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Größere Armut, um Deutschland nach vorne zu bringen

Christa Sonnenfeld

„Mehr Ungleichheit wagen“ – so drängte im Dezember 2005 die Neue Zürcher Zeitung die deutsche Bundesregierung und begründete ihren Vorstoß damit, dass die sozialen Leistungen, und hier vor allem das Arbeitslosengeld II, zu hoch seien. Lösungsvorschläge liegen z.B. von Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut in München längst vor; ihn braucht man nicht drängen. Er habe, so lobt die Zeitung, „den entscheidenden Schritt gewagt und eine Senkung der Grundsicherung für Erwerbsfähige um ein Drittel“ vorgeschlagen. Wer arbeite, könne 20-30% des Einkommens behalten und damit auf das bisherige Niveau der „Grundsicherung“ kommen. Die Löhne könnten dann ebenfalls sinken. Diesem Vorschlag schließt sich auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an (NZZ, 17.12.05 und FAZ, 4.1.06). Was unter „Arbeit“ hier zu verstehen ist, hat Herr Sinn bereits in der Vergangenheit bekundet, nämlich kläglich bezahlte und erzwungene Tätigkeiten. Aber er will die Sache vorantreiben, weil ihm Arbeitslosengeld II plus 1-Euro-Job offenbar doch zu komfortabel sind. Diesen Unmut empfindet inzwischen auch Friedrich Merz; und plädiert für die Kürzung des Arbeitslosengeld II um ein Drittel (FAZ, 13.1.06).

Diese Stimmung gärt bereits seit geraumer Zeit. Man will sich mit der Regelung des Arbeitslosengelds II nicht zufrieden geben, obwohl es generell unter dem bisherigen Sozialhilfeniveau liegt, denn Kleidergeld, Einmalige Beihilfen, Wohngeld u.ä. gibt es für die BezieherInnen nicht mehr.

Armut löst vor diesem Hintergrund kaum Empörung aus. Mahnende Stellungnahmen gab es zwar bei der Veröffentlichung des letzten Armutsberichts, wonach 12% der bundesdeutschen Bevölkerung als arm zu gelten hat, aber man sieht zukünftig eine bedrohliche Situation, der gegenwärtige Stand ist tolerierbar. Nur: Die Zahlen dieses Berichts wurden lediglich bis zum Ende des Jahres 2004 erhoben, – die Auswirkungen des Arbeitslosengeldes II sind hier noch gar nicht eingeflossen. Man kann davon ausgehen, dass es zukünftig keinen Armutsbericht mehr geben wird, weil man damit nichts zu tun haben will. Die allgemeine Stimmung ist einfach zu gut dafür.

Wenn in verschiedenen Publikationen – zu Recht – auf diese bedrohliche Entwicklung hingewiesen wird, dann wird in der Regel ein wichtiger Umstand vernachlässigt:

Der Regelsatz im Arbeitslosengeld II ist nämlich gesetzlich mit dem Betrag von 345 Euro festgeschrieben. Dieser Umstand ist ein Novum, denn das Bundessozialhilfegesetz hatte zu keiner Zeit absolute Geldbeträge festgelegt; in unregelmäßigen Abständen wird von den Kommunen verhandelt, ob sie um Kleinstbeträge angehoben werden soll. Diese Festlegung hat Folgen: Inflationsrate, Preissteigerungen bei Gas, Strom, Benzin, bei Fahrkarten für Bussen und Bahnen u.a. müssen durch den Regelsatz finanziert werden. Ein Kaffee und eine Zeitung in der Woche (die uns im „Warenkorb“ zugestanden werden) sind damit nicht mehr finanzierbar, das Telefon war es zuvor schon nicht (zugestanden werden 17,85 Euro/Monat – nicht einmal die Grundgebühr). Und es ist nicht davon auszugehen, dass dieser fixierte Betrag jährlich angepasst werden könnte; zumindest wurde bislang kein Wort darüber verloren.

Der Regelsatz von 345 Euro ist deshalb nur noch Makulatur. Real steht den Arbeitslosengeld II-BezieherInnen schon jetzt weit weniger zum Leben zur Verfügung.

Es gibt keine sichtbare Aufregung darüber, deshalb darf es ruhig noch härter kommen.

Bei den Flüchtlingen läuft es doch auch

Eine unscheinbare, kleine Meldung im März vergangenen Jahres überraschte nur vordergründig, zeigte sich doch hier ein Umdenken in der Frage, welches Maß an Armut verkraftbar scheint und was es mit dem Solidarprinzip auf sich hat:

„Zum Leben in Deutschland reichen 245 Euro im Monat. Das hat das Sozialgericht Münster am 28. Februar entschieden (Aktenzeichen S 12 SO 14/05 ER). Geklagt hatte ein 59 Jahre alter Mann, der seit dem 1. Januar Arbeitslosengeld II (345 Euro plus Miete) bezieht. Der ehemalige Handelsvertreter hatte im vergangenen Jahr beim Sozialamt Münster die Kostenübernahme für eine Brille in Höhe von 100 Euro beantragt. Das Sozialgericht entschied nun, dass er diese Hilfe nicht nötig habe. Das Geld könne er von seinen monatlichen Einkünften aufbringen. Selbst dann stehe ihm noch ‚ein Restbetrag in Höhe von 245 Euro an Regelleistung zur Verfügung’. Nach Überzeugung des Gerichts ‚reicht dieser Betrag für die Deckung des ... Lebensunterhalts aus’.“

Der Richter hatte dabei selbstverständlich eine Bezugsgröße, – die Flüchtlinge:

„Ausländer müssten mit noch weniger Geld auskommen. Ihnen stünden nach Asylbewerberleistungsgesetz nur knapp 225 Euro zu. Auch damit sei ‚ein menschenwürdiges Leben möglich’“ (FAZ, 7.3.05).

Die Argumentation ist einfach: Die Menschenwürde wäre allenfalls verletzt, wenn es keine Leistungen mehr gibt. Allein die Tatsache, dass niemand ausgehungert wird, sichert Würde. Vor diesem Hintergrund ist der gesetzlich verankerte Regelsatz zum Lebensunterhalt entschieden zu hoch gegriffen, auch wenn er jetzige und zukünftige Steigerungen der Lebenshaltungskosten nicht abdeckt.

Daraus können wir zweierlei lernen: Es droht nicht die Abschaffung der Idee des Sozialstaats, vielmehr ist sie aus den Köpfen der Stimmungsmacher (und aus denen so mancher Untertanen) längst verschwunden. Zum anderen zeigt sich wieder einmal: Sie werden es solange treiben, bis ihnen Einhalt geboten wird.

© links-netz Januar 2006