten hingegen entsprachen den Anforderungen des automobilen Individualverkehrs. „Damit wurde für die Trabantenstadt genauso wie für die suburbane Eigenheimsiedlung das Auto neben der standardisierten, modernen Wohnung zum zweiten Pfeiler einer veränderten Konsumnorm. Erst wenn beides erreicht ist, Auto und moderne Wohnung, lassen sich die Vorzüge von beiden – Privatheit der Wohnsphäre, flexible Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes, der Versorgungs- und Freizeiteinrichtungen – richtig nutzen.“ (Schmoll 1990: S. 300)

Mit dieser infrastrukturellen Ausstattung waren die Satellitenstädte primär auf die Bedürfnisse berufstätiger Männer ausgerichtet. Für die Mehrheit ihrer Bewohner jedoch – Hausfrauen, Alte und Kinder – entwickelten sich die peripher gelegenen Siedlungen zu regelrechten „Raumfallen“. Doch zeichnete sich die Sozialstruktur der Mieterschaft – im Gegensatz zu den Neubausiedlungen der Weimarer Republik – durch eine starke soziale Dynamik aus. Da für viele Haushalte der Aufenthalt in den Trabanten lediglich eine transitorische Phase auf dem Weg ins Eigenheim darstellte, konnte der freiwerdende Wohnraum nun auch von Menschen aus den niederen Einkommensbereichen oder aus den sogenannten Problemgruppen in Anspruch genommen werden. Damit profitierten zwar zum ersten Mal in der Geschichte des sozialen Wohnungsbaus auch die subalternen Klassen von dem staatlichen Förderprogramm, zugleich aber entwickelten sich die Siedlungen zu stigmatisierten Abschiebe-Containern der kommunalen Sozialpolitik.

In den späten 1960er Jahren machen sich die Nachteile der fordistischen Raumkonzeption in aller Schärfe bemerkbar. Die Stadtflucht zahlungskräftiger Bevölkerungsgruppen in das suburbane Eigenheim, die Trostlosigkeit der Trabantensiedlungen und die Verödung der Zentren als bloße Tertiärstandorte erschien vielen Kulturkritikern als endgültige Auflösung der Stadt. Die Legitimationskrise des städtebaulichen Funktionalismus verdankte sich aber auch militanten Kämpfen. Überall formierten sich Bürgerinitiativen, Stadtteilgruppen und Hausbesetzer gegen die Normierung und Rationalisierung des städtischen Alltags. Als „Kindern des Fordismus“ gelang es den sozialen Bewegungen der 1970er Jahre für eine bestimmte Zeit, gesellschaftliche Zwänge aufzusprengen und die sozialen Verhältnisse zu verändern.

Literatur:

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