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Ein neues Protestpotential?

Christa Sonnenfeld

In den letzten Wochen ist etwas passiert: Die Auswirkungen des Sozialstaats-“Umbaus“ sind bei der Mittelschicht, also bei denen, die materiell einiges zu verlieren haben, angekommen. Die Zeitungen überschlagen sich mit Informationen über den Fragebogen zum Arbeitslosengeld II, es wird spekuliert, was eine „angemessene“ Wohnung ist, Konten werden abgeräumt, Lebensversicherungen gekündigt. Eine (Medien-)Öffentlichkeit, die sich in all den Jahren niemals um die Tatsache gekümmert hat, dass es längst eine Bedürftigkeitsprüfung gibt, ist aufgewacht.

Man sollte allerdings nicht davon ausgehen, dass Journalisten oder politische Repräsentanten ein kritisches Bewusstsein für soziale Ungleichheit oder Ungerechtigkeiten entwickelt hätten. Es ist offenbar eher so, dass zum einen die schreibende Zunft in ihrem Freundes- bzw. Verwandtenkreis Fälle kennen gelernt hat, die im kommenden Jahr unter die Armutsgrenze fallen werden und ihre Rücklagen für das Alter bedroht sehen. Oder ihre berufliche Position ist unsicher (Zeitverträge u.ä.) und sie könnten selbst Betroffene sein. Sogar die „Welt am Sonntag“ berichtete kürzlich ganzseitig über Manager und hochdotierte Ingenieure, die in diese Lage kommen werden.

Zum anderen herrscht sicherlich auch deshalb Unruhe in diesen Kreisen, weil sie jetzt demnächst zu der Gruppe derjenigen gehören werden, die sie noch vor gar nicht langer Zeit als Faulenzer, Drückeberger, Alkoholiker und psychisch Kranke wahrgenommen haben. Und das schmerzt. Der nächste Schwall wird dann kommen, wenn die vormals Besserverdienenden feststellen müssen, dass sie im Rahmen der „gemeinnützigen Arbeit“ zu Jobs mit 1 Euro/Std. gezwungen werden können. So haben wir nicht gewettet!

Ein diskriminierendes, verarmendes, repressives System wird angeklagt, weil es einen selbst trifft – ein interessantes Phänomen, das allerdings in dieser Gesellschaft voller Untertanen zum gängigen Bewusstseinsrepertoire gehört. Sind im neuen Jahr deshalb soziale Unruhen zu erwarten?

Es ist zu vermuten, dass eine Solidarisierung mit den „alten“ Erwerbslosen nachgerade ausgeschlossen ist. Auch wenn man in den letzten Wochen in den Medien kaum Diskriminierendes über Erwerbslose hört (Vorsicht, sonst werde ich auch dazu gezählt!), so liegen doch Welten dazwischen. Zudem haben die Repräsentanten der Mittelschicht eine Lobby, die „Drückeberger“ nicht. Viel wahrscheinlicher ist, dass man sich individuell mit Hilfe von Anwälten und Steuerberatern durchschlagen wird. Eine Unwägbarkeit bleibt aber noch: Wenn die Rücklagen bis auf die erlaubten 13.000 Euro (für Ledige) abgeräumt sind – wo verbleibt das restliche Geld? Freunden kann man nicht immer so ganz trauen, gerade, wenn sie selber zittern müssen. Das Geld unter den Teppich, in das Wäschefach, die berühmte Matratze? Routinierte, belesene Einbrecher könnten in diesen Tagen aufhorchen.

Das Gesetzeswerk Hartz I bis IV ist seit langer Zeit bekannt und zugänglich. Hier kommt eine uralte psychischen Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck, sich nicht für die Lebensverhältnisse der „Anderen“ zu interessieren, und viele meinten eben, es würde nur Andere treffen. Plötzlich wird es wieder um Hunger und Obdachlosigkeit gehen, um fehlende Zähne und schäbige Brillen – davon wollte bislang niemand etwas wissen, und jetzt gerät das alles in den Bereich des Möglichen. Jemand, der bisher gut verdient hat, die wesentlichen Statusobjekte besitzt, sich auf der Überholspur wähnt, muss alles Erdenkliche tun, um dieses drohende Schicksal abzuwenden. Und dieses Erdenkliche wird zu allerlei Unberechenbarkeiten führen, nur nicht zum solidarischen Massenprotest, wie es sich viele immer noch erträumen. Aber immerhin: es kommt Bewegung ins Spiel.

© links-netz August 2004