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Hohle Herrschaftsinszenierung in Hamburg

Der diesjährige G20-Gipfel

Stefan Schoppengerd

Der kommende G20-Gipfel verspricht ein ziemliches Schmierentheater zu werden. Es genügt, sich die prominenteren Figuren auf der TeilnehmerInnenliste anzusehen, um die Erwartung fahren zu lassen, dass an zwei Tagen zwischen Galadinner, Elbphilharmonie und Gruppenfoto irgendeine weitreichende Entscheidung fallen könnte: Angela Merkel, die allen Gesetzesverschärfungen zulasten von Flüchtlingen und anderen MigrantInnen zum Trotz innenpolitisch immer noch als verweichlichte Flüchtlingsfreundin unter Druck steht, trifft auf Recip Tayip Erdogan, der mit einem brutalen Bürgerkrieg im kurdischen Südosten und einer Verfolgungs- und Verhaftungswelle die Faschisierung der Türkei vorantreibt – sich jede Kritik daran aber verbittet und dem mit der Drohung Nachdruck verleiht, die Flüchtlingsroute gen Mitteleuropa wieder zu öffnen. Aus den USA reist Donald Trump an, der einerseits zwar gewisse Ähnlichkeiten mit autoritären Knochen wie Erdogan oder dem ebenfalls geladenen Wladimir Putin hat, andererseits aber ein schwieriges Verhältnis zu den wirtschaftsliberalen Dogmen der Gruppe pflegt und seine Neigung zum Protektionismus bereits mit dem Ausstieg aus dem Transpazifischen Freihandelsabkommen TPP unterstrichen hat. Auch ein heimlicher Wettbewerb um die umfassendste Missachtung demokratischer Rechte dürfte schwer zu entscheiden sein: Während die EU-Länder im Namen der Terrorabwehr einen Ausbau ihrer repressiven Staatsapparate vollziehen, hat die ebenfalls vertretene EU-Kommission im Umgang mit der griechischen Schuldenkrise durchexerziert, was »marktkonforme Demokratie« bedeutet. Mit dem Brasilianer Michel Temer kommt ein Präsident, der die linke Vorgängerregierung mit äußerst zweifelhaften Methoden aus dem Amt gedrängt hat. Dass in China weder Meinungs- noch Organisationsfreiheit viel gelten, ist bekannt. Aber sehen alle Genannten nicht ohnehin alt aus gegen König Salman, den Kopf der saudischen Monarchie?

Kleine Gipfel, große Gipfel

Was die G20 zuvorderst zusammenbringt ist die Sorge um die Stabilität der globalen Wirtschaft und nicht zuletzt die Angst vor einer neuerlichen, weltumspannenden Krise des Finanzsystems. Die Sorge ist vollkommen berechtigt; hohe Erwartungen an die Handlungsfähigkeit der Gruppe sind es nicht. Das liegt nicht nur am schwierigen Personaltableau; dieses verstellt den Blick auf die entscheidenden Probleme sogar eher. Die Zusammenkünfte der Staats- und Regierungschefs sind – wie auch bei den G7- und G8-Gipfeln – nur die Spitze einer Pyramide mehrerer Arbeitsebenen. Das Fundament wird von den sogenannten Sherpas gelegt, die mit ihren Teams ganzjährig an Agenda und Beschlussvorlagen für die verschiedenen Treffen und Gipfeltermine arbeiten (der deutsche »Sherpa« zum Beispiel heißt Lars Hendrik Röller – ein Ökonomieprofessor, dessen Stab im Bundeskanzleramt für Wirtschafts- und Finanzpolitik und auch für die G7-Gipfel zuständig ist). Die nächsthöhere Ebene besteht aus diversen Treffen auf ministerialer Ebene. So treffen sich am 22. Januar die G20-Agrarminister in Berlin; am 16. und 17. Februar findet ein Außenministertreffen in Bonn statt, und am 17. und 18. März kommen die Finanzminister und Zentralbankchefs in der Casinostadt Baden-Baden zusammen. Es folgen noch die »Digitalminister«, die Arbeitsminister sowie die Gesundheitsminister. Dazwischen sind diverse »Dialogforen« eingestreut, bei denen die angepassteren Teile der »Zivilgesellschaft« am runden Tisch Platz nehmen dürfen. Es gibt ein »Dialogforum Frauen« (»Women20«) ebenso wie »Business20« oder das »Dialogforum Gewerkschaften«: »Labour20«; außerdem je eines für die Wissenschaft, für ThinkTanks, für die Jugend und für Nichtregierungsorganisationen. Letzteres ist der letzte Termin vor dem »echten« Gipfel und findet am 19. Juni ebenfalls in Hamburg statt.

Es wäre ein Irrtum, all diesen Terminen das gleiche Gewicht beizumessen. Unter den Ministerrunden verdient das Treffen in Baden-Baden Mitte März besondere Beachtung: Der Kreis aus FinanzministerInnen und den Spitzen der Zentralbanken sowie des Internationalen Währungsfonds kommt in diesem Format bereits seit 1999 zusammen – also schon neun Jahre länger als der »große« Gipfel der Staats- und Regierungschefs, der erstmals 2008 als Reaktion auf die globale Finanzkrise einberufen wurde. Die erweiterte Finanzministerrunde ist ein Kind der G7: Ende der 1990er Jahre wurde die Krisenanfälligkeit des liberalisierten globalen Finanzsystems zunehmend manifest; insbesondere die Asienkrise 1997/98 hat hier nachhaltigen Eindruck gemacht. Gleichzeitig dämmerte den »Sieben größten Industrienationen«, dass ihre wirtschaftliche Führungsstärke möglicherweise nicht mehr ausreicht, solche Probleme stellvertretend für den Rest der Welt zu bearbeiten – kurz nach der Jahrtausendwende sollte dann auch die Rede von den BRICS in aller Munde sein; die Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika standen mit beeindruckenden Wachstumsraten als neue Frontstaaten des weltwirtschaftlichen Geschehens da. Eine Erweiterung der Siebener-Runde zwecks Erhöhung der Effektivität schien ratsam. Außerdem wollte man eine konfrontative Blockbildung vermeiden und die neuen »Player« lieber einbinden, als ihnen Anlass für die Bildung von konkurrierenden Allianzen zu geben. Mit einer Erhöhung der Legitimität und Repräsentativität hat diese Initiative zur Erweiterung des Zirkels aber nichts zu tun.

Vom unverbindlichen und ohne kodifizierte Rechtsgrundlage arbeitenden Club-Format der »Gruppe« wollte man jedenfalls nicht lassen. So nahm die Welt dann auch nicht weiter Notiz davon, dass die Technokraten der weltweiten Finanzordnung fürderhin in etwas größerer Runde plauderten. Das änderte sich erst 2008: Die Instabilität des Finanzsystems hatte sich diesmal nicht in Lateinamerika, nicht in Asien, der Türkei oder Russland gezeigt, sondern zuhause, in den Zentren des globalen Kapitalismus, und zwar mit einer Wucht, die den Einbruch der »New Economy«-Aktienmärkte am Beginn des Jahrtausends bei Weitem übertraf. Feuerwehrpolitik war gefragt. Außerdem musste die Inszenierung der Lage angemessen sein. Die Welt sollte sehen, dass die staatlichen RepräsentantInnen den Laden trotz allem im Griff haben.

Dass der Kaiser aber nackt ist, zeigt eigentlich schon die Vorgeschichte. 1999 war nicht nur das Geburtsjahr der G20, sondern auch des Forums für Finanzstabilität (Financial Stability Forum, FSF). Das FSF war ebenfalls ein Kind der G7; es machte sich in den nächsten Jahren zur Aufgabe, Maßnahmen zur Sicherung der Märkte vorzuschlagen, die deren wesentliche Strukturen unangetastet ließen (so war beispielsweise das Schlagwort von erhöhter »Transparenz« wichtig, weil man so weiterhin propagieren konnte, dass Märkte zum allgemeinen Nutzen funktionieren, wenn nur alle Marktteilnehmer über möglichst umfangreiche Informationen verfügen – Panikreaktionen und irrationales Herdenverhalten wie in der Asienkrise sollten so ausgeschlossen werden). Die seither getroffenen Entscheidungen konnten die folgenden Krisen nicht verhindern. Stattdessen kam es noch dicker als gehabt.

Wohin nur mit dem ganzen Geld?

An dieser Stelle muss man sich vergegenwärtigen, welche Strukturen der globalen Wirtschaft es sind, die immer wieder aufs Neue auf den Zusammenbruch zusteuern. Industrielle Produktion und Güterhandel sind erfolgreich globalisiert; die Gründung der Welthandelsorganisation WTO, unzählige bi- und multilaterale Freihandelsabkommen sowie die Einrichtung von »Exportproduktionszonen« haben den Standortwettbewerb um die günstigsten Produktionsbedingungen enorm verschärft und überall zur Schwächung der ArbeiterInnenklasse beigetragen. Gleichwohl bleiben die Profitmöglichkeiten im produzierenden Gewerbe begrenzt; unvorstellbare Summen überschüssigen Kapitals werden nicht in Produktionskapazitäten investiert, sondern auf den Finanzmärkten angelegt.

Das atemberaubende Wachstum der Finanzmärkte wiederum war so nur möglich, weil sie von früheren Beschränkungen befreit wurden. Erst seit 1973 gilt für die verschiedenen Währungen ein System frei schwankender Wechselkurse, nachdem das Bretton Woods-System fester Kurse aufgelöst worden war. Währungsspekulation ist seither überhaupt erst möglich. Mit dem Siegeszug neoliberaler Marktgläubigkeit wurden zusätzlich staatliche Kapitalverkehrskontrollen abgeschafft – neben neuen Informationstechnologien eine weitere Voraussetzung für ein Finanzsystem, in dem virtuelles Geld ungehindert blitzschnell um den Globus wandern kann.

Aber auch die großen institutionellen Anleger, die Banken, Fonds und Versicherungen, brauchen irgendwelche Möglichkeiten, ihr Geld renditeträchtig anzulegen. Private Equity-Fonds trimmen alle erdenklichen Unternehmen auf noch höhere Effizienz, Immobiliengesellschaften treiben die Mieten in Innenstädten in die Höhe, Privatisierung sozialer Infrastruktur schafft ein Geschäftsfeld, wo vorher staatliche Bürokratie über das Gemeinwohl wachen sollte... Der Verwertungsdruck ist überall spürbar, die großen Vermögen wachsen kontinuierlich, und trotzdem läuft auch aus Sicht des Kapitals keineswegs alles wie geschmiert – wie sonst ist beispielsweise zu erklären, dass der deutsche Staat derzeit keine Schwierigkeiten hat, Anleger zu finden, die bereit sind, ihm ihr Geld trotz Negativzinsen anzuvertrauen? Auch der Streit um die von Staat und Versicherungswirtschaft ausbaldowerte »Infrastrukturgesellschaft«, die in Zukunft die deutschen Autobahnen in Form von »Öffentlich-Privaten Partnerschaften« verwalten könnte, ist vor dem Hintergrund der andauernden Verwertungsprobleme des Finanzkapitals zu sehen.

Was kann G20?

Was nun kann ein Verein wie die G20 tun, um hier Linderung zu schaffen? Theoretisch denkbar wären zum Beispiel unter den Zentralbanken abgestimmte Absenkungen der Leitzinsen, um weltweit Impulse für die Verbilligung von Krediten und somit für erhöhte Investitionsbereitschaft zu setzen. Praktisch ist dieses Pulver längst verschossen – auch ohne Abstimmung im Rahmen der G20 haben einige der wichtigsten Zentralbanken der Welt ihre Zinssätze in den letzten Jahren auf Tiefstände abgesenkt, ohne dass damit eine grundsätzliche Trendwende eingeleitet worden wäre.

Auch in der politologischen Begleitforschung herrscht hinsichtlich der Handlungsfähigkeit der G20 Ernüchterung. Als größte Leistung wird dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs angerechnet, in der zugespitzten Lage 2008/09 einen »Rückfall« in die Abschottung der Märkte vermieden zu haben. Weder konnte aber die Freihandelsagenda weiter vorangebracht werden, noch konnte man sich auf eine ernstzunehmende Neuordnung des globalen Finanzwesens verständigen. Ein Autor der Stiftung Wissenschaft und Politik spricht vom »Dilemma asymmetrischer Souveränität«: »Die heutige strukturelle Krise globaler Regulierungsansätze ist nicht zuletzt eine Folge asymmetrischer Souveränität in der Finanzpolitik: Staaten haben nur marginalen Einfluss auf die internationalen Finanzmärkte, haften aber in Krisen.« (Dieter 2013).

Nachdem das Kerngeschäft sich zusehends unfruchtbar gestaltete, setzte in den letzten Jahren ein Trend zur Ausweitung der Gipfelagenda ein. Die eingangs aufgelisteten Ministertreffen zeigen es bereits: Die G20 sieht sich für allerlei Themen zuständig, die als globale erscheinen. Zu den Schwerpunkten der deutschen Präsidentschaft zählen daher auch Themen wie »Globale Gesundheit«, »Digitalisierung«, »Stärkung von Frauen«, »Partnerschaft mit Afrika« und »Bekämpfung von Fluchtursachen«.

Wie sich die beiden letztgenannten Punkte vor dem Hintergrund der Überakkumulation auf den Finanzmärkten zu einer möglichen G20-Initiative verdichten lassen, macht ein Papier des Arbeitskreises junger Außenpolitiker der Konrad-Adenauer-Stiftung deutlich: Angeregt wird dort eine »globale Infrastrukturinitiative«. Nicht nur sei die Infrastruktur in den Industrienationen erneuerungsbedürftig. »Gerade in afrikanischen Entwicklungs- und Schwellenländern gibt es oft keine Eisenbahnnetze und nur unzureichende Straßen und Autobahnverbindungen. Ähnliches gilt für die Strom- und Wasserversorgung. Auch verlangt der Ausbau erneuerbarer Energieträger in allen Ländern nach neuen Transmissionstrassen, um das bestehende Stromnetz zu erweitern. In Entwicklungs- und Schwellenländern existieren ausreichend belastbare Stromnetze zum Teil noch gar nicht. (...) Deutschland hat als stark exportorientierte Wirtschaftsmacht großes Interesse an der Ausweitung seiner Absatzmärkte und an der Beseitigung von Wachstumshürden, allen voran der fehlenden Infrastruktur.« (Konrad-Adenauer-Stiftung 2016: 6)

PPP, Made in Germany

Gut für Deutschland, gut für »Afrika«. Bleibt die Frage, wer das machen und bezahlen soll. Zu möglichen Machern wird zumindest angedeutet, dass Unternehmen aus den Industrienationen nicht ganz unbedeutend wären – die Initiative berücksichtige »auch den technologischen Vorsprung im Bereich erneuerbarer Energien, der für den deutschen Export bedeutend ist«. (Konrad-Adenauer-Stiftung 2016: 1) Auch die Bezahlung stellt sich erstmal nicht weiter schwierig da: Es gibt ja – siehe oben – ausreichend investitionswillige Verwalter großer Finanzvermögen, die bei realistischen Gewinnerwartungen und begrenztem Risiko sicher gerne zur Beteiligung bereit wären. Es scheint, als mache sich der Adenauer-Nachwuchs daran, die noch unverwirklichte deutsche »Infrastrukturgesellschaft« als Vorbild für die Welt anzupreisen: »Öffentlich-Private Partnerschaften« sollen die nötigen Mittel mobilisieren. Wie allerdings ein überzeugendes Modell aussehen könnte, dass private Anleger als hinreichend sicher und profitträchtig einstufen, dazu schweigt der Vorschlag sich aus.

So lässt sich eine solche Infrastrukturinitiative eigentlich nur als Vertiefung postkolonialer Ausbeutungs- und Abhängigkeitsstrukturen verstehen: Eine von einem oder mehreren (afrikanischen?) Staaten abgesicherte Gesellschaft nimmt Geld von Finanzinvestoren aus den Metropolen entgegen, beauftragt Industrieunternehmen des Nordens mit riesigen und entsprechend riskanten Bauprojekten und bedient aus den Betriebseinnahmen die Gewinnerwartungen der Investoren. Bleiben die Einnahmen aus, muss das entsprechende Geld eben anderweitig aufgebracht werden. Im ärgsten Fall würden die Kosten den lokalen Bevölkerungen aufgebürdet, während die Gewinne in die Metropolen abfließen. Die bisherigen Bilanzen von ÖPP-Projekten fallen jedenfalls für die jeweilige Staatskasse schlecht aus: In aller Regel kommen langfristige Investitionen deutlich günstiger, wenn keine gewinnorientierten Anleger beteiligt sind.

Vielleicht ist es also gar nicht zu beklagen, wenn vergleichsweise ambitionierte Vorhaben im Rahmen der G20 wenig Aussicht haben, sich durchzusetzen, weil die GipfelteilnehmerInnen kaum zu kooperativen Gesprächen in der Lage sind. Für die Proteste, die den Gipfel begleiten werden, ist es wenig zielführend, die Staats- und Regierungschefs zum »Handeln« aufzufordern. Dass, was nötig wäre, wird in dieser Gruppe ohnehin nicht stattfinden – nämlich die Entwicklung von Strategien zur Demokratisierung des immensen Reichtums der Menschheit, um Elend abzubauen und Abhängigkeiten zu beseitigen.

Quellen:

Informationen der Bundesregierung: www.g20.org

Dieter, Heribert (2013): Die G20 und das Dilemma asymmetrischer Souveränität. Multilaterale Ansätze versagen bei der Krisenprävention. SWP-Aktuell 53. www.swp-berlin.org.

Konrad-Adenauer-Stiftung 2016: Deutschlands Präsidentschaft in der G20. Initiativen in der Entwicklungszusammenarbeit. Siehe www.kas.de/jungeaussenpolitiker

Dieser Beitrag ist zuerst in express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 1-2, 2017 erschienen.

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