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Die Radikalität der Biedermänner

Christa Sonnenfeld

Alles hat man schon bis zum Überdruß gehört: unter der Kohl-Regierung waren die Erwerbslosen "Schmarotzer", die faul in der Hängematte auf Bali liegen (Blüm), oder "Drückeberger", die unentwegt Mißbrauch betreiben, wobei Medien brav assistierten (FOCUS: "Das süße Leben der Sozialschmarotzer"). Die rot-grüne Bundesregierung wahrte von Anfang an Kontinuität mit dem Willen zur Eskalation: auch hier geht es wieder um "Drückeberger" (die Grünen), dann Schröder mit seiner Faulenzer-Polemik, schließlich Roland Koch von seiten der "Opposition" mit seinem gesunden Rechtsempfinden und jetzt Rudolph Scharping als Arbeitsmarktexperte. Auch jetzt laden verschiedene Medien wie z.B. der SPIEGEL nach, indem sie namenlose Experten von "hartnäckigen Arbeitsverweigerern" schwadronieren lassen. All dieses gegenwärtige Gerede ist längst vertraut und war immer vor allem die propagandistische Vorbereitung auf Gesetzesverschärfungen für LeistungsbezieherInnen, die den dezidierten Willen zu mehr Repression und mehr Arbeitszwang beinhalteten. Man will die Ungleichheit beschleunigen und man will vor allem eines: diejenigen, die als Erwerbslose soziale Sicherungssysteme in Anspruch nehmen, sollen irgendwie verschwinden. Damit meine ich jetzt nicht den Vorschlag eines Politikers, BSE-verdächtiges Rindfleisch an "sozial Schwache" abzugeben, sondern einfach, Rechtsansprüche an den verbliebenen Sozialstaat von vornherein abzuwehren oder zu Niedriglohnarbeiten zu zwingen. Die Unternehmen kommen ohne die Arbeit vieler aus, das zeigen die täglichen Meldungen über Massenentlassungen. So werden künstliche und zum Teil sinnlose Beschäftigungen geschaffen, die allesamt eine wichtige Funktion haben, nämlich Menschen unter Kontrolle zu behalten, denn Arbeit wird als Disziplinierungsinstrument gebraucht.

Durch die ununterbrochene Indoktrination werden beileibe nicht nur Stammtische bedient. Nach einer Umfrage von Allensbach vom März 2001 meinten 70% der Befragten: "Man sollte Arbeitslose zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten", und man kann auf genügend Intellektuelle stoßen, die bekunden, daß man als Leistungsbezieher selbstverständlich eine Gegenleistung erbringen müsse (so spricht Leggewie z.B. in diesem Zusammenhang vom "ermunternden Staat", der in Arbeit zwingen soll). Das Recht auf Hilfe zum Lebensunterhalt, die Vorgabe des Sozialgesetzbuch I, eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen, Grundrechte als Wert an sich, ohne Gegenleistung, anzuerkennen, - keine Rede mehr davon.

Nach dem Auftritt von Roland Koch, der offenbar ganz neu über ein Projekt erfahren hat, das im US-Staat Wisconsin seit 1996 läuft, zeigte sich bei der Bundesregierung allerdings ein tendenziell gespaltenes Bewußtsein: die Repression haben wir doch längst, wird verlautet, -just nachdem Schröder uns das Recht auf Faulheit absprach. Jetzt wird Koch von VertreterInnen der Regierung entgegengehalten, daß wir den Zwangsapparat schon längst zur Verfügung hätten; er reiche aus (Kerstin Müller, Grüne). Man erregt sich also nicht über den Umstand, daß der Zwang zu irgendeiner schlecht bezahlten Arbeit derart ausgeweitet wurde, sondern darüber, daß die hohe Repressionsbereitschaft der Bundesregierung nicht zur Kenntnis genommen wird. Allerdings scheint Koch in einer Forderung alle übertrumpft zu haben: er stellt die Wohnung von sog. Arbeitsunwilligen in Frage, ohne dies allerdings zu präzisieren: meint er die Einlieferung in Wohnheime oder Sammellager? Oder geht es darum, bei Verweigerung nicht nur den Regelsatz, sondern auch die Miete generell zu streichen (was in Einzelfällen jetzt schon geschieht)? Noch kann interpretiert werden.

Jetzt hat Rudolph Scharping, der sich bislang nicht als Arbeitsmarktexperte ausgewiesen hat, eine besondere Zielgruppe herausgegriffen, die auch Schröder in der Regierungserklärung im Blick hatte, nämlich die jungen Heranwachsenden. Ungeachtet dessen, daß auch für sie seit 1999 mit dem Jugendprogramm "Jump 2000" ein Zwangsapparat zur Verfügung steht, bei dem die jungen Leute in Trainingskurse, kurze ABMs oder irgendwelche Aushilfsarbeiten mit Löhnen z.T. unter das Existenzminimum gedrückt werden, wärmt er auf, endlich solle man sie zur Arbeit zwingen. Eine Innovation wäre das deshalb nicht - wie all die anderen Sprechblasen nicht - aber bei ihm hat es einen besonderen Hintergrund: Würde längerfristig die Wehrpflicht abgeschafft, dann entfiele auch der Zivildienst. Wer soll dann die vielen Arbeiten im sozialen Bereich durchführen, und das für ca. 700 DM im Monat? Ein echtes Dilemma, dem offenbar nur mit forciertem Druck auf junge Leute begegnet werden kann, da der Sozialstaat längerfristig auf das Niveau einer Armenfürsorge zurückgebildet werden soll. Mit der (zu begrüßenden) Abschaffung der Wehrpflicht steht eine weitere Ausweitung des Zwangs zur Arbeit an, ungeachtet dessen, ob jede/r Erwerbslose die Neigung zu sozialen Berufen hat und ungeachtet dessen, ob zu betreuende Personen damit einverstanden sind, daß ihnen irgendwer ans Bett gestellt wird.

Alle scheinen sich derzeit dabei übertrumpfen zu wollen, wer bei der Gestaltung eines autoritären Staates die Nase vorn hat. Eines aber eint sie: die Rudimente des Sozialstaat endlich abzuschaffen.

© links-netz August 2001