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Die Lust der Politiker: Morgens lesen, was man abends diktiert hat

Christa Sonnenfeld

Die herrschenden Medien schließen gegenwärtig hermetisch und offensiv die realen Verhältnisse aus. Nach einer kurzen Irritation über die sich entwickelnden Demonstrationen hat der überwiegende Teil eine beeindruckende Propagandamaschinerie angeworfen, um eben diese Realität geschwätzig und gegenüber der Regierung unterwürfig aus der Wahrnehmung zu eliminieren.

Es werden Sozialforscher oder Bewegungsexperten ausgewählt, die samt und sonders den Niedergang der Proteste prognostizieren; sie hätten ihren Zenit bereits jetzt überschritten. Man zeigt wieder verstärkt seine Verachtung: wer wegen eines Eigenheims Mobilität verweigert, wer auf seinen Interessen oder seiner Qualifikation beharrt, wer sich Lohnarbeit verweigert, ist moralisch verkommen. Viele der SchreiberInnen sind doch eigentlich selbst potentiell Betroffene, aber eine andere Kraft in ihnen ist stärker, nämlich der herrschenden Moral zu dienen, um noch einen Brosamen abzubekommen. Überhaupt ist jede schlechte Arbeit besser als keine, weil es zu Hause grauenvoll ist (Die Grünen). Der Zwang zu dieser schlechten Arbeit ist nur insoweit Thema, als er gebraucht wird, um den Faulen Beine zu machen.

Boshaftigkeit und Strafbedürfnis bestimmen die Rhetorik. Fast hysterisch wird immer wieder beschworen, dass die Erwerbslosen über Steuergelder finanziert würden. Dass die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes als Versicherungsleistung gekürzt wurde, obwohl man jahrelang einbezahlt hat, scheint o.k. Man gönnt anderen – mehr denn je – keine Existenzsicherung ohne Lohnarbeit, weil die Arbeitsbedingungen immer mehr Energien absorbieren und gleichwohl weniger Geld einbringen. Quer durch alle Parteien und nahezu sämtliche Interessengruppen gibt es ein Einvernehmen, dass es Menschen ohne Lohnarbeit nicht besonders gut gehen soll, und dies fordern selbst diejenigen, die durchaus zu den materiellen Gewinnern gehören; dennoch klagen sie Beschränkung und Verzicht ein. So plädierte selbst Oskar Negt, bei dessen politischer Biographie man dies nicht vermuten könnte, und von dem man das deshalb nicht erwartet hätte, kürzlich für ein „Minimaleinkommen“, das „gewiss nicht üppig ausfallen dürfte“ (FR, 30.07.04). Wie kommt ein relativ gut versorgter Mann dazu, anderen, die am Existenzminimum leben, das Geld knapp zuzumessen? Woraus wird dieses Strafbedürfnis gespeist? Gewiss zu einem Großteil aus der uns pausenlos suggerierten Formel, dass Lohnarbeit immer noch zentral unser Leben zu bestimmen hat – und wenn man nicht arbeitet, soll man eben nur ein bisschen essen. Aus dieser Moral erwachsen auch nahezu alle gegenwärtigen sogenannte Alternativkonzepte zu Hartz IV; ihre Autoren fühlen sich wahrscheinlich sozial gerecht.

Selbst die BILD-Zeitung, die in der Vergangenheit mächtig den Protest geschürt hatte, befand nach dem ersten geworfenen Ei, dass jetzt das Maß voll sei. Was ist passiert? Hat „Münte“ bei den Kamingesprächen den Journalisten gedroht? Wie ihm nachgesagt wird, müssen die ausgewählten Journalisten ins „medienpolitische Profil“ passen, sonst erhalten sie keine Informationen mehr. Das ergäbe Sinn.

Zentral ist – und das ist eigentlich nicht neu – die Orientierung nach „unten“, also die Orientierung an den Lebens- und Einkommensverhältnissen in Taiwan, China oder Namibia.

Eine 50-jährige Propaganda, die staatstragend durch die „großen“ Zeitungen und das Fernsehen betrieben wurde, hat im Westen Deutschlands viele stumpf gemacht, ein Gefühl der Ohnmacht paart sich mit reflexionsfreien Wiederholungen dessen, was man vernommen hat. Filme wie die von Michael Moore, die akribisch, und auf belebende Art polemisch, den Prozess der Meinungsmanipulation aufzeigen, wären bei uns nicht denkbar. Ein Heer von Wasserträgern (PR-Agenturen, Journalisten, willfährige Professoren, die als Krönung ihrer Laufbahn die Nähe zur Macht suchen) ist seit Jahren dabei, einem Großteil der Bevölkerung die Denkfähigkeit auszuhöhlen. Genau dieser Umstand könnte mit dazu beigetragen haben, dass es im Westen (bislang?) nur kleine Ansätze des Protestes gibt. Man hat sich zu lange davon einlullen lassen, dass man sich eben beschränken müsse, nicht zu maßlos sein darf, der Staat eben Sozialkosten einsparen müsse, die Lohnnebenkosten zu hoch seien etc.

Das könnte ein triftiger Grund sein, warum die Proteste sich so unterschiedlich in Ost und West artikulieren. Es herrscht eine allseitige Vernunft, die das autoritäre Prinzip im Verhältnis zum Staat gut heißt – und dies vor allem im Westen.

Der amerikanische Soziologe und Publizist Norman Birnbaum wundert sich über die Gutgläubigkeit vieler Deutscher bei der Reformdebatte, denn offenbar werde von ihnen nicht der Zusammenhang des neoliberalen Drucks auf das europäische Sozialstaatsmodell gesehen; um dieses zu kippen, werde viel Geld für PR ausgegeben.

Diese Strategie wird konkret, wenn wir uns erinnern: In Lissabon fand im März 2000 ein EU-Ministertreffen statt, bei dem beschlossen wurde, dass bis zum Jahr 2010 sich der Kontinent zum „wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ entwickeln soll.

Das ist einer der wesentlichen Grundlagen dessen, was wir derzeit erleben. Im Westen gibt es einen kontinuierlichen Gewöhnungsprozess, in dem die Wahrnehmung der Verhältnisse im herrschenden Sinne weitgehend gleichgeschaltet wurde.

Bei den Demonstrationen, die jetzt auch in Frankfurt stattfinden, fällt auf, dass man seinen Protest in Ost und West unterschiedlich artikuliert. Wenn da der Ruf ertönt: „Wir sind das Volk!“ dann wird er nur mit leisen Stimmchen und nur für ganz kurze Zeit aufgegriffen. Das passt nicht zu uns. Es entspricht nicht unserem (westlichen) Empfinden, weil hinter diesem Satz auch eine Art Zusammengehörigkeits- bzw. Solidaritätsgefühl steckt, - bei aller Problematik des „Volks“-Begriffs. Das Einzelkämpfertum ist auf westlichem Terrain doch etwas weiter fortgeschritten. Aber vielleicht finden die Leute, die im Westen auf die Straße gehen, allmählich ein anderes, eigenes Selbstverständnis.

Auf eines dürfte man aber wahrscheinlich in West wie in Ost vergeblich warten: dass es ein Bewusstsein von sozialen Rechten gibt, die uns allen ohne irgendwelche Vorleistungen zustehen. Wie sonst ließe sich begreifen, dass der nahezu uferlose Zwang zur Arbeit – nicht einmal für Lohn – bislang nur am Rande Gegenstand der Proteste ist. Es ist zu vermuten, dass sich für die künftigen Arbeitsgelegenheiten („Ein-Euro-Jobs“ – SozialhilfebezieherInnen kennen sie schon lange) genügend Freiwillige finden werden. In Frankfurt nennt man sie im neuen Jahr nicht mehr „gemeinnützige Arbeit“ sondern „qualifizierende Beschäftigung“, - man hat dann ein gutes Gefühl, wenn man etwa Hunde ausführt; das bringt einen weiter. Hier fordert darüber hinaus die SPD-Fraktion im Magistrat, dass die Ein-Euro-Jobber „einheitliche Kleidung“ tragen, also uniformiert das Sicherheitsgefühl der PassantInnen erhöhen und das Image der Stadt aufwerten sollen (http://www.stvv.frankfurt.de/download/NR_1500_2004.pdf). Erzwungene Arbeit in Uniform – eine weitere Stufe der Entwürdigung wird beschritten, aber als Aufwertung umgedeutet.

Freiwillige wird es sicherlich auch deshalb geben, weil ein derartiger Arbeitseinsatz ein bisschen Geld in die Kasse spült – für eine Zeitung, ein Bier oder eine Bratwurst (allerdings nur im Stehen). Das ist die Falle, aus der man nicht herauskommt, wenn es um die nackte Existenz geht.

Da wird auch nicht die Erkenntnis helfen, dass es organisatorische Parallelen zum offenen, freiwilligen Reichsarbeitsdienst gibt: auch jene Maßnahmen hatten die Kriterien: zusätzlich, gemeinnützig und „volkswirtschaftlich wertvoll“.

© links-netz September 2004