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Rechtsruck in der Ukraine? Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit in einer schwierigen Gegenwart

Lara Schultz

In der Ostukraine tobt seit April 2014, allen Waffenstillstandsabkommen zum Trotz, ein erbitterter Krieg. Nach Angaben der Vereinten Nationen vom Dezember 2016 sind bislang mindestens 10 000 Menschen getötet worden, ein Fünftel davon Zivilist*innen. Mindestens doppelt so viele wurden verwundet, teilweise schwer. Die Caritas berichtet von 1,7 Millionen ukrainischen Binnenflüchtlingen aus den Kriegsgebieten. Offiziell spricht niemand von einem Krieg. Russland bestreitet eine Unterstützung der je nachdem »Seperatist*innen«, »Rebell*innen« oder »Freiheitskämpfer*innen« genannten pro-russischen Soldat*innen. Und die Ukraine führt im offiziellen Duktus eine Antiterroroperation (ATO) durch in den Gebieten um Donec‘k und Luhans‘k, die ATO-Zone genannt werden.

Unterschiedlichen Ansätzen und Theorien zufolge haben wahlweise der Westen, die EU, Putin, die NATO oder die USA seit den Protesten auf dem Majdan seit Ende 2013 einen Keil in die ukrainische Gesellschaft getrieben und einen Krieg angezettelt. Hier wird jedoch übersehen, dass die Bevölkerung sich längst an der Frage gespalten hat, ob die Ukraine jetzt eigentlich Opfer des Stalinismus oder Sieger über den deutschen Faschismus ist beziehungsweise ob der »Unabhängigkeitskämpfer« Stepan Bandera als Volksheld oder als Nazikollaborateur zu gelten hat. Der eklatante Mangel an Informationen darüber, wer seit Januar 2014 für verschiedene Kampfhandlungen inklusive Todesschüsse auf dem Majdan verantwortlich ist, wer den Befehl zum Abschuss der Malaysia Airlines Maschine MH 17 gegeben hat, wie die Kämpfe um das Gewerkschaftshaus in Odessa blutig eskalieren konnten und wer in der Ostukraine eigentlich gegen wen kämpft, führt zu an Verschwörungstheorien grenzenden Überzeugungen und einseitigen Schuldzuweisungen, bringt aber auch Menschen mit ansonsten seriösen Forschungsansätzen zu kruden Ansichten und absurden Aussagen. Die derzeitigen kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine werden von einem Kampf um Meinungshoheit und Deutungshoheit flankiert. Und Deutungshoheit heißt hier insbesondere zu definieren, wer der Nazi ist. Dabei sind sich auch Nazis nicht einig, ob nun ihresgleichen auf dem Majdan war oder ob die Protestierenden auf dem Majdan nicht »zu gute Beziehungen zur amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft« pflegten.

Auf dem Majdan versammelte sich, darauf legten auch ukrainische Berichterstatter*innen großen Wert, ein Querschnitt der Bevölkerung. Das heißt natürlich: auch Nazis. Von Anfang an fehlte der Protestbewegung jedoch eine Abgrenzung und Distanzierung von der extremen Rechten. Eine enge Kooperation mit Neonazis wurde so normalisiert, mit der Folge, dass Nazis anschließend in wichtige politische Ämter kamen und eigene Bataillone aufstellten, um im Osten des Landes zu kämpfen. Dies zu äußern, so wurde der Autorin und anderen Journalist*innen vorgeworfen, sei Wasser auf die Mühlen Putins, der sowieso die gesamte Ukraine als »faschistisch« diffamiert. Nur deshalb nicht über die ukrainische extreme Rechte zu berichten, wie es im Februar 2014 in einem prominenten offenen Brief von Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen gefordert wurde, wäre dennoch falsch: Don’t shoot the messenger! Und schließlich: Wieso sollte eigentlich ausgerechnet die Ukraine eines der wenigen Länder sein, das derzeit keinen Rechtsruck erlebt?

Neben Disposition und Sozialpsychologie spielen späte Nationenbildung und das starke Abgrenzungsbedürfnis von allem Sowjetischen hierfür eine wichtige Rolle.

Dass der Westen ebenso wie Russland eigene Interessen auch in der Ukrainepolitik vertritt, soll damit nicht in Abrede gestellt werden, ebenso wenig wie eine Einflussnahme oder der Versuch von allen Seiten. Jedoch, sämtliches Geschehen durch äußeren Einfluss zu beschreiben, spricht den in der Ukraine lebenden Menschen ab, selbst politische Subjekte zu sein.

Pro-russisch vs. Pro-ukrainisch

Die Ukraine ist gespalten – das haben bereits vor Kriegsbeginn die jüngsten Anti-Regierungs-Proteste auf dem Majdan gezeigt, zuvor die Ukraine ohne Kučma-Bewegung und die Orangene Revolution. Geografisch-ideologisch verläuft diese Spaltung zwischen Ost und West, die beiden Pole werden entsprechend vereinfachend als pro-russisch und pro-ukrainisch (oder pro-europäisch beziehungsweise pro-westlich) beschrieben, wobei hiermit unter anderem Unterschiede in der Religionszugehörigkeit (katholisch versus orthodox), die hauptsächlich verwendete Sprache (Ukrainisch versus Russisch), unterschiedliche Einkommensverhältnisse (mit Ausnahme von Kiew ist das Einkommen im Osten höher als in der West- und Zentralukraine) und unterschiedliche Parteivorlieben zusammengefasst sind. Am deutlichsten zeigt sich die Spaltung aber in der Erinnerungskultur: Die Erinnerung an die im Nachhinein Holodomor genannte Hungersnot 1932/33 wird in der Zentralukraine, aber auch im Westen (wobei die Westukraine Anfang der 1930-er Jahre noch nicht unter Sowjetischer Einflusssphäre stand) stärker erinnert als im Osten, wo die Sowjetisierung vor allem mit Industrialisierung und Bildung in Verbindung gebracht wird. Auch die Präferenz, ob an die Rote Armee und den Sieg über Nazi-Deutschland gedacht wird oder ob die Sowjetisierung mit ihren fatalen Folgen im Mittelpunkt der Erinnerung steht, unterscheidet sich zwischen Ost und West.

Hinzu kommt, hierauf verweist Ludmila Lutz Auras, dass die Ukraine mit ihrer sehr heterogenen Bevölkerung auf eine äußerst komplexe Vergangenheit zurückblickt, ohne aber zugleich auf ein kontinuierliches Geschichtsbild im Sinne einer durchgehenden Einheit von Gesellschaft, Territorium, Staatswesen und Kultur zurückgreifen zu können. Die wechselvollen historischen Ereignisse zwischen Fremdherrschaften, Trennungen und Teilungen, Kriegen und Friedensschlüssen sowie die Einflüsse der verschiedenen Kulturen hinterließen vielfältige Spuren (Lutz Auras 2013: 205).

All dies wird im Folgenden noch zu erklären sein. An dieser Stelle bereits der Hinweis darauf, dass die Bezeichnungen pro-russisch und pro-ukrainisch eine vereinfachende Zusammenfassung von mehreren Items sind, zu denen unter anderem kulturelle Einflüsse, kirchliche Zugehörigkeit, der Grad an Bewahrung der ukrainischen Sprache als Familien- und Umgangssprache, das Niveau der industriellen Entwicklung sowie das Wahlverhalten gehören (ebd.).

Die Ukraine ist im postsowjetischen Raum nicht das einzige Beispiel für Separationsbestrebungen und Bürgerkrieg: Sie reiht sich ein in einige Beispiele von inzwischen eingefrorenen Konflikten wie Transnistrien in Moldawien, Abchasien und Südossetien in Georgien, Bergkarabach in Armenien und Aserbaidschan. In diesem Kontext ist auch der Ukrainekonflikt zu sehen, und die strukturellen Probleme müssen, bei aller berechtigten Kritik an der aggressiven Politik Russland, ebenfalls berücksichtigt werden.

Die Macht der Sprache

Bereits 1994 war der pro-russische Leonid Kučma gegen den Amtsinhaber Leonid Kravčuk mit dem Wahlversprechen angetreten, Russisch als zweite Staatssprache einzuführen. Tatsächlich aber setzte Kučma während seiner Präsidentschaft keine nennenswerten Akzente im Bereich der Sprachpolitik.

Die Sprachensituation in der Ukraine ist widersprüchlich: Auf der einen Seite sind die meisten Menschen zweisprachig – des Ukrainischen wie des Russischen auf muttersprachlichem Niveau mächtig – und es ist üblich, in Unterhaltungen beide Sprachen zu verwenden; auf der anderen Seite birgt der Status der offiziellen Sprachen einigen Sprengstoff.

Anfang März 2017 kündigte Präsident Petro Porošenko an, dem Parlament einen Gesetzentwurf für eine Quotenregelung auch für das Fernsehen vorzulegen. »Dank des verabschiedeten Gesetzes [die Quotenregelung für das ukrainische Radio – LS], haben wir bedeutende Ergebnisse in der Verbreitung ukrainischer Lieder und der ukrainischen Sprache im Radio erreicht. Ich möchte, dass bald die gleiche Regelung auch für Fernsehen gilt, hier ist die Anwesenheit von ukrainischer Sprache unannehmbar niedrig«, zitiert ihn die nationale Nachrichtenagentur Ukrinform.

Wenige Tage zuvor: Der Ukrainische Nationalrat für Hörfunk und Fernsehen verlangt vom lokalen Radiosender Hlas in Odessa eine Strafgebühr von 43 200 Hryvnja (knapp 1 500 Euro) für die Nichteinhaltung der Quote für die Staatssprache Ukrainisch. Der Anteil an ukrainischsprachigen Beiträgen und Lieder betrage statt der gesetzlich geforderten 50 Prozent nur 30 Prozent.

Russisch ist aufgrund der kulturellen und historischen Siedlungsgeschichte der Region bis heute die weitest verbreitete Sprache der Stadt Odessa. Im offiziellen Zensus aus dem Jahr 2001 gaben 65 Prozent der Einwohner*innen Russisch als Muttersprache an. Unabhängige Studien haben jedoch deutlich höhere Anteile für das Russische ergeben, 2005 ermittelte eine Studie eines Kiewer Instituts, dass in der Oblast Odessa (Bezirk Odessa) etwa 85 Prozent der Bevölkerung russischsprachig seien. Eine Befragung des International Republican Institute ergab, dass in Odessa 78 Prozent der Einwohner*innen zuhause ausschließlich Russisch sprechen 15 weitere Prozent sowohl Russisch als auch Ukrainisch und lediglich sechs Prozent ausschließlich Ukrainisch.

Ausschließlich Ukrainisch ist seit der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1991 Amtssprache. Im Präsidentschaftswahlkampf 2009 hatte Viktor Janukovyč seinen überwiegend aus der Ost-und Südukraine stammenden Wähler*innen versprochen, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen. Durch ein von ihm unterzeichnetes Gesetz gilt Russisch seit 2012 in acht beziehungsweise neun Regionen des Landes (die neunte Region ist die Krim, die seitdem de facto von ukrainischem in russisches Staatsgebiet übergegangen ist) als regionale Amtssprache, darunter auch in Odessa (Gesetz über die Grundlagen der staatlichen Sprachpolitik, No. 5029-VI). Ukrainischen Nationalist*innen war das ein Dorn im Auge. Nach dem Majdan stimmte das Parlament als eine seiner ersten Handlungen für die Abschaffung dieser Reglung. Übergangspräsident Turčinov unterzeichnete das entsprechende Gesetz am Ende nicht, allein schon der Beschluss sorgte für viel Aufregung.

Umfragen zeigen für das Jahr 2012 einen Umschwung bei der Frage, ob der russischen Sprache ein offizieller Status verliehen werden soll – genau zu jedem Zeitpunkt, als russisch regionale Amtssprache wurde. Wobei hierbei angemerkt werden muss, dass sogenannte Einstellungsumfragen keine Einstellungen, sondern allenfalls Zustimmungsbereitschaften erfassen.

Die Angabe darüber, welche Sprache hauptsächlich zu Hause gesprochen wird, änderte sich 2013, als beide Sprachen gleich viel gesprochen wurden, also noch vor Beginn der Proteste auf dem Majdan, um sich 2014 in einer großen Schere zu entfernen. 2014 wurde dann den Angaben zufolge in der Ukraine so viel Ukrainisch gesprochen wie nie zuvor, und so wenig Russisch, wie seit 1992 nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich ein einem nahezu komplett zweisprachigen Land hier vor allem um ein Lippenbekenntnis handeln könnte, welcher Sprache (und damit vor allem auch: welcher Politik und welchem historischen Narrativ) man sich denn verbundener fühlen möchte.

Das Gesetz von 2012 ebenso wie die Sprachenpolitik waren offiziell nie pro oder contra Russisch. Russisch wurde vielmehr eine von 18 Minderheitensprache neben unter anderem Gagausisch, Karaimisch und Ruthenisch (sowie an bekannteren Sprachen Jiddisch, Deutsch, Ungarisch), die unter bestimmten Voraussetzungen als regionale Amtssprache anerkannt werden können. Ein Hauptargument für den von Vertreter*innen der Partei der Regionen eingebrachten Gesetzesentwurf war die Anpassung der ukrainischen Gesetzgebung an die bereits 2006 in der Ukraine in Kraft getretene Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen, auch wenn das Russische keine »allmählich zu verschwinden drohende [...] Regional- oder Minderheitensprache« gemäß der Präambel der Charta ist. Die eigentliche Zielsetzung der »pro-russischen« Partei der Regionen war die Aufwertung des Russischen. So endete dann auch der erste Versuch einer Abstimmung im Parlament im Mai 2012 in einer Schlägerei zwischen Abgeordneten der (»pro-russischen«) Partei der Regionen und oppositionellen Abgeordneten der (»pro-ukrainischen«) Vaterlandspartei (Batkivščyna) Julija Tymošenkos sowie den Resten der Fraktion Unsere Ukraine – Nationale Selbstverteidigung (Naša Ukrajina – Narodna Samoobrona).

Nation Building

Die Ukraine hatte mit ihrem Territorium von 1991 niemals – anders als beispielsweise die baltischen Staaten – als eigenständiger Staat existiert. Einzelne Gebiete Osten (Luhans‘k), Westen (Galizien) und Süden (Krim) erhielt die Ukraine erst in den 1920er, 1939 bzw. 1954 als Staatsgebiet. Das Gebiet des heutigen ukrainischen Staates bzw. seiner Teilregionen war im Laufe der Geschichte Bestandteil von mindestens 14 verschiedenen Staaten; die wichtigsten unter ihnen waren das Königreich Polen-Litauen, das Russische Reich, die Habsburgermonarchie und die Sowjetunion. Zwischen ihnen war die Ukraine ein Schlachtfeld. Der kurzlebige Ukrainische Staat, dessen Entstehung auf dem Vertrag von Brest-Litovsk 1918 beruhte (dem separat geschlossenen Brotfrieden, nicht dem Friedensvertrag), zerbrach vor allem an den gewalttätigen Auseinandersetzungen der unterschiedlichen nationalistischen Fraktionen.

Der Südosten der heutigen Ukraine wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschlossen. Auf der Basis der reichen Steinkohlevorkommen des Donbass wurde hier Zeit eine Schwerindustrie aufgebaut, die zum wichtigsten Motor der Industrialisierung Russlands wurde, vor allem in den Städten Donets’k (damals Stalino), Charkiv und Dnipro (ehemals Ekaterinoslav, zwischenzeitlich Dnipropetrovs’k). Im Zuge der Industrialisierung zog es zahlreiche russische Arbeiter*innen in die Ostukraine. Im administrativen Zentrum Kiew hingegen konzentrierten sich Verwaltung und Handel. Ebenso wie die östliche erlebte die südliche Ukraine im 19. Jahrhundert eine Urbanisierung und Modernisierung, die sich jedoch weitgehen ohne Ukrainer*innen vollzog, die überwiegend arme Bäuerinnen und Bauern blieben, die meisten Analphabet*innen: 68 Prozent der Männer und 95 Prozent der Frauen konnten weder lesen noch schreiben.

In allen großen Städten stellten Russ*innen die Bevölkerungsmehrheit, während der Anteil an Ukrainer*innen gering war: 26 Prozent in Charkiv, 22 in Kiew und neun Prozent in Odessa, die ergab die Volkszählung von 1897. Einen bedeutenden Anteil an der Stadtbevölkerung stellten auch Jüdinnen und Juden.

Die ersten Vertreter*innen der ukrainischen Nationalbewegung, die sogenannten nationalen Erwecker*innen, sammelten Ende des 18./Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem Volksliteratur und historische Quellen und starteten Versuche, eine ukrainische Hochsprache zu schaffen. Die zweite Phase der Nationalbewegung begann Mitte der 1840er-Jahre, als eine kleine Gruppe von Intellektuellen erstmals auch politische Ziele zu formulierte. In den frühen 1860er-Jahren formierten sich erneut kleine Zirkel, die in Ukrainisch publizierten und ukrainischsprachige Sonntagsschulen einrichteten. Die Regierung reagierte mit Verboten. Infolge der Repressionen, die die ukrainische Nationsbildung in Russland behinderten, verschob sich der Schwerpunkt der Nationalbewegung ins österreichische Galizien. Unter den dort günstigeren Rahmenbedingungen bildeten nationale Aktivist*innen Vereine und politische Parteien. Die Liberalisierung im Gefolge der Revolution von 1905 erlaubte die Gründung von politischen Parteien und Vereinen nach dem Vorbild Galiziens und von Zeitschriften in ukrainischer Sprache auch in anderen Teilen Russlands.

Michajlo Hruševskij (1866-1934), ukrainischer Historiker, Politiker und führender Kopf der Nationalbewegung um die Jahrhundertwende, schildert in seinem historischen Abriss Die ukrainische Frage in historischer Entwicklung eher einen Nationalmythos als eine Nationalgeschichte:

»Es hat einst Zeiten gegeben, wo die Ukraina und ihr Volk in Europa besser bekannt waren (17. und 18. Jahrhundert). Als aber später das ukrainische Volk von der Weltbühne verschwand und seiner höheren Schichten beinahe gänzlich beraubt in politischer, kultureller und sozialer Sklaverei, in der finsteren Leibeigenschaft sein kümmerliches Dasein fristete, geriet sein früher so berühmter Name immer mehr in Vergessenheit, bis es zuletzt unter dem falschen, ihm von den Russen aufgedrängten Namen der ‚Kleinrussen‘ bloss für eine Abart des russischen Volkes zu gelten begann. [...] Jetzt, wo der Weltkrieg jedermann zwang, sich die osteuropäischen Verhältnisse näher anzuschauen, kommen den breiten Kreisen der europäischen Oeffentlichkeit die nationalen Verhältnisse im Zarenreich immer mehr zum Bewusstsein und gleichzeitig taucht aus dem Nebel des allrussischen Konglomerates die eigenartige Individualität unseres Volkes auf. Inwiefern sie tatsächlich eigenartig ist, zeigt eben die Skizze des Professors Hruschewskyj. Aus derselben ersieht der Leser,dass das ukrainische Volk ganz selbständig ist, eine tausendjährige Geschichte und selbständige nationale Ueberlieferung besitzt und dass es infolgedessen mit dem russischen Volke weder verwechselt noch identifiziert werden darf. Die Leser ersehen ferner, dass unser Volk niemals auf seine Selbständigkeit verzichtete und in dieser oder jener Form stets eine Selbstbestimmung anstrebte. [...] Das Gesetzmässige und Natürliche dieser Bestrebungen der Ukraina wird nach der Lektüre der objektiv geschriebenen Skizze des Professors Hruschewskyj sogar jedem Skeptiker einleuchten. Die Leser ersehen aus ihr mit überzeugender Klarheit, dass die ukrainische Bewegung kein Geistesprodukt eines Haufens von Phantasten, sondern eine reale, auf geschichtlichen Grundlagen fundierte Wirklichkeit ist.« (Hruschewskyj 1915: 3f.)

Nationalmythos und Erinnerungskultur

Vereinfachend dominiert im Osten das sowjetische Narrativ, welches den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg als zentrales identitätsstiftendes Geschichtsereignis und Heldenerzählung betrachtet, im Westen das der Opfererzählung, der Hungersnot und der nicht erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegung.

Holodomor

Dürre, Missernten und stalinistische Kollektivierung mit Zwangsabgaben von Getreide führten in der UdSSR gerade in den Jahren 1932/33 zu Hungersnöten. Die Ukraine war dabei in besonderem Maße betroffen, da die Regierung die ukrainischen Grenzen für die Ausreise geschlossen hatte. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute unbekannt, Schätzungen gehen bis zu sieben Millionen, wobei hier der Geburtenverlust einberechnet und ein Vergleich mit sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden intendiert sein dürfte. Eine realistische Zahl dürfte die von 2,5 bis 3,5 Mio. Opfern sein, immer noch eine außerordentlich hohe Zahl. Im sowjetischen Sprachgebrauch handelte es sich bei der Kollektivierung unter anderem um eine Maßnahme zur Liquidierung der Kulaken. Die genauen Umstände und Deutungen sind bis heute Gegenstand von Debatten: War die Hungerkatastrophe Absicht oder Konsequenz der skrupellosen Politik? Wenn die Kollektivierung gegen eine Klasse oder soziale Schicht gerichtet war, war es die Hungerpolitik dann ebenfalls? Dann könnte die Hungerkatastrophe als Soziozid per Definition der UNO kein Genozid sein, auch wenn das ukrainische Parlament (aber auch einige andere Länder) den Holodomor als Genozid ansehen. Die Frage, ob der Holodomor ein Genozid war, ist ein zentraler Punkt im inoffiziellen russisch-ukrainischen Historikerstreit.

In der Westukraine, die bis 1939 nicht zur sowjetischen Einflusssphäre gehörte, wurde der Holodomor ab 1991 ein Gründungsmythos der Ukraine. Dort wurde die Nation als Vereinigung von Opfern, nicht von Siegern gesehen. Die Erinnerungen an den Holodomor überlagert im Westen und der Zentralukraine das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs. Die semantische Ähnlichkeit zwischen Holocaust und Holodomor (Holod-omor, Hungerssterben) ist zwar zufällig, die Verwendung des Wortes sicher nicht.

Auf dem zentralen Platz des Lyčakivs’kyj Friedhofes in L’viv (Westukraine) stehen meterhohe weiße Kreuze, die, durch Jahreszahlen kenntlich gemacht, an die Opfer des Holodomor erinnern, neben einem Gedenkstein für die ukrainische Armee (inklusive der 14. Waffen-Grenadier-Division, also der SS-Division Galizien), daneben Gräber von nach dem Krieg verstorbenen Mitgliedern der OUN-UPA. Aber auch frisch angelegte und reich mit Plastikblumen geschmückte Gräber sind zu sehen – hier sind diejenigen bestattet, die im Osten des Landes gefallen sind, in der »Antiterroroperation«.

Seit 2008 befindet sich das Nationalmuseum für die Erinnerung an die Opfer des Holodomor in Kiew im Park des Ewigen Ruhmes, einem Park in sowjetischem Stil mit Ehrenobelisk und Ewiger Flamme für den Unbekannten Soldaten des Großen Vaterländischen Krieges.

Bandera – OUN – UPA

Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (Orhanizacija ukraïnsʹkich nacionalistiv, OUN) wurde 1929 in Wien von Vertreter*innen nationalistischer Gruppierungen und (para-) militärischer Formationen gegründet, darunter das Bündnis der ukrainischen Faschisten und die Ukrainische Militärorganisation. Im Gründungsdokument wurde festgelegt, dass »alle Okkupanten vollständig von der ukrainischen Erde« (Bruder 2007: 33) zu beseitigen seien, ebenso wurden hier bereits Feinde des eigenen Feindes als potenzielle Bündnispartner gesehen. Auch wurde ein Absolutheitsanspruch formuliert: »Im Sinne dieser Prinzipien wird die OUN allen Parteien und klassenvertretenden Gruppen entgegenwirken« (ebd.). Bis zu seiner Ermordung durch das NKVD 1938 war Jevhen Konovalec‘ Chef der OUN, danach übernahm Andrij Melnyk dieses Amt. Aufgrund von Differenzen spaltete sich die OUN 1940 in die beiden Flügel OUN-M (für Mel‘nyk) und OUN-B (für Stepan Bandera). Die OUN-B unter Bandera war eine faschistische Terrororganisation, die einen ukrainischen faschistischen Staat nach Vorbild Mussolini-Italiens gründen wollte. Die Selbstbezeichnung war Natiokraten, aber »im Prinzip nannten sich die ukrainischen Nationalisten nur deshalb nicht Faschisten, weil sie die ›Originalität‹ des ukrainischen Nationalismus betonen wollten« (ebd.: 35). Die OUN bzw. deren 1943 gegründeter Arm Ukrainische Aufständische Armee (Ukrajins‘ka Povstans‘ka Armija, UPA) waren seit Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion bis 1944 an der Ermordung zehntausender Jüdinnen und Juden, Pol*innen und Russ*innen beteiligt. Im Juni 1941 proklamierte Bandera nach dem Einmarsch der Wehrmacht die ukrainische Unabhängigkeit. Wegen dieser Unabhängigkeitserklärung deportierten die Deutschen Bandera ins KZ Sachsenhausen, entließen ihn aber 1944 wieder. Seine Zeit als Ehrenhäftling in Sachsenhausen scheint ihn wie die gesamte OUN-UPA vom Vorwurf des Faschismus freizusprechen.

Die wichtigsten ideologischen Eckpunkte der OUN schreibt OUN-Ideologe Mykola Ščibors’kyj in seinem Text Naciokratija (1935) und schließt vor Kriegsbeginn 1941 mit einem Staatsentwurf daran an: »Die Ukraine ist ein souveräner, autoritärer, totalitärer, durch die Berufe gegliederter Staat [...]«. Zur Naciokratija gehört für ihn die uneingeschränkte Macht des Staates, ein Diktator als Staatsoberhaupt mit sämtlicher Verfügungsgewalt. Insgesamt skizziert der Entwurf »einen totalitären Staat, der sich stark an Mussolinis faschistischem, korporativem Staatsmodell orientierte« (ebd.: 122).

Jaroslav Stec’ko, Vize der OUN-B, ließ in seiner autobiografischen Schrift von 1941 keinen Zweifel am eliminatorischen Antisemitismus der OUN:

»Moskau und die Juden sind die größten Feinde der Ukraine. Als Hauptfeind betrachte ich Moskau, welches die Ukraine mit Gewalt in Unfreiheit gehalten hat, nicht weniger beurteile ich die Juden als ein schädliches und feindliches Schicksal, die Moskau helfen, die Ukraine zu verknechten. Daher beharre ich auf dem Standpunkt einer Vernichtung der Juden und der zweckdienlichen Einführung deutscher Methoden der Extermination der Juden in der Ukraine, ihre Assimilation ausschließend.« (Berkhoff / Carynnyk 1999: 162)

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat das Gedenken an den nationalistischen Anführer Bandera die Grenzen der Tätigkeitsorte Banderas überschritten, also jene Orte in der Westukraine, die mit Banderas Leben und seinen Aktivitäten in der Ukraine verbunden sind. Banderas Heroisierung und Mythisierung haben die Kontroversen um OUN und UPA überdeckt, jene beiden Organisationen, die mit seinem Namen verknüpft sind. 2010 verlieh Präsident Juščenko Bandera den Titel Held der Ukraine, der ihm noch im selben Jahr von Viktor Janukovyč wieder aberkannt wurde. 2013/2014 wurde Bandera zu einem Schlüsselsymbol der Proteste auf dem Majdan. Andre Liebich und Oksana Myshlovska beschreiben Bandera, der sich nach 1934 weitgehend oder sogar vollständig außerhalb der Ukraine aufgehalten hat, als »weniger eine historische Persönlichkeit aus Fleisch und Blut als vielmehr ein Symbol, wobei die fehlende persönliche Bekanntschaft mit ihm zu seiner umso höheren Wertschätzung führt. Banderas Name wurde einer Generation junger Nationalisten zum Symbol des Befreiungskampfs [...]« (Liebich / Myshlovska 2014: 2).

Diese Wertschätzung wurde nun auch gesetzlich verankert: Mit dem Gesetz über die rechtliche Stellung und die ehrende Erinnerung an die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im zwanzigsten Jahrhundert, No. 314-VІІІ vom 9. April 2015 kann strafrechtlich belangt werden, wer Kritik an der wohlwollenden Einschätzung der OUN-UPA äußert. Kontroversen sind somit ausgeschlossen. Mit Verabschiedung des Gesetzes No. 314-VIII änderte sich in der breiten Öffentlichkeit auch die Wahrnehmung der OUN-UPA. Wie im Gesetz vorgesehen sehen nun deutlich mehr Ukrainer*innen die OUN-UPA als Unabhängigkeitskämpfer*innen, wie Umfragen zeigten.

Dekommunisierung und Lustration

Präsident Petro Porošenko erfüllte als eine zentrale Forderung der Demonstrierenden auf dem Majdan die Lustration, also die Entfernung von »politisch belasteten« Mitarbeiter*innen aus dem öffentlichen Dienst. Ein entsprechendes Gesetz unterzeichnete er noch 2014. Das Gesetz betrifft Beamte, die in der Regierungszeit unter Präsident Viktor Janukovič hohe Ämter innehatten, ebenso ehemalige Kommunist*innen – also alles, was russisch oder gar noch sowjetisch anmutet. Gleichzeitig läuft seit dem Regierungssturz 2014 ein Prozess der Dekommunisierung. Nachdem erst spontan kommunistische Denkmäler von Unbekannten gestürzt wurden, legalisierte das Parlament diesen Prozess im Mai 2015 mit dem Gesetz über die Verurteilung kommunistischer und nationalsozialistischer (nazistischer) totalitärer Regimes und das Verbot der Propaganda ihrer Symbole, No. 317-VIII. Das Gesetz sieht vor, dass zahlreiche Denkmäler abgebaut sowie Orte und Straßen mit den Namen von KP-Funktionären oder Bezeichnungen wie Sozialistische Revolution umbenannt werden müssen. Sowjetische Symbole, wie Hammer und Sichel, dürfen nicht mehr gezeigt werden. Abgebaut werden müssen nach dem Gesetz auch Denkmäler zum Gedenken an führende Wissenschaftler und Kulturschaffende, welche »das kommunistische Regime unterstützten«. Nach der Einschätzung des Ukrainischen Instituts zum nationalen Gedenken müssen 76 Städte und 795 Dörfer umbenannt werden. Zwei Gebietszentren sind ebenfalls betroffen. Die Stadt Dnipropetrovs‘k mit ihren 900 000 Einwohner*innen wurde Mitte Mai 2015 von der Verchovna Rada (ukrainisches Parlament) in Dnipro umbenannt.

Damit befindet sich die Ukraine auch erinnerungskulturell in der Phase einer Abkehr von Russland / der Sowjetunion. Das betrifft Gesetze wie das Lustrationsgesetz und die Dekommunisierung ebenso, wie in Stein zu meißeln, was bislang nur Usus war: 2014 wurde das einstige Nationalmuseum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Jahre 1941-1945 in Kiew umbenannt in Nationalmuseum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg. Damit ging auch eine durchaus umstrittene Verschiebung des Erinnerungszeitraumes von 1941-1945 auf 1939-1945 einher. Dies bedeutet vor allem die Einbeziehung des Molotov-Ribbentrops-Paktes inklusive des geheimen Zusatzprotokolls, womit erinnerungskulturell der Ukraine eine doppelte Opferrolle zuteilwurde. Solange die Ukraine zur UdSSR gehörte, fungierte der Große Vaterländische Krieg mit seinen exemplarischen Helden- sowie Opfertaten als Ausgangspunkt für die Schaffung patriotischer Symbole und kollektiver Gedenkmuster.

Rechtsruck

Dass Nazis und extreme Rechte, die sich auf dem Majdan profiliert hatten, später mit politischen Ämtern bedacht würden, war abzusehen. So war es dann auch im Kabinett Jacenjuk I: Der stellvertretende Ministerpräsident Oleksandr Sič, Verteidigungsminister Ihor Tenjuch, Umweltminister Andrij Mochnik und Landwirtschaftsminister Ihor Švajka hatten damals alle ein Svoboda-Parteibuch. Auch Generalstaatsanwalt Oleh Machnickij war Mitglied der Partei Svoboda. Bildungsminister Serhij Kvit wurden Sympathien für den Rechten Sektor nachgesagt. Dmytro Bulatov, Minister für Jugend und Sport, war Mitglied der neonazistischen Ukrainischen Selbstverteidigung UNA-UNSO, ebenso Tetjana Čornovol, damalige Vorsitzende der nationalen Anti-Korruptions-Kommission. Der damalige Chef des Rats für die nationale Sicherheit und Verteidigung, Andrij Parubij, war Mitbegründer der Svoboda-Vorgängerpartei, der Sozial-nationalen Partei der Ukraine. Und Dmytro Jaroš, ehemaliger Majdan-Kommandant, »Führer« der neonazistischen Organisationen Dreizack und Rechter Sektor, war Parubijs Stellvertreter im Rat. Dieser Erfolg von faschistischen Gruppen und eine derart hohe Regierungsbeteiligung von extremen Rechten war in europäischem Maßstab einmalig. Derzeit ist beispielsweise Andrij Parubij Parlamentspräsident und der ehemalige Kommandant des Azov-Bataillons Vadym Trojan ist Polizeichef in Kiew.

Dass Svoboda ebenso wie der Rechte Sektor bei den Parlamentswahlen im Oktober 2014 an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten, kann noch lange nicht als Indiz einer eingetretenen Demokratisierung gewertet werden. Wahlergebnisse sind eben nicht der einzige Indikator für rechte und extrem rechte Tendenzen innerhalb einer Gesellschaft. Und: Wer eine extrem rechte Kraft wählen wollte, musste nicht unbedingt bei der Svoboda ihr Kreuz machen. Zwei Sitze gingen an den Rechten Sektor, die Radikale Partei Oleh Ljaškos erlang 22 Mandate. Ljaško war Mitinitiator des neonazistischen Freiwilligencorps Azov. Sechs Sitze bekam Svoboda sowieso über Direktmandate. Andrij Parubij, kandidierte auf Listenplatz 4 der Jacenjuk-Partei Volksfront; Tetjana Čornovol, Listenplatz 2, kann bestenfalls als Neonazi-Aufhörerin, keinesfalls als -aussteigerin gesehen werden, weil wesentliche Elemente eines Ausstiegs fehlen wie nicht zuletzt der Bruch mit den ehemaligen Kamerad*innen. Beide wurden gewählt – über die politikwissenschaftlich meist als liberal-konservativ beschriebene Volksfront-Liste. Auch über den Block Petro Porošenko und die Selbstnominierten gingen Parlamentssitze an Mitglieder des Rechten Sektors.

Die Majdan-Revolution war unter anderem Ausdruck einer nationalen antirussischen Identität – der ukrainische Dreizack, Blumenkränze im Haar, reich bestickte Blusen und Hemden waren Symbole, die auch die Fernsehaufnahmen prägten. Dass sich Teile des Majdan positiv auf den je nach Sichtweise Freiheitskämpfer oder NS-Kollaborateur zu bezeichnenden Bandera beriefen, dass der OUN-Schlachtruf »Ruhm der Ukraine – den Helden Ruhm!« und die Beteiligung von organisierten Neonazis auf dem Majdan gängig waren, war Wasser auf die Mühlen Russlands, dessen Propaganda auf dem Majdan eine neue faschistische Junta sah oder eine direkte Parallele ziehen konnte zur historischen, mit Nazis kollaborierenden OUN. Auch die schwarz-rote Fahne der UPA war gehäuft auf dem Majdan zu sehen, neben den blau-gelben Fahnen der Ukraine und dem europäischen Sternenbanner. Doch auch ein anti-ukrainisches Symbol war schnell gefunden: Diese Funktion erfüllte das orange-schwarze St.-Georgs-Band, einst sowjetisches Symbol für den Sieg über den Faschismus, nun pro-russisches Symbol für den Kampf gegen ein vermeintlich faschistisch regiertes Land. Dass der Majdan komplett faschistisch gewesen sein soll, ist selbstverständlich nicht haltbar. Der Vorwurf an den Majdan, sich zu keinem Zeitpunkt von den Nazis zu distanziert zu haben, hat dennoch Bestand. Eine Zusammenarbeit wird so normalisiert. Und sie zeigt sich unter anderem daran, dass für jede Partei bekannte Neonazis auf vorderen Listenplätzen stehen ebenso wie in der nahezu alltäglichen Verwendung von Phrasen und Symbolen der OUN-UPA. Und schließlich stört sich dann auch niemand daran, wenn Kämpfer*innen des extrem rechten Corps Azov im Park der Heldenhaften Verteidigung Odessas durch die 411. Küstenbatterie öffentlich Wehrsportübungen durchführen.

Literatur

Berkhoff, Karel C. / Carynnyk, Marco (1999): The Organization of Ukrainian Nationalists and Its Attitude toward Germans and Jews. Iaroslav Stets’ko’s 1941 Zhyttiepys, in: Harvard Ukrainian Studies, Bd. 23, Nr. 3–4, S. 149–184.

Bruder, Franziska (2007): »Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben!« Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) 1929-1948. Berlin.

Hruschewskyj, Michael [Hruševskij, Michajlo] (1915): Die ukrainische Frage in historischer Entwicklung. Wien.

Liebich, Andre / Myshlovska, Oksana (2014): Stepan Banderas Nachleben wird gefeiert, in Ukraine-Analysen Nr. 140, S. 2-4, online unter http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen140.pdf (09.03.2017).

Lutz Auras, Ludmila (2013): Zwischen Stolz und Missbilligung, in: Bizeul, Yves (Hrsg.): Rekonstruktion des Nationalmythos? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich. Göttingen, S. 193-226.

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