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Mittlerer Osten: Mit Julia gegen Ussama

Die arabische Welt zwischen Dissidenz und Anpassung

Jörn Schulz

Immer wieder gab es in arabischen Ländern Aufstände gegen die herrschenden Zustände. Doch warum bleiben die autoritären Regime trotzdem so stabil? Warum können nicht wenigstens bürgerliche Freiheiten durchgesetzt werden, wenn schon die soziale Frage kaum auf der Tagesordnung steht? Und in welchen gesellschaftlichen Bereichen drückt sich Dissidenz noch am ehesten aus?

Vor allem ein Abschnitt des »Arab Human Development Report 2002« hatte es Hisham Youssef, dem Sprecher der Arabischen Liga, angetan. »Dieser Bericht sagt der ganzen Welt, dass Israel die grundlegende Ursache der niedrigen Entwicklungsraten in diesem Teil der Welt ist«, kommentierte er, nachdem das UNDP (United Nations Development Programme) im Juli vergangenen Jahres seine Erkenntnisse veröffentlicht hatte.

Tatsächlich kritisiert der Bericht »Israels illegale Besetzung arabischer Gebiete«. Er stellt aber auch fest, dass der Konflikt von arabischen Regierungen benutzt wird, um die Meinungsfreiheit einzuschränken, und sieht die wichtigsten Hindernisse für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik auf ganz anderen Gebieten. Zu wenig politische Freiheit, eine zu geringe Beteiligung der Frauen am wirtschaftlichen und politischen Leben und ein Rückstand in Bildung und Forschung seien verantwortlich für das Zurückbleiben im Vergleich zu anderen Regionen. »Wenn diese Defizite bestehen bleiben, wird die arabische Welt es nicht schaffen«, konstatierte Dr. Rima Khalaf, Direktor des UNDP-Büros für die arabischen Staaten.

Man muss »es«, den Anschluss an die kapitalistische Modernisierung, nicht für das höchste Ziel und die technokratisch-normative Forderung nach »Good Governance« nicht für die Zauberformel entwicklungspolitischen Erfolgs halten, wie es das UNDP tut. Die ausführlich dargestellten und statistisch belegten Ergebnisse verweisen jedoch auf Faktoren, die jede gesellschaftliche Veränderung behindern, und die nicht mit dem bequemen Verweis auf die Politik der USA und Israels erklärt werden können.

Kult der Authentizität

Bei den arabischen Regierungen stieß diese Botschaft auf taube Ohren. Es werde »keine unmittelbaren Reaktionen« der Arabischen Liga geben, erklärte Youssef. Und nicht wenige Kommentatoren sehen den Bericht als weiteren ideologischen Angriff auf die arabische Welt. Der palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said meinte in einem Artikel für Al-Ahram Weekly: »Diesem heute fast einstimmigen Chor wurde die Autorität des Human Development Reports der Vereinten Nationen hinzugefügt. (...) Die einzigen ‚guten’ Araber sind jene, die in den Medien erscheinen und die arabische Kultur und Gesellschaft vorbehaltlos verurteilen.«

Die Rettung sieht Said im Rückgriff auf die Vergangenheit: »Wir haben in unserer Tradition einen vollständigen Bestand an säkularen und religiösen Diskursen (...) Das ist vorhanden, aber keine Stimme, kein Individuum mit großen Visionen und moralischer Autorität ist jetzt in der Lage, daraus zu schöpfen«. Wenn Said die Schwäche der arabischen Staaten beklagt und angesichts der unterschiedlichen Behandlung Nordkoreas und des Irak durch die US-Regierung allein eine »erniedrigende Differenz zwischen Verachtung für die Araber und Respekt für Nordkorea« feststellt, hat er in einem Artikel fast alle Fehler der dominanten oppositionellen arabischen Kritik untergebracht.

Zweifellos gäbe es in der arabischen Tradition von den Sklavenaufständen des 9. Jahrhunderts gegen das Abbasidenkalifat bis zu den nordafrikanischen Brotaufständen der 1970er und 80er Jahre eine Reihe von Anknüpfungspunkten für radikale Kritik und soziale Revolte. Doch die Mehrheit der arabischen Oppositionellen bringt ihnen ebenso wenig Interesse entgegen wie der Jugendrevolte der vergangenen beiden Jahre in der algerischen Kabylei. Stattdessen wird die »Authentizität« um ihrer selbst willen gesucht, man hofft auf die Erlösung durch »große Männer«, betrachtet jede Kritik als Verschwörung gegen die arabische Welt und deren Bewohner als die Parias der Weltpolitik. Ungeachtet aller zur Schau getragenen Dissidenz arabischer Oppositioneller muss eine solche Haltung zum Schulterschluss mit den arabischen Oligarchien führen, die es im Zweifelsfall eben doch gegen angebliche Rekolonisierungspläne zu verteidigen gilt. Sie verhindert jede Solidarisierung mit Widerstandsbewegungen, die sich wie die irakische Opposition dem arabisch-nationalistischen Konsens verweigern, und übergeht die zwei Millionen Opfer des Bürgerkriegs im Sudan mit ignorantem Schweigen.

Wettbewerb durch Anschläge

Diese politische Linie hat bereits in den fünfziger und sechziger Jahren zur Marginalisierung und später nicht selten physischen Liquidierung der arabischen Linken geführt. Die kommunistischen Parteien verbündeten sich mit den nationalistischen Militärregimes und erkannten deren »arabischen Sozialismus« als »nichtkapitalistischen Entwicklungsweg« an. Durch die Absage an den Klassenkampf machten sie sich zu Claqueuren des Regimes, sie wurden politisch profillos und überflüssig. Als die Kommunisten ihre Schuldigkeit zur Legitimierung der neuen Herrschenden getan hatten, wurden sie kooptiert, eingesperrt oder hingerichtet.

Dass die kommunistischen Parteien der Linie der Sowjetunion folgten, die das Bündnis mit den arabischen Nationalisten suchte, war nicht der einzige Grund für diese verheerende Politik. Was der Soziologe Salim Tamari über die Verhältnisse in den palästinensischen Gebieten schreibt, prägte auch die Linke in anderen arabischen Ländern: »Hinter diesem Rückzug der arabischen und palästinensischen Linken steht eine lange Tradition, in der die sozialistischen Parteien immer die politische von der kulturellen und sozialen Sphäre getrennt haben. Zum Beispiel haben lange Zeit die drei größten sozialistischen Strömungen Palästinas (PCP, DFLP, PFLP) sich geweigert, das Personenstandsrecht anzugreifen (das keine Ziviltrauungen erlaubt). Sie fürchteten, damit die religiösen Gefühle der kleinen Leute zu verletzen. Stattdessen wurde eine extrem nationalistische und militaristische Rhetorik geduldet und sogar gefördert, weil man annahm, daß sie bei den Massen ankäme.« Heute beschränkt sich die Profilierung linksnationalistischer palästinensischer Organisationen auf den Wettbewerb mit Islamisten und Fatah um »street credibility« durch möglichst spektakuläre Anschläge.

Die arabischen Regimes verdanken ihre erschreckende Stabilität nicht zuletzt der Tatsache, dass es in den vergangenen Jahrzehnten keine politische Kraft gab, die den spontanen sozialen Protest und die kulturelle Dissidenz hätten organisieren können. An einer grundsätzlichen Bereitschaft der Bevölkerung, Widerstand zu leisten, mangelte es nicht. Was Amira El-Azhary Sonbol der ägyptischen Landbevölkerung zuschreibt, gilt im wesentlichen für die Unterschichten in der gesamten arabischen Welt: »Der Macht gehorcht man, man vertraut ihr nicht, man rebelliert, wenn ihre Forderungen und ihre Tyrannei zu exzessiv werden und greift sie an, wenn sie schwach erscheint.«

Mit der Politik der wirtschaftlichen Öffnung, die in den 70er und 80er Jahren in fast allen arabischen Staaten begann, wurde die Tyrannei zu exzessiv. Als der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat am 17. Januar 1977 eine Erhöhung des Brotpreises verkündete, protestierten noch am gleichen Tag Millionen Menschen. Streiks, Demonstrationen und Aufstände fanden in allen bedeutenden Städten des Landes statt. Sadat rief den Ausnahmezustand aus und setzte die Armee ein, nahm aber die Preiserhöhung zurück. Mit einer Reihe von Tricks gelang es der Regierung seitdem, den Brotpreis schrittweise zu erhöhen. Doch bis heute wird das wichtigste Grundnahrungsmittel mit zwei Milliarden ägyptischen Pfund subventioniert.

Weitere Aufstände gab es 1984 in Marokko und Tunesien, deren Herrscher ebenfalls die Armee einsetzten, sich aber auch kompromissbereit zeigten. Auch die Unruhen, die 1985 den Sturz des Nimeiri-Regimes im Sudan einleiteten, wurden durch Preiserhöhungen ausgelöst. All diese Aufstände waren in sozialer Hinsicht relativ erfolgreich, blieben aber politisch folgenlos. Nicht die Linke, sondern die islamistische Bewegung konnte die Folgen der wirtschaftlichen Öffnungspolitik nutzen.

Den ägyptischen Brotaufstand 1977 hatten Muslimbruderschaft und islamistische Studentenorganisationen in einer Solidaritätsadresse an Sadat als »kommunistische Verschwörung« verurteilt. Die schlichte Vertretung sozialer Interessen widersprach ihrem korporatistischem Gesellschaftsbild, das allen Klassen eine spezifische Rolle unter islamistischer Führung zuweist. Sie verstanden es jedoch, eine Lücke zu füllen, die der Staat und die neureiche Oligarchie hinterlassen hatten. Staatliche Sozialleistungen aus der Ära des »arabischen Sozialismus« wurden zurückgeschraubt, und die Gewinner der Öffnungspolitik sahen keinen Grund mehr, den traditionellen Verpflichtungen gegenüber den Armen nachzukommen. So konnten die Islamisten mit ihren Sozial- und Bildungseinrichtungen eine Klientel an sich binden und sich als alternative Elite empfehlen. Zudem nutzten sie die Öffnungspolitik und Sadats Friedensschluss mit Israel für eine ideologische Offensive, die die wachsende soziale Ungleichheit auf die Intrigen von Juden und »Kreuzfahrern« zurückführte.

Okkupierte Friedensdividende

Ohne den Januaraufstand wäre es möglicherweise nicht zum ersten arabisch-israelischen Friedensvertrag gekommen. Der 1978 abgeschlossene Vertrag war der einzige Ausweg aus der ökonomischen Krise. Er brachte Ägypten den Sinai mitsamt seinen Ölvorkommen sowie den ebenso lukrativen Suezkanal zurück und ermöglichte den Aufbau der Tourismusindustrie. Zudem belohnte die US-Regierung Sadat mit jährlichen Zahlungen von zwei Milliarden Dollar. Der Ausgleich mit Israel wurde anfangs überwiegend begrüßt. Erst als die versprochene Friedensdividende allein von den Klienten des Regimes kassiert wurde, wendete sich die Stimmung gegen Sadat.

Auch mögliche zukünftige Friedensdividenden dürften von der arabischen Oligarchie kassiert werden. Dass die Idee eines Ausgleichs mit Israel, der auch den Palästinensern und arabischen Nachbarstaaten schmerzliche Zugeständnisse abverlangen würde, in der Region derzeit nur wenige Anhänger hat, dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Bevölkerung im Hinblick auf die Friedensdividende weniger naiv urteilt als die UNDP-Bürokraten. Eben hier zeigt sich aber auch besonders deutlich das Versagen der Linken und der arabischen Opposition. Während Sadat, ein Antisemit, der die Juden als Lenker des weltweiten Finanzsystems sah, zumindest die sozialen Interessen seines Regimes klar erkannte, ereiferten sie sich über seinen »Verrat« und halten bis heute an den Projektionen fest, die Israel zur wichtigsten, wenn nicht einzigen Ursache des arabischen Elends erklären. Doch die islamische Herrschaft über Jerusalem macht noch niemanden satt, und Revolutionen werden nicht mit außenpolitischen Themen gewonnen.

Wohl nicht zufällig fand der einzige bedeutende soziale Aufstand der jüngeren Zeit fernab vom »Nahostkonflikt« statt. In der algerischen Kabylei erhoben sich im April 2001 überwiegend jugendliche Demonstranten gegen das autoritäre Militärregime, die soziale Misere und den islamistischen Terror. Obwohl die Aufständischen sich nicht dauerhaft gegen die konservativen Kräfte in der kabylischen Gesellschaft durchsetzen konnten, hat sich hier eine Widerstandkultur etabliert, die für die Reorganisierung der arabischen Linken beispielhaft sein könnte. Doch Puristen des Arabismus wie Said sind die berbersprachigen Rebellen womöglich nicht authentisch genug.

Der Kult der Authentizität verhindert bislang auch, dass eine zweite Strömung aufgegriffen wird, die zur Erneuerung der arabischen Linken beitragen könnte: die kulturelle Dissidenz.

Sie orientiert sich überwiegend an »westlichen« Werten und wird deshalb von vornherein als zersetzendes Element betrachtet. Doch es ist der viel gescholtene »Kulturimperialismus«, der die Menschen damit konfrontiert, dass es ein Leben jenseits von Moschee und Kaserne gibt. Über das Fernsehen erreicht diese Botschaft auch jene 65 Millionen Araber, die weder lesen noch schreiben können. Diese Konfrontation mit anderen Rollenmodellen kann zweifellos ein Faktor der Subversion sein – muss es aber nicht, denn westliche Medien werden in vielen arabischen Ländern schon seit Jahrzehnten konsumiert, ohne dass es nachteilige Folgen für die Regime gehabt hätte.

Unter anderem in Saudi-Arabien, der in kultureller Hinsicht restriktivsten arabischen Diktatur, zeigt sich jedoch, dass westliche Rollenmodelle die rigiden Moralvorschriften herausfordern können. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Jugendlichen. Sehr beliebt ist das »Cruising«, bei dem es den Fahrern vor allem darum geht, den streng verbotenen Kontakt zu fremden Frauen aufzunehmen. Gelingt dies nicht, versammeln sich die Jugendlichen auf öffentlichen Plätzen, die aber unweigerlich mit einem Schild »Nur für Familien« gekennzeichnet sind, was schnell die Ordnungskräfte auf den Plan ruft. Wo ein Rendezvous ein Verbrechen ist, wird jeder Flirt unweigerlich zum Aufbegehren gegen die herrschende Ordnung. Keineswegs alle Saudis streben danach, es Ussama bin Laden gleichzutun. »Saudische Teens sind gut informiert, wenn es um die neuesten Kinofilme geht«, erklärte jüngst ein Videoverleiher aus Jeddah gegenüber Arab News, »alles mit Julia Roberts geht weg wie warme Semmeln.«

Die Verhältnisse in anderen arabischen Staaten sind ähnlich. Die Stimmung ist keineswegs durchgängig antiwestlich. Die Umfrageergebnisse unterscheiden sich, aber regelmäßig geben mehr als die Hälfte der Interviewten an, dass sie emigrieren wollen. Nur wenige nennen andere arabische Staaten als Ziel, fast alle wollen in den Westen. Die meisten Araber warten sehnlicher auf die nächste Folge ihrer liebsten Soap Opera als auf die neueste antisemitische Predigt. Allerdings wird Antisemitismus nicht nur von Presse und Predigern verbreitet, er ist auch in die Alltagkultur eingedrungen, etwa durch die in mehreren arabischen Staaten ausgestrahlte Fernsehserie »Ein Ritter ohne Pferd«, die auf den »Protokollen der Weisen von Zion« basiert.

Papageien Washingtons?

So besteht die Gefahr, dass sich, gefördert von den Regierungen wie einem Teil der Opposition, eine reaktionäre Alltagskultur verfestigt, die gesellschaftlichen Konservatismus, Antisemitismus, Nationalismus, Militarismus und Männlichkeitswahn verbindet. Dies ist keine Folge der Bindung an die Religion, die in Lateinamerika nicht geringer sein dürfte, sondern der politischen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Den Regierungen gibt dieses Weltbild die bequeme Möglichkeit, nur »Israel!« rufen zu müssen, wenn von politischem Versagen abgelenkt oder »nationale Einheit« hergestellt werden soll. Der Bevölkerung bietet diese Ideologie den Vorteil, einen Schuldigen für ihr Elend verantwortlich machen zu können, ohne sich der gefährlichen Konfrontation mit der Staatsmacht stellen zu müssen.

Das Bewusstsein dafür, dass mit dieser Ideologie gebrochen werden muss, scheint langsam zu wachsen. Allerdings sind es derzeit überwiegend liberale Stimmen aus dem Exil, die dies öffentlich fordern und dann, wie der irakische Oppositionelle Kanan Makiya, schnell als Papageien Washingtons abqualifiziert werden. Zweifellos aber gibt es in den arabischen Gesellschaften ein großes Widerstandspotenzial. Die 68er-Bewegung und der »Wind of Change«, die Demokratisierungsbewegung, die in den neunziger Jahren Osteuropa, Asien und Afrika erfasste, sind an dieser Region fast spurlos vorübergegangen. Eine Verbindung von sozialer Revolte und kultureller Dissidenz könnte hier eine nachholende Entwicklung einleiten. Vielleicht entdeckt eine neue Generation der Linken dabei auch ein wichtiges, aber leider fast vergessenes Requisit der arabischen Tradition wieder. Die radikale Bauernbewegung Surch Alam, die im 8. Jahrhundert gegen das Abbasidenkalifat kämpfte, machte zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die rote Fahne zum Symbol der sozialen Revolte.

Jörn Schulz ist Redakteur der Wochenzeitung jungle world.

© links-netz Juli 2003