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Schwerpunktthema: Sozialpolitik als Infrastruktur

 

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Ein Menschenrecht auf Infrastruktur?

Zur Diskussion von „Sozialpolitik als Infrastruktur“

Albert Scherr und Heinz Steinert



Anmerkungen zu „Gibt es eine Alternative zum neoliberalen Sozialstaatsabbau?“

Albert Scherr

Nachfolgend einige Problemmarkierungen zum Text, die auf diskussionsbedürftige Fragen verweisen sollen.

1.

Wenn ich recht sehe, liegt die zentrale Funktion des Sozialstaates darin, Leistungen zur Verfügung zu stellen, deren Inanspruchnahme nicht von Erwerbseinkommen bzw. Geldzahlungen abhängig ist. Von Anfang an ist es eine eigentümliche Mischung aus Hilfe, Kontrolle und Repression, die Sozialstaatlichkeit als Bestandteil nationaler Gesellschaftspolitik kennzeichnet. Und es sind auch heterogene und widersprüchliche Motive und Interessen, mit denen sozialstaatliche Arrangements begründet und durchgesetzt bzw. in Frage gestellt werden. Sozialstaatlichkeit impliziert meines Erachtens gleichwohl ein realutopisches Element, nämlich die in der Sozialgesetzgebung rechtlich verankerte Vorstellung, dass bestimmte Leistungen, die für ein würdiges Leben unabdingbar sind, allen zugänglich sein sollen – und dies durchaus auch unabhängig von den Arbeitsleistungen, die sie erbringen. Zwar verzichtet die Sozialgesetzgebung von Anfang an nicht auf Repression gegenüber denjenigen, die als arbeitsunwillig oder als unverschämte Arme gelten. Ein vollständiger Ausschluss von elementaren Leistungen ist aber im bundesdeutschen Sozialstaatskonzept auch für diejenigen nicht vorgesehen, die sich nicht zur Arbeit zwingen und/oder motivieren lassen. Sozialstaatlichkeit umfasst also eine staatlich-rechtliche Garantie elementarer Leistungen für alle (genauer: primär für alle Staatsbürger) und ist insofern nicht auf die Funktion der Kontrolle und Disziplinierung der Lohnabhängigen reduzierbar. Deshalb würde ich ein realutopisches Plädoyer für eine veränderte Sozialstaatlichkeit zentral menschenrechtlich begründen, insofern die Menschenrechtserklärungen als Versuch der Kodifizierung der Bedingungen eines Lebens in Würde verstanden werden können, was soziale Rechte einschließt. Das hat den Vorteil, dass man die menschenrechtliche Ansprüche von Individuen als Grundlage einer sozialstaatlichen Programmatik beanspruchen kann und dazu nicht auf m.E. problematische Argumentationsfiguren (s.u. 3.) wie „gesellschaftliche Teilhabe“ und „Arbeiten, ... die zur gesellschaftlichen Reproduktion notwendig sind“ rekurrieren muss.

2.

Den Text habe ich zwei Tage nach der Rückkehr aus Montenegro gelesen, also wieder mal beeindruckt von einigen Erfahrungen mit einer Situation, in der so etwas wie eine sozialstaatliche Struktur nicht existiert. Das ist ersichtlich kein Argument, verweist aber auf ein Problem, das meines Erachtens ein Kernproblem des Textes und der Diskussion um die Perspektiven einer alternativen Sozialpolitik ist: Argumentiert wird, wenn ich recht sehe, unter der Voraussetzung von Nationalstaatlichkeit bzw. des nationalen Sozialstaates als Akteur und dies, ohne dass die Prozesse, die gewöhnlich unter dem problematischen Etikett „Globalisierung“ verhandelt werden (transnationales Finanzkapital, Flucht und Vertreibung, legale und illegalisierte Migration, Europäisierung der Arbeitsmärkte usw.), im Text diskutiert werden. Diese Prozesse betreffen aber die Forderungen des Papiers in zumindest drei Punkten ganz zentral:

a) Welche Höhe des Grundeinkommens wird als „vernünftig“ betrachtet und was ist der Maßstab solcher Vernunft? Die Höhe der bisherigen deutschen Sozialhilfe, ein deutlich darüber liegender Wert, irgendein EU-europäischer Durchschnitt? Das ist eine m.E. ganz entscheidende Frage, ganz abgesehen davon, dass es ja auch ein erkennbarer Vorteil der bisherigen Sozialhilfe ist, dass Sonderbedarfe dann geltend gemacht werden können, wenn der Regelsatz nicht ausreicht. Der Vorteil eines Grundeinkommens, dass auf Kontrollen und Kontrollbürokratien verzichtet werden kann, hat zudem als Kehrseite auch einen Nachteil: Den Verzicht auf individuell beanspruchbare „Hilfen in besonderen Lebenslagen“. Persönlich würde ich ein französisches Mindesteinkommen jedenfalls nicht gegen bundesdeutsche Sozialhilfe tauschen wollen, und ich sehe nicht, worin der realutopische Charakter einer Forderung liegt, die man zumindest als in diese Richtung weisend interpretieren kann, solange die Frage nach der vernünftigen Höhe nicht dezidiert beantwortet wird.

Zudem umfasst die Sozialgesetzgebung Ansprüche auf sozialarbeiterische Hilfen (Beratung, Erziehungshilfen usw.), die über bloße Geldleistungen hinausgehen und die m.E. nicht angemessen als sanfte Formen der Kontrolle verstanden werden können.

b) Wenn staatlicherseits ein wie immer gefasstes mitteleuropäisch vernünftiges Grundeinkommen allen, also nicht nur Staatsbürgern, zur Verfügung stehen soll, welches Recht soll dann dem Staat zugesprochen werden, durch Grenzsicherungen den Zugang zu diesem Grundeinkommen bzw. den Infrastrukturen zu regulieren? Oder wie verhält man sich realutopisch zu dem gut verständlichen und wohl begründeten Interesse etwa von Kosovaren, Montenegrinern oder Weisrussen ohne Job und Perspektive, irgendwie nach Deutschland zu kommen, sofern sich dort Zugang zu Infrastrukturen und Einkommenschancen bieten? Diese Fragen haben zweifellos eine polemische Seite, sie markieren aber ein politisch zentrales Problem, dessen Diskussion ansteht, wenn man sich realutopisches Denken zutraut: Das Problem der Regulierung des Zugangs zu den Leistungen des nationalen Sozialstaates unter Bedingungen internationaler Ungleichheit, dem man meines Erachtens nicht sinnvoll ausweichen kann und das man auch nicht angemessen durch eine Moralisierung des Themenkomplexes Migration/Asyl ersetzen kann. Für eine linke Strategie wäre es jedenfalls sinnvoll, wenn diejenigen, die eine Öffnung der Grenzen und eine Beendigung der Illegalisierung fordern, und diejenigen, die sozialpolitische Positionen formulieren, nicht weiterhin aneinander vorbei reden würden.

3.

Warum spricht der Text der Arbeit eine programmatisch so zentrale Bedeutung zu? Warum wird nicht für ein Recht auf ein Grundeinkommen plädiert, das jeder/jedem zusteht? Und was heißt denn alle Arbeiten, die „zur gesellschaftlichen Reproduktion“ notwendig sind? (9) Von welcher Vorstellung von Notwendigkeiten wird hier ausgegangen? Und wie gedenkt die Realutopie mit denjenigen umzugehen, die zu den verschiedenen Formen der gesellschaftlich notwendigen Arbeit nicht in der Lage und nicht bereit sind? Diese Fragen stellen sich deshalb, weil auch die Ausweitung des Arbeitsbegriffs auf freiwillige Arbeit und Eigenarbeit im Kontext einer rechtlich regulierten Sozialpolitik das Problem aufruft, zu unterscheiden und zu kontrollieren, wer arbeitet und wer nicht arbeitet, wenn man das Recht auf ein Grundeinkommen an Arbeitsleistungen bindet. Impliziert die Vision einer alternativen Sozialpolitik also den unausgesprochenen Entwurf eine ganz anderen Kontrollbürokratie, die überprüft, wer mit wem in welchen (zu besteuernden) Haushalten zusammenlebt und wer welche Eigenarbeit erbringt? Sollen alle dauerhaft im Land lebenden Recht auf ein Grundeinkommen haben oder aber nur diejenigen, die sich nach rechtlich überprüfbaren Kriterien irgendwie an der gesellschaftlich notwendigen Arbeit beteiligen?

Mehrfach wird gesellschaftliche Teilhabe als positive Orientierung benannt. Ich würde mir realutopisch auch ein Recht auf Distanzierung und Nicht-Teilhabe wünschen, oder jedenfalls eine inhaltliche Qualifizierung dessen, was unter Teilhabe verstanden wird.

Einige Klärungsversuche aus Anlass der Fragen von Albert Scherr

Heinz Steinert

Albert Scherr hat, wie zu erwarten interessant, einige Fragen aufgeworfen, die alle Systeme der sozialen Sicherung betreffen und die, wie ich zu zeigen versuchen werden, in unserem Entwurf von „Sozialpolitik als Infrastruktur“ jedenfalls besser gelöst sind als in der real existierenden Sozialstaatlichkeit.

Zum dahinterliegenden Staats-Verständnis

Der bürgerliche Staat hat sich entwickelt als spezialisierter Apparat zur Herstellung und Sicherung der Infrastruktur für Kapitalreproduktion: Sicherung des Privateigentums, des Vertrags, der kolonialistischen und imperialistischen Eröffnung und Sicherung von Märkten, später der Regulation und Verstetigung der Wirtschaftsentwicklung, nicht zuletzt auch der materiellen Voraussetzungen für Produktion und Markt, die Einzelkapitale aus verschiedenen Gründen nicht herstellen können, darunter Maßnahmen zur Regulation und oft Verringerung von Konkurrenz. Sozialpolitik ist zunächst auch ein Teil dieser Infrastruktur für Kapitalreproduktion: Sicherung einer qualifizierten Lohnarbeitskraft. Früh-Kapitalismus konnte Arbeitskraft rücksichtslos rekrutieren, verbrauchen und ersetzen. Sozialpolitik wurde erst nötig, als mit komplizierteren Maschinen qualifizierte, also disziplinierte und ausgebildete Arbeitskräfte nötig wurden, als, mit anderen Worten, auch in die Arbeitskraft investiert werden musste und sich diese Investition als verlässliche Arbeit und Betriebstreue rentieren sollte. Das geschah zunächst durch „aufgeklärte“ Unternehmer als paternalistische Betriebspolitik und besonders wirksam mit dem Mittel der Fabrikssiedlung. Sozialpolitik ist ein Teil der Geschichte der abendländischen „Disziplinierung“, der „Fabrikation des zuverlässigen Menschen“ (Treiber und Steinert, 1980).

Im demokratischen Staat mit gleichberechtigten Staatsbürgern ist das zwar real auch noch so, aber es gibt immerhin keinen legitimen Grund für eine so einseitige Bestimmung der Staatsfunktionen. Die Infrastruktur, die der demokratische Staat produziert und verwaltet, hätte die für die Reproduktion aller zu sein. Aus diesem Widerspruch lebt der Sozialstaat. Wenn man kapitalistische Sozialpolitik als Politik der Reproduktion der Arbeitskraft versteht, dann braucht es nur eine kleine Radikalisierung, damit man zu einem Verständnis gelangt, wonach diese Reproduktion der Arbeitskraft nach deren eigenen Bedürfnissen und nicht nach denen ihrer Vernutzbarkeit organisiert werden muss.

Diese „kleine Radikalisierung“ geschieht durch eine sachangemessene Erweiterung des Begriffs von Arbeit. Eigentlich ist es heute, außer in den „offiziellen“ politischen Debatten, klar, dass Arbeit nicht gleich Lohnarbeit ist.

Zumindest, dass es auch Hausarbeit gibt, hat sich herumgesprochen, sogar, dass ohne Hausarbeit gar nichts geht, ist bekannt. Trotz aller Versuche dazu ist es auch nicht mehr durchsetzbar, diese Hausarbeit als Pflicht eines weiblichen Anhängsels an einen männlichen Lohnarbeiter zu verstehen, der mit seinem Lohn beide, sich und dieses Anhängsel (und ihre Kinder), finanziert. Das ist nicht zuletzt deshalb nicht mehr durchsetzbar, weil sein Lohn dafür nicht ausreicht, und weil das weibliche Anhängsel eine Tendenz zur Selbständigkeit zeigt, ihn sogar gelegentlich verlässt oder ihm im Betrieb als Vorgesetzte gegenübertritt. Das Patriarchat dient zwar noch als höchst wirksames Mittel der Herrschaft über Frauen wie Männer, aber es funktioniert wirtschaftlich nicht mehr. Dass die Anhängsel-Konzeption demokratie-theoretisch ein gewisses Problem ist, kommt erschwerend hinzu. Hausarbeit „existiert“ also allmählich im politischen Bewusstsein.

Freiwillige und „ehrenamtliche“ Arbeit ist ebenfalls von der Politik entdeckt worden, und zwar in dem Maß, in dem die Politik sie von den Leuten wünscht bis einfordert. Das ist zwar unverschämt genug, hat aber vielleicht auch unbeabsichtigte Wirkungen: Freiwillige Arbeit „existiert“ neuerdings auch.

Eigenarbeit „existiert“ vor allem als „Schwarzarbeit“, die wir nur privat nützen, öffentlich aber gern abschaffen möchten. Ihre „Wertschöpfung“ und die dem Staat entgehenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge werden immer höher angesetzt. Ebenso ist die Resignation doch recht verbreitet, dass es nicht gelingen wird, sie abzuschaffen. Dazu ist sie uns im privaten Gebrauch auf beiden Seiten zu plausibel – und dass Steuerhinterziehung ein Kavaliersdelikt ist, weiß niemand besser als die wirtschaftlich und politisch Maßgebenden. Die Versuche, sie als „Ich-AG“ in die Legalität zu locken oder sie über Freibeträge zu legalisieren, werden sie nicht verringern. Wo es nicht reine Hinterziehung von Abgaben in einem Lohnarbeits-Verhältnis ist, könnten wir lernen, sie als die „Eigenarbeit auf Gegenseitigkeit“ zu verstehen, die sie häufig darstellt.

Anders als bei diesen drei Formen ist es bei dem, was in Lohnarbeit produziert wird, viel fragwürdiger, wie gesellschaftlich nützlich oder notwendig es ist. Ein Teil davon ist zum Beispiel Waffenproduktion und dient also explizit der Zerstörung und Tötung. Auch wenn so getan wird, als könnten wir die Ökologie-Probleme im Haushalt lösen, durch Mülltrennung und politisch korrektes „shopping for a better world“, ist es doch vor allem die Großproduktion unter Einsatz von Lohnarbeit, die Öko- und 3.-Welt-Ausbeutungs-Probleme verursacht. Ein anderer Teil dessen, was für den Markt erzeugt und angeboten wird, ist überflüssig (und verschwindet entsprechend bald wieder), wird künstlich veraltet und ist von schlechter Qualität. Manches davon ist Spekulation, Ausnützung von Unerfahrenheit und nähert sich dem Betrug und der Zuhälterei. Mechanismen, die es den Leuten erleichtern, bei einer Arbeit, die sie annehmen, nach dem gesellschaftlichen Nutzen des Produzierten zu fragen, und nicht einfach wg. Einkommen nach irgendeiner Lohnarbeit suchen zu müssen, egal welche Waren oder Dienste damit hervorgebracht werden, wären durchaus erfreulich. Was von der nachgefragten Lohnarbeit notwendige und nützliche gesellschaftliche Arbeit ist, wäre erst einmal zu prüfen.

Unser Vorschlag ist es, alle Arbeit in ihren verschiedenen Formen zur Kenntnis zu nehmen und der Spezialform der Lohnarbeit den ihr zustehenden relativ geringen Stellenwert zuzuweisen. Das sollte in der Politik umso leichter möglich sein, als sie allmählich über ihre haltlosen Versprechungen von „Vollbeschäftigung“ mit Lohnarbeit (bald, beim nächsten Aufschwung, irgendwann) doch etwas desperat wird. (Gebraucht wird das Versprechen nur mehr, um damit die Vergünstigungen für das Kapital zu rechtfertigen, aus deren laufender Erfindung und Durchsetzung auch rot-grüne Politik immer exklusiver besteht. Aber niemand glaubt mehr daran, dass sie irgendwann tatsächlich passieren könnte.)

Mit dieser „kleinen Radikalisierung“ wird also Sozialpolitik zur staatlichen Aufgabe, die Infrastruktur für alle Formen von gesellschaftlicher Arbeit, für das „Betreiben des eigenen Lebens“ bereitzuhalten. Damit bleibt sie ganz trocken ein Stück der raison d’etre von demokratischem Staat überhaupt. Wozu brauchen wir einen Staat, der uns ja einiges kostet, wenn nicht dafür, umfassend die Grundlagen für das Betreiben unseres Lebens zur Verfügung zu stellen? (Was das Kapital verlangen kann, können wir als Bevölkerung in der Demokratie schon lange auch fordern.) Es fällt schwer, das als (individuelles) „Recht“ zu konzipieren. Das Kapital hat auch kein „Recht“ auf seine Infrastruktur, es ist nur selbstverständlich Funktion des Staats, sie bereitzuhalten. Im demokratischen Staat ist es die genauso selbstverständliche Funktion, die Infrastruktur für die Lebensbedürfnisse aller zu produzieren. Wenn der Staat das nicht tut, gehört er abgeschafft – da kann man mit den Neoliberalen übereinstimmen.

Als individuelles Recht ist das längst in allen Menschenrechts-Deklarationen seit der amerikanischen Verfassung und der französischen Revolution festgeschrieben oder zumindest dort ableitbar, sogar, was schon wirksamer ist, als Sozialstaats-Klausel in den Verfassungen von demokratischen Staaten. Das hat nichts daran geändert, dass weltweit Menschen verhungern und dass es sogar in den reichsten Ländern massive Armut und soziale Ausschließung gibt. Es geht also darum, wie das längst vorhandene Menschenrecht realisiert wird. Als individueller Rechtsanspruch funktioniert das nicht.

In der Sozialpolitik-Diskussion klingt es gewöhnlich so, als seien sozialpolitische Leistungen ein Geschenk des Staates, wenn nicht gar der jeweiligen Regierung, manchmal auch der Wohlhabenden an die Armen. In unserem Verständnis geht es aber nicht um Ausgleichszahlungen an einzelne Teilnehmer, die hinter den üblichen Standards zurückbleiben, sondern um eine bessere Infrastruktur für alle. Die Reste der Auffassung von „Mildtätigkeit“ denen gegenüber, die „es nicht schaffen“, sollten endlich überwunden werden. Tatsächlich geht es um ein angemessen verändertes Verständnis der Funktion des Staates und damit der Sozialpolitik. Die Infrastruktur zum Betreiben des eigenen Lebens der Menschen ist kein individuelles Recht, sondern die Aufgabe von Staat überhaupt. Sozialpolitik besteht nicht darin, ein individuell fehlendes Lohnarbeits-Einkommen zu substituieren, sondern die Infrastruktur dafür bereitzuhalten, dass alle das tun können, was für das gesellschaftlich angemessene Niveau von Leben und für die von ihnen gewünschte Teilnahme an der Gesellschaft und der Gestaltung ihrer Zukunft nötig ist.

Recht auf Arbeit, Recht auf Faulheit

Zunächst zur Klärung des Begriffs von „Arbeit“: Das Gegenteil von Lohnarbeit ist nicht Nichtstun, sondern andere Arbeiten tun, in erster Linie Hausarbeit. In der Zeit, die „Freizeit“ genannt wird und die korrekt „lohnarbeitsfreie Zeit“ heißen müsste, wird gewöhnlich gearbeitet: Reproduktions-Arbeit, sei es Pflege der anderen Haushaltsmitglieder, sei es Reparaturen an Wohnung und Einrichtung, sei es Behörden-Korrespondenz, sei es Kontakthalten mit der engeren oder weiteren Nachbarschaft, ist auch Arbeit. Die meisten Menschen wollen die meiste Zeit ihres Lebens nicht nichts arbeiten, sondern sie wollen sich nicht vorschreiben lassen, was sie arbeiten sollen. Vor allem wollen sie sich von der wg. Gelderwerb notwendigen Lohnarbeit nicht die Zeit wegnehmen lassen, die sie dringend für andere Arbeiten (hauptsächlich in Familie, Freundeskreis und Gemeinde) brauchen würden. Dazu geschieht die Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Zukunft in Projekten, an denen Leute gemeinsam arbeiten. Im Verkauf der eigenen Lohnarbeitskraft beteiligt man sich an einem Projekt, das ein anderer entworfen hat, auf das man wenig Einfluss hat und dessen Wert für die Gesellschaft man gewöhnlich nicht befragt: Hauptsache, es wirft Lohn und Gewinn ab. Teilhabe an der Gesellschaft setzt voraus, dass man stattdessen oder wenigstens zusätzlich mit Gleichgesinnten eigene, autonome Projekte zur (verschieden großflächigen) Gestaltung der Gesellschaft betreiben kann. Auch das ist Arbeit.

Sodann zur Klärung von „Zwang zur Arbeit“: Es wird in den Diskussionen auf erstaunliche Weise vernachlässigt, dass wir sozialstaatliche Leistungen selbst finanzieren. Wer sonst sollte es denn auch tun? Das Problem der real existierenden Sozialstaatlichkeit ist die Bindung dieser Selbst-Finanzierung an die langdauernde Lohnarbeit und die damit verbundenen Versicherungs-Einzahlungen. Man kann das aufweichen durch Mit-Versicherungen von Familienangehörigen oder durch fiktive Versicherungs-Einzahlungen (zum Beispiel für Kindererziehung, früher auch für Studium). Aber am Ende setzt das System der Sozialversicherung eine Person voraus, die im Zusammenhang mit Lohnarbeit eingezahlt hat. Damit erzeugt das Versicherungs-Prinzip einen Lohnarbeits-Zwang. Wenn man daraus und aus der Geld-Einkommens-Notwendigkeit ein Recht auf Arbeit ableitet, entsteht im Gegenzug die Arbeitsverpflichtung: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wer eine angebotene Arbeit (zu oft) nicht annimmt, wird „ausgesteuert“. Neuerdings wird hart daran gearbeitet, auch die Sozialhilfe in diese (Un)Logik zu bringen, indem sie mit Arbeitsverpflichtungen verbunden werden soll.

Ein steuerfinanziertes System der Infrastruktur-Sicherung hat dieses Problem nicht, sofern auch die Besteuerung endlich vom Lohnarbeits-Einkommen gelöst wird, was aus verschiedenen Gründen notwendig wäre. Das Umdenken wird erleichtert, wenn man den Arbeitsbegriff sachangemessen und plausibel erweitert, statt unvermittelt auf die Position zu gehen, man müsse die soziale Sicherung völlig von der gesellschaftlichen Arbeit lösen.

Es gibt aber noch einen anderen guten Grund, Infrastruktur und gesellschaftliche Arbeit in Verbindung zu halten: In den politischen Verhandlungen darüber, was aus Steuermitteln finanziert werden soll und was nicht, braucht man ein paar Kriterien dafür, was zur Infrastruktur gehört. Manche werden meinen, ein Golf- und ein Tennisplatz in der Nähe jeder mittleren Ansiedlung gehört zur Mindestausstattung an Infrastruktur, andere werden Kindergärten und Ganztags-Schulen für überflüssig, wenn nicht sogar schädlich für den Familienzusammenhalt erklären. Es ist bekannt, dass man mit „Bedürfnissen“ zu keinerlei Abgrenzung kommt. (Das Bedürfnis nach einem Golfplatz, noch vor zehn Jahren bei uns praktisch unbekannt, scheint sich massiv auszubreiten. Wahrscheinlich wird es auch wieder vergehen.) Der Bezug auf gesellschaftliche Arbeit unter Beachtung des großen Bereichs der Nicht-Lohn-Arbeit, vor allem der Hausarbeit, auch als Reproduktionsarbeit zu bestimmen, ermöglicht schon eher vernünftige Abwägungen. Wenn das Betreiben eines Haushalts wenigstens denselben Stellenwert hat wie das Betreiben etwa einer Fabrik zur Herstellung von panzerbrechenden Geschossen und Landminen oder eines Ateliers zur Konstruktion von Computer-Spielen oder eines Surfbretter-Verleihs, dann kann man etwas rationaler darüber verhandeln, wem dafür welche von allen finanzierte Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden muss.

Ein wichtiger erster Effekt wäre, dass „Arbeitsplätze“, egal was das Produkt dieser Arbeit ist, nicht mehr wie heute als „Infrastruktur“ verstanden werden können, für deren Schaffung staatliche Förderung eingeworben (wenn nicht erpresst) werden kann. Was öffentliche Infrastruktur ist, muss sich inhaltlich, nämlich daran ausweisen, dass es dem „Betreiben des eigenen Lebens“ der Leute dient und nicht von den einzelnen Haushalten und Betrieben hergestellt werden kann (oder jedenfalls nur mit viel höheren Gesamt-Kosten als wenn es öffentlich geschieht). Ein weiteres Kriterium wäre, dass potentiell alle eine bestimmte Leistung brauchen können. Was wir jetzt als „Minderheiten“ bestimmen, für die besondere Leistungen angeboten werden müssen, sind ja entweder Lebenslauf-Situationen, in die wir alle einmal kommen (Kinder, Jugendliche, Alte) oder kommen können (behindert, krank, pflegebedürftig), oder Konstellationen der Haushaltsführung (mit Eltern, alleinlebend, als Paar, mit Kindern, mit vielen Kindern, mit sonst Pflegebedürftigen, wieder allein; stabil oder herumziehend) oder das Ergebnis von Diskriminierungen, nicht zuletzt staatlichen (Ausländer, Homosexuelle, Vorbestrafte, ethnisch oder religiös Diskriminierte). Der Großteil dieser angeblich „besonderen“ Situationen sind daher sehr wohl allgemeine. Hingegen ist das Problem mit den Diskriminierungen bekanntlich, dass die meisten davon politisch gewollt und staatlich verwaltet, wenn nicht hergestellt werden. Vor Infrastruktur zur Kompensation ist daher zuerst Aufheben der staatlichen Diskriminierung nötig. Was dann noch an Diskriminierungen zu bekämpfen bleibt, kann man vielleicht auch gesellschaftlichen Initiativen überlassen.

Heute ist das System der Sozialversicherung ein wesentlicher Teil des Lohnarbeitszwangs, sogar auf Kosten aller anderen Arbeiten, die nötig wären. Die Möglichkeit, nicht teilzunehmen, wird als jeweils aktuelle wie als Lebenslauf-Disziplin genau davon wesentlich eingeschränkt. Die Lösung der sozialen Sicherung von dem Zwang zur lebenslangen und regelmäßigen Lohnarbeit ist ein entscheidender Grundzug unseres Entwurfs. Dazu gehört übrigens auch, die Besteuerung von der Lohnarbeit zu lösen. Nach unserem Entwurf käme ein Gutteil der Finanzierung der Infrastruktur über Abgaben zustande, die für die Folgekosten von wirtschaftlichen und anderen Aktivitäten eingehoben würden. Das Prinzip ist einfach, „Folgekosten-Wahrheit“ herzustellen. Hingegen sollte die Arbeit selbst, auch die Lohnarbeit, von Besteuerungen frei gehalten werden. Direkter wie indirekter Lohnarbeitszwang fällt weg.

Man muss die Ausweitung des Arbeitsbegriffs, die wir hier vornehmen, auch nicht überspannen. „Beziehungsarbeit“ ist zwar ein gebräuchliches Konzept geworden, aber man kann emotionalen Austausch auch als (im günstigen Fall) einfach erfreulich stehen lassen. Natürlich kann man das Spielen von Kindern auch als Arbeit an ihrer eigenen Entwicklung verstehen, sollte es aber einfach Lustgewinn sein, ist dagegen auch nichts zu sagen. Der Habermassche Gegensatz von Arbeit und Interaktion ist zwar begrifflich falsch, denn Interaktion ist auch Arbeit, aber es ist hier nicht nötig, den Aspekt der Arbeit an allen Lebensäußerungen bis ins letzte nachzuweisen, weil in einem Konzept von Sozialpolitik als Infrastruktur Arbeit (und schon gar Lohnarbeit) weder Voraussetzung noch Rechtfertigung für Teilnahme an der Gesellschaft und die Nutzung der Infrastruktur ist.

Teilnahme und Nicht-Teilnahme

An der Gesellschaft teilzunehmen lässt sich als vielschichtiger Prozess beschreiben: Auf der elementarsten Ebene geht es um die Sicherung von Überleben. Der Verband ermöglicht und regelt den Zugang zu den Ressourcen, die für schlichtes Weiterleben notwendig sind: Luft zum Atmen, Temperaturregelung, Wasser, Nahrungsmittel, ein Dach über dem Kopf, Schutz vor Krankheit und Verletzung, gegenseitige Hilfe in der Not. Zur Verstetigung und Erweiterung der Reproduktion kommt auf der nächsten Ebene die Möglichkeit dazu, gemeinsam mit anderen einen Haushalt einzurichten und Kinder großzuziehen. Notwendig ist als nächstes die Möglichkeit, die Ausstattung und Versorgung dieses Haushaltes auf Dauer stellen und dazu wirtschaftliche Projekte initiieren zu können. Diese können in der Annahme von Lohnarbeit bestehen, oder auch in unternehmerischen Projekten. Demokratisch an der Gesellschaft teilzunehmen bedeutet als nächstes, Projekte zur Gestaltung und Veränderung der Abläufe in der Gesellschaft ausdenken und erproben zu können. Teilnehmen bedeutet zuletzt, an der Ausgestaltung der Zukunft beteiligt zu sein.

Für die einzelne Person kann es freilich keine Verpflichtung geben, in einer bestimmten Weise teilzunehmen. Man kann sich umbringen, man kann allein von der Hand in den Mund leben, man kann die Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft anderen überlassen. Aber ein demokratischer Staat besteht darin, dass er allen die Infrastruktur für Teilnahme auf allen Ebenen zu Verfügung stellt, die sie benützen können, wenn sie wollen.

Freiheit zur Nicht-Teilnahme heißt zunächst Lockerung des Zwangs zur Lohnarbeit. Was kann sie darüber hinaus heißen?

Auflösung der Lebenslauf-Disziplin ist vielleicht besonders zu erwähnen. Wir leben heute mit einer ziemlich fixen Vorstellung davon, welche Schritte in einer „Karriere“ wann und in welcher Reihenfolge getan werden müssen:

Auf berufsvorbereitende Ausbildung in der Jugend folgt Berufsausübung, Hausstandsgründung, Kinderaufzucht, in dieser selben Zeit hat man in der Hierarchie im Beruf hinaufzurücken, erreicht dann seinen persönlichen höchsten Punkt und arbeitet auf diesem Niveau noch 10, 15 Jahre, während die Kinder das Haus verlassen, dann wird es immer mühsamer, man wird altmodisch, kränkelt, hält noch ein wenig gegen die nachdrängenden Jungen durch, denen man damit im Weg steht, und tritt endlich zur allgemeinen Erleichterung in ein Alter ab, das eigentlich überflüssig ist, in dem sich manche zuerst unverschämterweise noch sichtbar vergnügen, dann aber gehen alle in den kostenintensiven Alters-Pflegezustand über (und wollen noch teure Operationen für ihre Hüftgelenks-Arthritis-Schmerzen, statt einfach die Zähne zusammenzubeißen und am Stock zu gehen, wie es der CDU-Jugend vorschwebt), bevor sie viel zu spät für die Interessen der Rentenversicherung endgültig abtreten.

Es sind nicht zuletzt die Regeln der Lohnarbeits-zentrierten Sozialversicherung, die diesen Ablauf festschreiben. Das Schul- und Ausbildungssystem trägt dazu bei. Wer ein bestimmtes Zertifikat bis zu einem bestimmten Alter nicht hat, ist ein Versager. Wer in der bestimmenden Zeit der Karriere (ca. 25 bis 35) mit anderen Interessen zu sehr beschäftigt ist (am häufigsten wohl Partnerschaft und Kinder, Hausbau, sonstige Anschaffungen – aber es könnte auch ein künstlerisches Interesse, eine große Liebe, Experimentieren mit sich selbst und möglichen Lebensweisen, schlichtes Ungeschick oder überwältigendes Unglück sein), hat seine Chancen versäumt. Wer zu alt (also über 40) ist, wird im Wettbewerb um Lohnarbeitsstellen nach hinten gereiht. In Rente gehen kann man erst mit einem bestimmten Alter, muss dann aber auch. Weiterarbeiten ist nicht, außer man verzichtet auf das meiste der Rente. Nicht einmal das bisschen Flexibilität ist vorgesehen, dass man etwas von diesem „Ruhestand“ früher vorwegnehmen könnte. (Man könnte ja heimtückisch versterben, bevor man diese Zeit am Schluss nachgearbeitet hat.) Das alles könnte sich mit einem Verständnis von Sozialpolitik als Infrastruktur aufhören. Genau damit würde also die Möglichkeit gewaltig erweitert, aus der Lohnarbeit ohne allzu gravierende Folgen ganz oder auf Zeit auszusteigen.

Aus den anderen Formen von Arbeit auszusteigen, also zum Beispiel aus der Hausarbeit, ist heute eine Frage der privaten Macht oder des privaten Aushandelns, denn dann muss jemand anders sie für diese Person tun. In bestimmten Phasen des Lebenslaufs (z.B. für Kinder, Kranke, Alte) ist das die selbstverständlich akzeptierte Situation: Man braucht Pflege. Aber es wollen manchmal auch Personen, die nach dem Verständnis ihrer Umgebung sehr gut „für sich selbst sorgen“ könnten, aus der Arbeit aussteigen und nur „durchhängen“ und nach Auffassung dieser Umgebung völlig unsinnige und nutzlose Dinge tun. Eine gute Infrastruktur wird auch das eher ermöglichen. Sofern dafür die Zuarbeit und Pflege durch andere benötigt wird, muss das, so wie heute, privat ausgehandelt oder sonst durchgesetzt werden. Daran würde sich durch Sozialpolitik als Infrastruktur allenfalls das ändern, dass eine Person mit Grundeinkommen und guter sonstiger Infrastruktur für Haushaltsführung sich weniger leicht einreden lässt, sie würde von einer anderen Person von deren Arbeitslohn „erhalten“ (wenn nicht „ausgehalten“) und müsse das pflegerisch abarbeiten. Ansonsten kann man davon ausgehen, dass niemand über längere Strecken seines erwachsenen Lebens gar nichts arbeitet (wenn man alle Formen von Arbeit berücksichtigt), es sei denn, er ist tief depressiv oder sonst krank. Er arbeitet vielleicht nicht das, was andere möchten, dass er tut, aber „gar nichts“ geht kaum.

Im übrigen sollten wir die Diskussion nicht zu sehr auf die Ebene der Einzelperson ziehen: Die Infrastruktur besteht nicht allein und nicht in erster Linie in einem Grundeinkommen. Daher lässt sich auch die Höhe des angemessenen Grundeinkommens nicht abstrakt angeben. Wenn die Infrastruktur zum Beispiel ein wirtschaftspolitisch hergestelltes gutes Wohnungsangebot enthält, was sie sollte, kann das Grundeinkommen niedriger sein, als wenn es hohe Wohnkosten mit abdecken muss. Das Grundeinkommen soll die Tätigkeiten ermöglichen, die nicht entlohnt werden und keinen pekuniären Gewinn abwerfen, und es soll den Zugang zur Infrastruktur sicherstellen. (Diskutiert wird heute mit einem Betrag in der Gegend von tausend Euro pro Monat.) Vorrangig ist, dass Sozialpolitik eine funktionierende Infrastruktur zur vielfältigen Lebensgestaltung auf allen Ebenen bereithält.

Kosovaren, Montenegriner und Weißrussen

Historisch wird von Augsburg zur Zeit der Fugger berichtet (oder mehr als Sage erzählt?), die Wohlfahrt sei dort so gut gewesen, dass die Armen aus ganz Deutschland dort zusammenliefen und das System überforderten, das entsprechend aufgegeben werden musste. Daher wurde auch Zuständigkeit für die Armen durchgesetzt und die „fremden“ Armen wurden hinausgeworfen oder deportiert. Es ist schon vorstellbar, dass das so verläuft, wenn man eine große Armutsbevölkerung hat, die ohnehin entwurzelt und auf der Wanderschaft ist, dass es solche Attraktionen und Überforderungen gibt. Hohe Mobilität und gute soziale Sicherung scheinen sich zu widersprechen. Das gilt besonders für Sicherung nach einem Versicherungs-Modell: Wer neu zuwandert, hat bisher nicht in die Versicherung eingezahlt und „verdient“ daher keine Leistungen aus ihr. Ein klassisches Einwanderungsland wie die USA zeichnet sich auch durch schwache öffentlich organisierte soziale Sicherung aus. (Andere klassische Einwanderungsländer wie Kanada oder Australien tun das nicht in dem Maß, also ist da zumindest Spiel drin.) Europa im Übergang zu politisch und wirtschaftlich gewollter hoher Mobilität kommt mit seinem Versicherungs-Modell in Turbulenzen. Gerade die Tatsache, dass Mobilität zwischen Ländern mit Wohlstandsgefälle ermöglicht werden soll, erzwingt eine Änderung der Logik von Sozialstaat.

Ein steuerfinanziertes System von Sozialstaat hat mit neuen Mitgliedern weniger Probleme als eines nach der Versicherungs-Logik: Es geht dann nicht um Beiträge in der Vergangenheit, und Steuern zahlen die Neuen auch, besonders wenn es nicht in erster Linie Einkommenssteuern sind, und zwar von Anfang an, zum Beispiel bei jedem Einkauf. Man könnte daher unabhängig von Neidanfällen und sonstigen Sozialstaats-Erwägungen politisch entscheiden, wie viel und welche Neuen man aufnehmen möchte, wie das alle Einwanderungsländer tun. Man hätte aber auch ein Motiv weniger, sich die Mühe einer solchen Auswahl anzutun.

Hinzu kommt, dass das Steuerrecht eine Denkfigur wie „Lebensmittelpunkt“ bereithält, mit der sich die Alles-oder-nichts- und nur schwer veränderbare Kategorie der Staatsbürgerschaft verflüssigen lässt. Wenn man dort Steuern zu zahlen hat, wo man seinen „Lebensmittelpunkt“ (Hauptwohnsitz, Arbeitsplatz, Schule der Kinder, Firma, sonstige Pläne und Projekte) hat, dann kann man dort auch die Infrastruktur, darunter das Grundeinkommen, benützen. Wenn man in die Bestimmung des „Lebensmittelpunkts“ noch ein Merkmal der zeitlichen Stabilität über eine festzulegende Zeit (zum Beispiel zwei Jahre) einbaut, dann hat man damit auch das Gespenst der „Wirtschaftsflüchtlinge“ vom Grundeinkommen ausgeschlossen, die nur eben für ein halbes Jahr vorbeikommen, sozialstaatlich abkassieren und dann wieder verschwinden wollen. (Dieses Modell ist in der Altersgrundsicherung vorgebildet, die Länder wie Schweden und die Niederlande haben, dort allerdings mit einer extrem langen Residenz von 30 Jahren als Voraussetzung.)

Auch noch diese Komplikation kann man sich sparen, wenn man das System in gleicher Form und Höhe in vielen Ländern einführt. Wir gehen ohnehin davon aus, dass die gesamte EU das Minimum an Grundstock von Ländern ist, in denen dieses System in Kraft sein müsste. Für sie hat es den Vorteil, dass es der erwünschten Freizügigkeit bestens angepasst ist. Dazu erzeugt es Druck auf Ausweitung: Die EU hätte allen Grund, möglichst viele Nachbarn von den Vorteilen einer Übernahme des Systems zu überzeugen (und wäre damit zugleich interessiert, deren Wohlstandsniveau dem der EU anpassen zu helfen). Es ist vorstellbar, dass man sich damit dem einzig der Menschenwürde entsprechenden Zustand nähert, in dem kein Mensch nur aufgrund seiner Anwesenheit an einem Ort „illegal“ sein kann, in dem wirklich die Freizügigkeit herrscht, die uns als Menschenrecht versprochen wird.

Nachtrag: Migranten und Sozialpolitik

Albert Scherr

Zweifellos ist es richtig darauf hinzuweisen, dass Menschen sich gewöhnlich erst unter recht widrigen Umständen zur Migration entschließen und dass allein die Aussicht auf Verbesserung des Einkommens hierfür gewöhnlich kein ausreichendes Motiv ist. Solche widrigen Umstände werden aber politisch aktuell immer wieder hergestellt und es sind die etablierten rechtlichen Regulierungen und Grenzkontrollen, die dazu führen, dass die Asylbewerberzahlen sich auf einem historischen Tiefstand befinden und prinzipiell Auswanderungswillige auf den Versuch, nach Deutschland einzureisen, aufgrund seiner Aussichtslosigkeit verzichten. Die Praxis der Verfestigung von ungleichen Lebensbedingungen durch nationale Abschottung und der menschenrechtlich fragwürdigen Ab- und Ausweisung von Flüchtlingen wird dadurch nicht legitimiert, dass sie auch in klassischen Einwanderungsländern üblich ist. Und was ist gewonnen, wenn, wie vorgeschlagen, auf Konsumsteuern statt auf Arbeitsbesteuerung gesetzt wird? Die vermeintliche und reale Konkurrenz um Erwerbsarbeit, durch die dasjenige Geld verdient werden kann, durch das der steuerlich verteuerte Konsum bezahlt werden kann, verschwindet so jedenfalls nicht.

Meines Erachtens ist es im Feld der Sozialpolitik ebenso wie in dem der Einwanderungspolitik nicht verzichtbar, sich auf Menschenrechte als allen Individuen zustehende Rechte zu berufen, wenn realutopisch versucht wird, Perspektiven zu entwickeln. Und dies zwingt zu einer Auseinandersetzung mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Staatsbürgerrechten und Menschenrechten, die dem erklärten Anspruch nach eben nicht nur Staatsbürgern und Arbeitenden zustehen.

© links-netz September 2003