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Schlägt das Imperium zurück?

Lateinamerika zwischen Reform, Revolution, Gegenreform und Konterrevolution*

Stefan Schmalz

Vielleicht wird der 28.6.09 einmal als der Tag in die Geschichtsbücher eingehen, an dem die „rosarote Welle“ der Linksregierungen in Lateinamerika abebbte und eine Gegenbewegung einsetzte. Der Militärputsch in Honduras gegen den linksgerichteten Präsidenten Manuel Zelaya, der an jenem Tag stattfand, könnte als die Speerspitze einer Offensive der politischen Rechten in Lateinamerika bewertet werden, die seit Ende 2007 unübersehbar ist. Zunächst scheiterte das Verfassungsreferendum im Dezember 2007 in Venezuela an der geringen Beteiligung der Chavisten. Deren Kritik bestand vor allem an der überschnellen Ausarbeitung des Vorhabens, durch das der Weg für eine sozialistische Wirtschaftsverfassung, aber auch eine unbegrenzte Wiederwahl von Chávez geebnet werden sollte. Es folgte eine weitere Schlappe bei den Kommunalwahlen im Folgejahr. Das gesamte Jahr war zudem durch heftige Konflikte zwischen der bolivianischen Linksregierung Evo Morales und der Opposition in den Tieflanddepartements (Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija) gekennzeichnet. Der Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen war auch hier der Plan zur Verabschiedung einer neuen Verfassung, die die indigene Bevölkerungsmehrheit einschließen und zur sozialen Umverteilung beitragen sollte, aber von der Oppositionsbewegung mit allen Mitteln blockiert wurde. Im September 2008 kam es sogar zu einem Massaker an Regierungsbefürwortern im Bundesstaat Beni, sodass erst unter internationalem Druck ein Verfassungskompromiss im Januar mit 61,4% der Stimmen angenommen wurde. Auch im Nachbarland Argentinien geriet die Regierung Cristina Kirchner zunehmend unter Druck, da ihre Pläne, den Export von Sojaerzeugnissen zu besteuern, zu einer Massenmobilisierung von Kleinbauern führte. Die Regierung musste ihre Pläne schließlich aufgeben und verlor massiv an Prestige, sodass die argentinische Soziologin Maristella Svampa (2008) bereits vom „Ende des Kirchnerismus“ spricht. Die verlorenen Parlamentswahlen im Juni 2009 scheinen einen solchen Trend zu bestätigen. Schließlich wurde der honduranische Präsident Manuel Zelaya vom Militär abgesetzt und außer Landes verwiesen. Das Mitglied der Liberalen Partei hatte in seiner Amtszeit den Mindestlohn um 60% angehoben, Sozialprogramme wie eine Schulspeisung für 1,3 Mio. Kinder eingeführt und war dem regionalen Integrationsbündnis ALBA (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América) beigetreten, das von der venezolanischen Regierung dominiert wird. Zelayas Ziel, ebenfalls eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, rief den Widerstand der traditionellen Sektoren in seiner Partei hervor, die mit einem Putsch antworteten. Das jüngste Abkommen zwischen den USA und Kolumbien, das die Schaffung von sieben neuen US-amerikanischen Militärbasen auf kolumbianischem Gebiet vorsieht, ist ebenfalls Teil dieser Gegenbewegung.

Doch wie ist dieser Umbruch in die lateinamerikanische Konstellation einzuordnen? Sie ist die Antwort auf die Linkswende auf dem Subkontinent. Diese war das Ergebnis von umfangreichen Protestaktivitäten der sozialen Bewegungen. Sie reichten von den Stadtteilbewegungen in Caracas über die indigenen Revolten in Ecuador oder Bolivien bis hin zu den Arbeitslosenbewegungen der „piqueteros“ in Argentinien. Aus ihnen rekrutierten sich neue parteiförmige Organisationen oder Wahlbündnisse wie der MAS (1999) in Bolivien oder der MVR in Venezuela (2000). Die Misserfolge der neoliberalen Sozial- und Wirtschaftspolitik, etwa die schweren Finanz- und Währungskrisen in Staaten wie Argentinien (2001/02), Brasilien (1998/99) oder Uruguay (2002), besiegelten deren Delegitimation. Durch Wahlsiege kamen Vertreter der Subalternen in staatliche Kommandohöhen. Verschiedene Staatsapparate wurden nunmehr von progressiven Kräften verwaltet. Dabei ist auffällig, dass lange Zeit zentrale Politikbereiche – auch in Venezuela – unangetastet blieben. So registrierte Atilio Borón (2004, 43) „ein bemerkenswertes Auseinanderklaffen zwischen einer unübersehbaren Schwächung neoliberaler Impulse in den Bereichen der Kultur, des öffentlichen Bewusstseins und der Politik und gleichzeitig deren verwurzelte Fortexistenz auf dem entscheidenden Terrain der Ökonomie und des ›policy making‹ – d.h. in den Köpfen und den Entscheidungen der Funktionäre, der Finanz- und Wirtschaftsminister, Zentralbankpräsidenten etc.“

Rasch bildeten sich die Konturen gegenhegemonialer Projekte heraus. Diese unterschieden sich vor allem in zwei Punkten: ob der (gegenhegemoniale) Machtblock auf eine Klassenallianz baute oder von den Vertretern der subalternen Klassen geführt wurde; und ob eine Reorganisation der staatlichen Institutionen oder gar eine „Neugründung des Staates“ beabsichtigt waren. Spätestens seit dem Jahr 2006 hat sich die gesellschaftliche Veränderung auf weitere Bereiche ausgeweitet und auch die Hierarchie der einzelnen Staatsapparate nachhaltig verändert. Den Auseinandersetzungen in der „robusten Kette von Festungen und Kasematten“ (Gramsci 1991ff., , H. 7, § 6, 874) der Zivilgesellschaft folgte eine langsame Abwertung bzw. Umorientierung der Staatsapparate wie des Finanzministeriums, das zentral für die Durchsetzung des Neoliberalismus war. Dieser Prozess lässt sich in verschiedenen Ländern beobachten: War in Brasilien das Finanzministerium bis 2006 in der Hand neoliberal orientierter Kräfte, ist heute mit Guido Mantega ein Keynesianer Finanzminister. In Venezuela hat die Regierung Chávez die Unabhängigkeit der Zentralbank bereits abgeschafft. Doch es haben sich auch unterschiedliche Transformationspfade herausgebildet. Auf der einen Seite steht ein Modell des „Sozialliberalismus“ bzw. der „Sozialdemokratie“, auf der anderen Seite das eines „Petrosozialismus“ (Azzellini 2008).

Vom Sozialliberalismus zur Sozialdemokratie

Die sozialliberale bzw. -demokratische Orientierung hat sich vor allem im Cono Sur etabliert. Die Regierungen in Argentinien, Brasilien, Uruguay und seit 2008 auch in Paraguay setzen auf einen langsamen Umbau der staatlichen Institutionen, der über parlamentarische Mehrheiten vorangetrieben wird. Dies ist das Ergebnis einer „passiven Revolution“ im Sinne Antonio Gramscis: Teile der herrschenden Klassen und politischen Eliten gingen auf die subalternen Klassen zu und integrierten diese in ein gemeinsames Projekt. Die unvermutete Erneuerung der Peronistischen Partei in der Ära Kirchner (ab 2003) in Argentinien oder der Pakt der brasilianischen Arbeiterpartei PT mit einzelnen Fraktionen des Industriekapitals führten zu widersprüchlichen Klassenallianzen. Es bildeten sich verschiedene Regierungsachsen heraus, die sich auf bestimmte Ministerien stützen, sich gegenseitig befehden und teilweise konträre politische Zielsetzungen verfolgen. Das bekannteste Beispiel ist die Auseinandersetzung um die Agrarpolitik in der ersten Regierung Lula (2003-2006): Während im Landwirtschaftsministerium mit João Roberto Rodrigues ein Vertreter des Agrobusiness amtierte, war der Trotzkist Miguel Soldatelli Rossetto Minister für landwirtschaftliche Entwicklung. In vielen Politikfeldern wurde deshalb auch kein Wandel erreicht: So erfuhr die Wirtschaftspolitik in der ersten Amtsperiode der Mitte-Links-Regierungen in Brasilien oder Uruguay wenige Veränderungen. Es erfolgte lediglich ein Stopp der Privatisierungen bzw. die teilweise Wiederverstaatlichung privatisierter Betriebe bei weitgehender Kontinuität der orthodox-neoliberalen Finanzpolitik. Darum blieb für die Sozialpolitik oft nur ein geringer Spielraum: Programme wie „Bolsa Família“ in Brasilien, „PANES“ in Uruguay oder „Jefes y Jefas de Hogar“ in Argentinien beschränken sich auf einen Einkommenstransfer für die ärmsten Sektoren der Bevölkerung. Allerdings ermöglichten sie zusammen mit anderen Maßnahmen, etwa der Steigerung des Mindestlohns, Programme zur Formalisierung von Beschäftigungsverhältnissen oder die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen, spürbare Realeinkommenszuwächse und die schrittweise Umwandlung des „sozialliberalen“ in ein „sozialdemokratisches“ Projekt.

Diese Politik trug dazu bei, dass Teile der sozialen Bewegungen wie in Argentinien in das Regierungsprojekt eingebunden und demobilisiert wurden und sich andere Teile enttäuscht davon abwandten. Ein prominentes Beispiel ist die Fragmentierung der Piquetero-Bewegung in Argentinien, von der große Teile von der Regierung Kirchner kooptiert wurden. Doch auch die soziale Basis der Regierungen verschob sich. In Brasilien integrierten die Sozialprogramme Teile des informellen Sektors und der verarmten Landbevölkerung in den Machtblock. Das lässt sich beispielsweise deutlich an den Wahlergebnissen der Präsidentschaftswahlen 2006 ablesen, als Lula in den verarmten nördlichen Bundesstaaten über zwei Drittel der Stimmen erhielt. Gleichzeitig entfernten sich Teile der Mittelschichten und der Intellektuellen von den Regierungsprojekten. Entweder radikalistieren sie sich nach links oder schlugen sich auf die Seite der traditionellen Machthaber.

Der Versuch, einen gegenhegemonialen Regionalblock zu bilden, verlief schleppender. Im Mittelpunkt dieser Pläne stand dabei der Aus- und Umbau des südamerikanischen Freihandelsblocks Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay). Intern sollte mit einem gemeinsamen Parlament, einem ständigen Gerichtshof und einem Verwaltungssekretariat ein stärkeres institutionelles Gerüst geschaffen werden, um das Bündnis zu demokratisieren. Außerdem wurden verschiedene sozialpolitische Initiativen umgesetzt, so etwa ein Fonds von 100 Mio. US$ für strukturschwache Regionen (Fondo para la Convergencia Estructural del MERCOSUR), um die Folgen der Marktintegration abzufedern. Allerdings waren die Pläne eines „Mercosur social“ nicht von großem Erfolg gekrönt, da interne Streitigkeiten – wie um den Bau zweier Zellulosefabriken an der uruguayisch-argentinischen Grenze – eine Vertiefung der Integration hemmten. Auch die Ausweitung des Bündnisses stieß auf Widerstände. Zwar hat der Mercosur mittlerweile Assoziationsabkommen mit allen südamerikanischen Staaten außer Guayana und Surinam geschlossen. Doch der konservativ dominierte brasilianische Senat blockiert den Beitritt Venezuelas als Vollmitglied. Folglich hat das Bündnis an regionaler Ausstrahlungskraft verloren, was auch an den niedrigen materiellen Ressourcen liegt, die die brasilianische Regionalmacht zur Verfügung stellt. Das jüngste Abkommen zwischen der Regierung von Paraguay und Brasilien, das die brasilianischen Zahlungen an Paraguay für den im binationalen Wasserkraftwerk produzierten Strom auf 360 Mio. US$ verdreifacht, könnten hier eine Trendwende einleiten.

Dennoch wies das sozialdemokratische Modell bisher eine erstaunliche Stabilität auf. Verschiedene ökonomische Kerndaten wie das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts oder die Außenhandelsbilanz haben sich nicht zuletzt durch die hohe Nachfrage Chinas und Ostasiens an Exportgütern wie Rindfleisch, Soja oder Eisenerz stabilisiert. Die Rohstofferlöse und die Wiederbelebung der Industrieproduktion für den Export ermöglichten den sozialdemokratischen Ländern, sich von den traditionellen Gläubigerinstitutionen wie dem IWF freizukaufen und die privaten Außenschulden spürbar zu senken. Der Exportboom setzte sich auf den Binnenmarkt um. Auch der neue Machtblock hatte sich zunächst konsolidiert und eine Wiederwahl der Regierungen ermöglicht. Das Hauptringen drehte sich vor allem darum, inwieweit der sozialdemokratische Wandel vertieft werden könnte. So existiert in all diesen Ländern zunächst die Tendenz, die neoliberal orientierten Strömungen in der Regierung zurückzudrängen und zu einem keynesianischen Wachstumsmodell hin umzusteuern. Eine gesellschaftliche Transformation, die über sozialdemokratische Reformpolitik hinausgeht, bleibt jedoch verbaut.

Die Transformation wird insbesondere in der Weltwirtschaftskrise 2008/09 deutlich. Auch in Südamerika kam es seit dem vierten Quartal 2008 zu einer spürbaren Rezession. Allerdings legten Argentinien und Brasilien große Konjunkturprogramme auf. Gerade in Brasilien herrscht eine Sondersituation, da bereits seit Anfang 2007 mit dem PAC in vier Jahren 635 Mrd. Reais (etwa 210 Mrd. US Dollar) für den Ausbau der städtischen, sozialen und Transportinfrastrukturen aufgewendet werden sollen und diese Maßnahmen im Rahmen der Krise massiv als antizyklisches Konjunkturprogramm eingesetzt wurden. So ist es kein Wunder, dass Brasilien bereits im dritten Quartal 2009 die Rezession verlässt und auch in Argentinien eine Verbesserung in Sicht ist. In Brasilien begann die Regierung, die Krise politisch für ihr keynesianisches Projekt zu nutzen. Die neuen Regulierungsbestimmungen, die September 2009 für die gewaltigen Erdölfunde vor der brasilianischen Küste verabschiedet wurden, ermöglichen die Errichtung eines großen Sozialfonds und eine Stärkung des halbstaatlichen Erölunternehmens Petrobras durch exklusive Förderrechte. Auch die externen Bedingungen haben sich geändert. Brasilien ist mittlerweile zum Gläubiger aufgestiegen: Brasilianische Investoren halten rund 130 Mrd. US$ an US-amerikanischen Staatsanleihen. Die Regierung kündigte im Juni 2009 sogar an, 10 Mrd. US$ beim IWF einzahlen zu wollen. Argentinien wiederum konnte seine Liquiditätsengpässe durch zinsgünstige Kredite aus China überbrücken. Kurz, die sozialdemokratischen Regierungen führen die Politik während der Krise fort.

Petrosozialistische Projekte

Der „petrosozialistische“ Transformationspfad bezieht mittlerweile Bolivien, Ecuador, Venezuela und indirekt auch Kuba ein. Anders als in den sozialdemokratischen Staaten legen verfassungsgebende Versammlungen die Grundlage für ein neues institutionelles Gerüst. Sie sind gleichzeitig mit einer Anrufung verbunden, mit der die subalternen Klassen als „Volk“

in das neue Staatsprojekt eingebunden werden. Doch oft bleibt es bei einer halben Transformation. Die „Neugründung des Staates“ wächst im Schoß der alten staatlichen Strukturen heran, die die bürgerliche Herrschaft perpetuieren. Sie ist Ausdruck der „Veränderung des Kräfteverhältnisses auf dem Terrain des Staates selbst“ (Poulantzas 2002, 288) und des Versuches, die traditionellen staatlichen Bastionen bürgerlicher Macht zu schleifen. Hierfür werden zunächst direktdemokratische Foren oder auch sozialpolitische Provisorien genutzt. So spricht Edgardo Lander (zit. nach Müller 2007, 23) im venezolanischen Fall bei den unterschiedlichen sozialpolitischen Initiativen – den „misiones“ – sogar von einem „Bypass des Staates“. Diese Veränderungen gehen mittlerweile so weit, dass sie im leninschen Sinne Doppelmacht aufbauen, ohne jedoch auf eine Zerschlagung des bürgerlichen Staates zu zielen. Dabei kam den petrosozialistischen Regierungen bisher zugute, dass sie die Armee auf ihrer Seite hatten. Heute werden fünf Prozent des Staatshaushalts für die „consejos comunales“, die kommunalen Räte, ausgegeben. Sie sind Ausdruck einer Parallelstruktur, da sich die Teilnahme auf 16% der Bevölkerung – meist auf die aktiven Chavisten – beschränkt. Hier liegt ein Widerspruch: Das neue Staatsprojekt bindet die Ausgeschlossenen ein, ist aber noch nicht hegemonial. Die Reformversuche werden von der Bourgeoisie und der alten „Staatsklasse“ mit fortwährender Spaltung des Landes beantwortet. Ähnliche Spaltungslinien finden sich auch in Bolivien, wo der Verfassungsprozess eine Situation hervorgerufen hat, in der die alte Oligarchie auf die Ethnisierung des Klassenkampfs mit dessen Regionalisierung antwortet und nun auf separatistische Bewegungen in den ressourcenreichen Provinzen – insbesondere in Santa Cruz – setzt. Nur in Ecuador wurde bislang ein weitgehender Konsens für eine Umgestaltung geschaffen. Kurz, im „Petrosozialismus“ hat sich ein Machtblock herausgebildet, der bisher nicht hegemonial ist, da kein passiver Konsens zum Regierungsprojekt erreicht werden konnte.

Der „Petrosozialismus“ basiert im Kern auf Wiederverstaatlichungen und Re-Regulierungen im Energiesektor. Diese wurden lange Zeit von hohen Erdöl- und Erdgaspreisen sowie neuen Dynamiken regionaler Integration getragen. In Bolivien, Ecuador und Venezuela greifen die Regierungen auf die Petrorente zu und nutzen sie, um umfangreiche Sozialprogramme zu finanzieren: So erhielten in Venezuela fünf Prozent der Bevölkerung durch „Misión Ribas“ das Abitur, mit „Misión Robinson I“ wurde die Bevölkerung alphabetisiert, und „Misión Barrio Adentro“ schuf ein flächendeckendes Basisgesundheitssystem. Zentral ist deswegen auch die gesellschaftliche Verfügungsgewalt über die Rohstofferlöse. Es wird darum gestritten, in welcher Form (Steuern, Staatsbetriebe oder Hoheitsrechte) und in welchem Umfang der Staat Zugriff auf die Rohstofferlöse hat, und vor allem, wer welche Finanzmittel erhält. So drehte sich einer der Hauptkonflikte im venezolanischen Transformationsprozess um die Reorganisation des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA, der zuvor große Teile der Einnahmen in private Taschen und ins Ausland schleuste. Auch in Bolivien wurden Reformen zur Reregulierung des Energiesektors durchgesetzt: Am 1. Mai 2006 verpflichtete die Regierung die ausländischen Erdöl- und Erdgasunternehmen per Dekret dazu, als Minderheitskonzessionäre dem Staatsunternehmen YPFB beizutreten. Die Erlöse Boliviens aus den fossilen Brennstoffen haben sich seit dem Amtsantritt vervielfacht, sodass der Beitrag von YPFB zum BIP auf 5,15% im Jahr 2008 angewachsen ist (Radhuber 2009, 116). Die petrosozialistischen Regierungen setzen gleichzeitig auf die Stärkung des Binnenmarkts, etwa durch Kooperativen und Genossenschaften, was sich allerdings angesichts der zentralen Bedeutung der Rohstoffexporte als schwierig herausstellt.

Der Umstrukturierungsprozess verläuft nicht ohne soziale Konflikte. Die Bourgeoisie und die vormals herrschende politische „Klasse“ antworten sowohl in Bolivien als auch Venezuela mit einem „Klassenkampf von oben“, in dem die Privatmedien, die Unternehmer und die Mittelschichten mit ausländischer Unterstützung zu politischem Protest auf den Straßen mobilisieren. Dabei zeichnete sich ein Strategiewechsel ab. In Venezuela kam es im April 2002 zum Putschversuch, zur Jahreswende 2003 zum Produktionsstreik im Erdölsektor, im

Folgejahr zu einem gescheiterten Abwahlreferendum. Es folgten Sabotage, Paramilitarismus und ab dem Jahr 2007 eine von PR-Agenturen unterstützte Studentenbewegung. Schließlich begann die Opposition, Boden im parlamentarischen System zurückzugewinnen. In Bolivien wird dagegen versucht, durch Sezessionsbewegungen einen Bürgerkrieg heraufzubeschwören. Dies gipfelte darin, dass im April 2009 eine Terrorzelle ausgehoben wurde, die Attentate auf wichtige Regierungsmitglieder plante (Isidoro Losada 2009, 106).

Außenpolitisch herrscht eine paradoxe Mischung aus raschem Wandel und Kontinuität. Als Gegenprojekt zur ALCA wurde 2005 die Alianza Bolivariana Alianza para los Pueblos de Nuestra América (ALBA) gegründet, der außer Venezuela als treibender Kraft mittlerweile Bolivien, Ecuador, Kuba, Nicaragua und die Inselrepubliken Antigua und Barbuda, Dominica und St. Vincente und die Grenadinen beigetreten sind. Honduras verließ nach dem Putsch das Bündnis wieder. Die ALBA nutzt den Rohstoffboom aus. Das flexible Rahmenabkommen baut im Kern auf den solidarischen Tauschhandel von Energieressourcen gegen Waren und Dienstleistungen, die Kooperation zwischen Staatsunternehmen sowie auf Zollsenkungen für den Warenhandel. Gerade die Kooperation zwischen Kuba und Venezuela zeugt von einer besonders raschen Dynamik. Sie wurde durch den Erdölhandel ermöglicht. Kuba stellte u.a. 8.000 Ärzte für die Gesundheitsversorgung in Venezuela zur Verfügung. Venezuela bietet im Gegenzug Technologietransfer, Finanzspritzen für den Energiesektor und die Infrastruktur sowie Erdöl zu Vorzugsbedingungen. Der Handelsaustausch zwischen den beiden Ländern vervielfachte sich von 460 Mio. US$ 2001 auf über 7 Mrd. US$ 2007. Die kubanische Wirtschaft profitierte davon in den vergangenen Jahren mit Wachstumsraten von bis zu 11%. Auch die Regierung Morales erhielt durch den Beitritt in die ALBA im Jahr 2006 verschiedene Vorteile, etwa die Abnahme ihrer Sojaexporte, zinsgünstige Kredite über 100 Mio. US$ oder 6.000 kubanische Ärzte. Allerdings weist die ALBA eine punktuelle Orientierung auf einzelne (Tausch-)Projekte auf, sodass deren Möglichkeiten beschränkt sind, strukturelle Veränderungen zu erreichen. Erst seit dem fünften Gipfel der ALBA im April 2007 ist ein Trend zu einer stärkeren Institutionalisierung festzustellen. So wurde im Jahr 2009 sogar eine Comisión Permanente gegründet, deren Vorsitz die venezolanische Regierung für die ersten zwei Jahre übernehmen wird (vgl. ALBA 2009).

Die Weltwirtschaftskrise hat durch den Fall der Rohstoffpreise die petrosozialistischen Staaten hart getroffen. So hat die Regierung Chávez die Staatsausgaben mit einem Ölpreis von 60 US$ berechnet und musste ihr Budget für das Jahr 2009 um 6,7% senken (vgl. BBC News 22.03.09). Den einzelnen petrosozialistischen Staaten fällt es schwer, auf die Krise mit Konjunkturprogrammen zu antworten. Auch wird die venezolanische Regierung zukünftig geringere Ressourcen für ihre Außenpolitik und damit für die ALBA-Programme aufwenden können. Die Petrodiplomatie als Kern der venezolanischen Außenpolitik wird so ausgebremst. Dies könnte dazu beitragen, dass die ALBA an Dynamik und Ausstrahlungskraft verliert.

Auch die regionalen Finanzbeziehungen unterliegen Veränderungen. Durch die Boomperiode der vergangenen Jahre steigerte die Rohstoffhausse die Devisenreserven in Lateinamerika im Zeitraum von 2002 bis 2008 von 157 Mrd. US$ auf ca. 440 Mrd. US$. Dies ermöglichte der Mehrzahl der Staaten, sich bei den internationalen Gläubigerinstitutionen zu entschulden. Venezuela und Ecuador traten zum 1. Mai 2007 sogar aus dem IWF aus. Durch die Schaffung der künstlichen Verrechnungseinheit SUCRE soll sogar mittelfristig eine Währungsunion erreicht werden. Auch dieses ehrgeizige Projekt wird durch die niedrigeren Einnahmen ausgebremst. Und die Absage ans „US-Imperium“ schlug sich für die petrosozialistischen Länder bisher außenwirtschaftlich kaum nieder: Rund drei Viertel der venezolanischen Exporte verdanken sich dem Erdöl, wovon über 60 % in die USA gehen. Die Pläne einer Diversifizierung der Exporte, etwa nach China, schreiten nur langsam voran.

Eine Neuheit ist die stärkere Interaktion zwischen den Achsen: So wurde mit der UNA-SUR (Unión de Naciones Suramericanas) (2007) ein Abkommen geschaffen, an dem alle südamerikanischen Länder beteiligt sind (Peña 2009, 53ff.). Auf diese Weise soll ein institutioneller Rahmen zur Integration Südamerikas hergestellt und der Einfluss der USA in Institutionen wie der OAS zurückgedrängt und kompensiert werden. Die prestigeträchtigsten Projekte sind die Bank des Südens (Banco del Sur) mit acht Mrd. US$ Startkapital, die Energieintegration durch den Consejo Energético und die Koordination der Verteidigungspolitik durch den Verteidigungsrat Consejo de Defensa Sudamericano. Außerdem wird durch die Regionalforen mit anderen Weltregionen, etwa dem Africa South America Summit, ein Rahmen geboten, um die Außenpolitik der südamerikanischen Staaten aufeinander abzustimmen. Dass diese Versuche bisher nicht weit gediehen sind, zeigt der jüngste UNASUR-Gipfel in Bariloche im August 2009, auf dem es zu heftigen Konflikten um die neuen Militärbasen in Kolumbien kam.

Schlägt das Pendel zurück?

Die jüngsten Geschehnisse deuten darauf hin, dass in der Analyse oft ausgespart wurde, dass sich bereits lange vor dem Staatsstreich in Honduras ein Gegenblock „neoliberaler Kontinuität“ formiert hatte. Er reicht von der konservativen Regierung Calderón in Mexiko, die des Wahlbetrugs beschuldigt wird, über das Kolumbien des Rechtspopulisten Álvaro Uribe Vélez und Peru, wo die Regierung Alan García repressiv gegen die neu entstandenen sozialen Bewegungen vorgeht, bis nach Mittelamerika. Auch hier existieren Gemeinsamkeiten. Die Länder sind oftmals in „Alquitas“, kleine ALCAs, wie der mittelamerikanischen DR-CAFTA, eingebunden. Die restriktive Finanzpolitik wird fortgeführt, sodass wenig Spielraum für Sozialprogramme bleibt. Zusätzlich setzen die Regierungen auf weitere Marktöffnungen und Privatisierungen. Während im Petrosozialismus die Vergesellschaftung des Energiesektors auf der Tagesordnung steht, wurden in Mexiko im März 2008 Schritte zur Privatisierung des staatlichen Erdölunternehmens PEMEX eingeleitet.

Flankiert wird der Kurs der neoliberalen Kontinuität von einem Ausbau der repressiven Staatsapparate, um den bröckelnden Konsens zum Neoliberalismus mit Zwang zu panzern. Viele der linksorientierten sozialen Bewegungen bewegen sich deswegen im außerparlamentarischen Raum. Es kommt zu einer Militarisierung der Innenpolitik, wie sich am Wiederaufleben von Aufstandsbewegungen wie dem EPR (Ejército Popular Revolucionario) in Mexiko oder der Fortsetzung des blutigen Bürgerkriegs in Kolumbien studieren lässt.

Die Achse der neoliberalen Kontinuität fungiert dabei als Operationsgebiet, um die radikal-reformerischen Kräfte zu schwächen. Die USA versuchten bisher, diese in einen regionalen Konflikt zu ziehen, während die EU auf eine politische Isolation der petrosozialistischen Länder setzt. Die neue US-Regierung Obama sendet bisher widersprüchliche Signale aus: Zum einen führt sie mit harter Hand den Drogenkrieg in Kolumbien fort und baut ihre Militärpräsenz aus. Zum anderen reagierte sie auf die Geschehnisse in Honduras mit halbherzigen Sanktionen wie einer Kürzung der Militärhilfe von 16,5 Mio. US$ und einer restriktiven Visumspolitik gegenüber Mitgliedern der Militärjunta. Dies zeigt auch die Widersprüchlichkeit des Regierungsprojekts in den USA: Einige Staatsapparate wurden von progressiveren Kräften übernommen, während andere gemäß der traditionellen politischen Linie weiter operieren.

Die Hauptgefahr für die Mitte-Links-Regierungen lauert aber derzeit in den internen Konfrontationen. Das petrosozialistische Modell hat einen dauerhaften Konflikt mit einer starken Oppositionsbewegung hervorgerufen, die in Bolivien, Honduras und Venezuela bereit war, mit Gewalt auf die radikalreformerischen Bestrebungen zu antworten. Der Militärputsch in Honduras ist das Ergebnis eines solchen Konflikts, der aber im Land weiterhin gärt und zu einer Gegenreaktion führen könnte. Anders als dieser permanente „Bewegungskrieg“ kam es in den sozialdemokratischen Ländern meist nur zu punktuellen – teilweise durchaus erfolgreichen – Mobilisierungen der Rechten, wenn weitgehende Reformschritte geplant sind. Gleichzeitig imitieren Teile der Opposition wie die brasilianische PSDB bereits den Diskurs der Regierung und machen politische Kompromisse. Gerade die Kombination von punktuellen Mobilisierungen und der Übernahme von Teilen des Programms der Linken könnte dazu führen, diese auf dem Wege zu entzaubern, auf dem sie das Terrain der Regierungspolitik erreicht hat: durch demokratische Wahlen.

Literatur:

ALBA (2009): ALBA crea comisión permanente para impulsar integración, in: www.alternativabolivariana.org/modules.php?name=News&file=article&sid=4070 (27.05.09).

Azzellini, Dario (2008): „Petro-Sozialismus“, in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik 5:5, 25-8.

BBC News (22.03.09): Chávez cuts budget over oil price, in: http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/ 7957536.stm (27.05.09).

Borón, Atilio A. (2004): „La Izquierda Latinoamericana a Comienzos del Siglo XXI: Nuevas Realidades y Urgentes Desafíos“, in: ObservatorioSocialde América Latina, 5:1, 41-56.

Isidoro Losada, Ana (2009): Alte Machthaber und aktuelle Opposition – Von den Zinnbaronen zu den Regionalfürsten im Tiefland, in: Ernst, Tanja/Schmalz, Stefan (Hg.): Die Neugründung Boliviens? Die Regierung Evo Morales, 95-108.

Gramsci, Antonio (1991ff): Gefängnishefte, 10 Bde. hgg. v. K. Bochmann, W.F. Haug u. P. Jehle, Berlin (zit. Gef.).

Müller, Bea (2007): „Der venezolanische Rentensozialismus“, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 18:3, 13-27.

Félix Peña (2009): La integración del espacio sudamericano ¿La Unasur y el Mercosur pueden complementarse?, in: Nueva Sociedad, Nr 219, Januar-Februar 2009, 46-58.

Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie.PolitischerÜberbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus, Hamburg.

Radhuber, Isabella Margerita (2009): Staatliche Reorganisation und Erdgaspolitik, in: Ernst, Tanja/Schmalz, Stefan (Hg.): Die Neugründung Boliviens? Die Regierung Evo Morales, Baden-Baden, 109-124.

Svampa, Maristella (2008): The End of Kirchnerism, in: New Left Review 53:5, 79-95.

Anmerkungen

* Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte, überarbeitete und aktualisierte Fassung von dem Aufsatz „Von der Hegemoniekrise des Neoliberalismus zum Aufstieg regionaler Alternativen“, Das Argument Nr. 276, 50:3, 337-349.Zurück zur Textstelle

© links-netz September 2009