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Rezension zu Christoph Türcke:

„Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur“, München 2012

Christa Sonnenfeld

Die Ruhe ist nicht auszuhalten

Mit unterschiedlichen Begriffen wird gegenwärtig auf ein Phänomen aufmerksam gemacht (und die große Zahl der Publikationen dazu ist selbst interpretationsbedürftig), das unsere Alltagskultur in zunehmendem Maße prägt: „Multitasking“, „Hyperaktivität“ oder – wovon hier die Rede sein soll – „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“. Es geht um die Auswirkungen des inzwischen umfassenden Gebrauch neuer Techniken im Alltag (also längst nicht mehr nur im Arbeitsprozess) und den damit verbundenen Anforderungen an die individuelle Koordination von Informationen, insbesondere durch Computer, Freundschaftsdienste im Internet oder hochgerüstete Handys.

Unsere Psyche bleibt dabei nicht ungeschoren. Ein kürzlich erschienenes Buch zum „Multitasking“ zeigt bereits die inzwischen eingetretene Ernüchterung, dass es nämlich nicht ohne Folgen bleiben kann, wenn Menschen mehrere Aufgaben parallel erledigen und Ruhe oder Stille zur psychischen Belastung werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich nicht mehr nur auf einen einzelnen Gegenstand oder auf ein Ereignis oder eine Wahrnehmung.

Wenn von Aufmerksamkeitsdefiziten die Rede ist, dann fällt vielen unmittelbar die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom) ein, ein Phänomen, das als psychische Krankheit von Kindern und Jugendlichen ab dem Jahr 1978 in das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) aufgenommen wurde. Die entsprechende Diagnose nahm danach in der Praxis rapide zu. Ist das Aufmerksamkeitsdefizit als Krankheit aufzufassen oder ist es bloße Konstruktion, um neue „Kunden“ zu konstituieren, also bloße Bedarfsproduktion? Oder ist die Diagnose ein Sammelbecken für hilflose Psychologen und Hirnforscher?

Christoph Türke will die Spurensuche verallgemeinern: Inwieweit ist inzwischen unsere Kultur durch die Macht neuer Medien in einer Weise geprägt, die uns die Aufmerksamkeit unentwegt zerstückelt und absorbiert? Welchen Einfluss haben neue Technologien und veränderte filmische Erzählweisen auf unser Bewusstsein? Die Diagnose ADHS ist vor diesem Hintergrund alles andere als präzise.

Zunächst geht er zu den Wurzeln, nämlich zur Geschichte der Wiederholungen und Rituale, die der Mensch entwickelt hat, also Spielregeln, Gebräuche, ja sogar den Wiederholungszwang, den er als Notwehr, als Selbstheilungsversuch interpretiert. Dieser Zwang führt immerhin zu einer gewissen Beruhigung. allerdings galt das nur bis zur Erfindung der Automation, denn die Wiederholung durch Maschinen führt zu einer Objektivierung des Wiederholungszwangs, einem Prozess, in dem sich der Mensch den Bewegungen dieser Maschinen anpasst, sich aber gleichzeitig unterlegen fühlt.

Die Erfindung des Films mobilisierte zu Beginn – auch weil die Vorführungen selten waren – die Einbildungskraft. Das änderte sich durch die endlose Aneinanderreihung von Filmen, in denen durch abrupte Schnitte und beständigem Wechsel der Schauplätze die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen allmählich durch Dauerüberforderung abstumpfen. Im Fernsehen schalten sie bei Spannungsabfall um. Man kann dies auch erleben, wenn man in einem Kino ruhige Sequenzen eines Films dargeboten bekommt: im Saal wird das Murmeln lauter, die Essgeräusche nehmen zu. Ähnliches gilt für Türcke auch für Zeitschriften, die zunehmend mehr Bilder, größere leere Zwischenräume und weniger Text enthalten. Der Mensch kann sich nicht lange konzentrieren, – was als ein charakteristisches Symptom bei ADHS gilt.

Der Autor prüft die unterschiedlichen Erklärungsversuche von Ärzten und Psychologen für das „Krankheitsbild“. Die „Experten“ sprechen dabei von einer Hirnstörung, die die Vergabe des Medikaments „Ritalin“ unausweichlich mache. Man weiß darüber eigentlich wenig, aber die „nebulöse Krankheitsbezeichnung“ (36) bleibt nach wie vor erfolgreich, weil sie vielen Spekulationen Raum lässt. Das Phänomen des Aufmerksamkeitsdefizit meint man aber mit diesen Zweifeln aus der Welt geschafft zu haben.

Es fehlt ein Mindestmaß an Ruhe und Kontinuität. Aber ein Phänomen ist ihm auffällig: die Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, werden am Computer sofort ruhig, und zwar vorwiegend aus zwei Gründen: alles steht auf Abruf bereit, und: alles ist „ausgerichtet auf die eigene Jetzt-Befriedigung“ (47).

Ein weiteres Moment kommt hinzu: wenn ein Kind schon früh mit der jeweiligen Bezugsperson vor dem Fernsehgerät oder dem Bildschirm verbringt, dann erfährt es geteilte Aufmerksamkeit (zwischen lebenden Personen und Maschinen), die gleichzeitig den vielen Reizen gerecht werden will. Und das Kind erlebt, wie die Bildmaschinen die Aufmerksamkeit der Erwachsenen absorbieren: der Bildschirm tritt zwischen Mutter bzw. Vater und Kind; das Kind erlebt es als Aufmerksamkeitsentzug und ist dagegen wehrlos. Deshalb, so seine Schlussfolgerung, sucht das Kind durch beständige Wiederholung Ruhe bei den Maschinen („traumatischer Wiederholungszwang“). Elementare Aufmerksamkeitsbildung werde dadurch beschädigt.

Türcke ist überzeugt, dass deshalb ADHS „ohne umfassende, kulturtheoretische Perspektive gar nicht angemessen begriffen werden kann“ – „Nur, wo schon eine Aufmerksamkeitsdefizitkultur besteht, gibt es ADHS“ (70). Die gesamte Gesellschaft leide an wachsender Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit.

Bei der Lektüre drängen sich eigene Beobachtungen auf: Wer kennt das nicht: wir plaudern mit einem Bekannten, er greift plötzlich das immer bereitliegende Handy und kontrolliert seine Eingänge, gibt Informationen ein, die er abspeichert oder sucht Zugverbindungen („Du kannst ruhig weitersprechen, ich höre Dir zu“). Eine Mutter spielt mit ihrem Kind und überprüft dabei ihre SMS und E-Mail. Solche oder ähnliche Beispiele bietet Türcke nicht in seinem Buch, dafür aber in einem Interview zu seinem Buch (am 27.Mai 2012 in der ‚Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung’) und fügt eine Beobachtung aus der universitären Ausbildung hinzu: wie ist es um die Fähigkeit zum Denken bestellt, wenn ein Vortrag (der nicht zu lange dauern sollte) nur durch Power-Point-Präsentationen mit Bildern erfassbar wird? Oder, könnte man selbst als Beobachtung hinzufügen, wenn ein Rockkonzert im wesentlichen aus Bildern auf dem IPad besteht? Das Bild, das gespeichert wird, ist die Wirklichkeit.

In seiner Analyse sucht der Autor immer wieder Bezüge zur Geschichte der Menschwerdung: „Es ist naturalisierte Geschichte, die heutzutage jedes gesunde Kind nach etwa neun Monaten zu reaktualisieren beginnt“ (64), – das staunende Verweilen als ein Moment der Hingabe, die man nur in der Gemeinschaft erlernt (gemeinsames Schauen, Erzählen, Erleben).

Mit der permanenten Konfrontation mit Bildmaschinen aber entwickelt sich die destruktive Kraft des Widerholungszwangs, Erregung loszuwerden, ohne Schmerz, ohne Wunsch, ohne Ziel. Er läuft – anders als bei den Ritualen – bloß mechanisch ab, ohne sich in eine Sache zu versenken, sich selbst dabei zu vergessen und erfüllte Zeit erleben zu können.

Ritualkunde in der Schule

Türcke entwickelt aus diesen Reflexionen heraus ein schulpädagogisches Projekt, die Ritualkunde. Sie könnte nach seiner Überzeugung einen Ausweg darstellen, da Rituale mehr sind als Regeln, es sind „gelebte Wiederholungsabläufe“, die beruhigen. Damit will er nicht die Disziplin, die allein dem Selbstzweck dient, oder den Drill stärken, sondern eine Deeskalation bewirken. Sie ist Voraussetzung dafür, um die Widerstandskräfte gegen den High-Tech-Alltag zu entwickeln. Dazu zählt er das Wiedererzählen, die Wertschätzung von Märchen und Kinderreimen, Aufführungen, – kurz: „das Repertoire naturwüchsiger Ausdrucksformen“ (93). Pädagogen hatten gegen den Drill die individuelle Freiheit gesetzt, z.B. so zu schreiben, wie man will, man hat sich angebiedert und damit eine desorientierende Wirkung erzeugt. Dem gälte es etwas entgegenzusetzen.

Ein Projekt könnten „Fachkonferenzen“ in höheren Schulen sein, die nicht bürokratisch organisiert sind, sondern in denen etwa eine Klasse einer anderen zeigt, was sie sich erarbeitet hat, und dies muss ohne Zensuren geschehen. Türcke präzisiert: er will „soziale Strukturen ritualtheoretisch reformulieren: als geronnene Wiederholungen“ (107). Ein weiterer Schritt wäre das „Bekennen lernen“ (110), nämlich seine Zugehörigkeiten zu Vereinen, Religionen oder informeller Gruppierungen zu bekennen und anderen klar machen zu können. Eine solche Situation könnte ein Forum für Konflikte sein, die durch die unterschiedliche Kulturen entstehen können.

Ein skeptischer Blick in die Zukunft

Resümierend hegt der Autor Zweifel an der Durchsetzung seines Konzepts. Zum einen genügt es ihm nicht, ein neues Schulfach einzurichten, solange die Ausbildung von Pädagogen bestimmten Normierungen folgt. Zum anderen glaubt er nicht, dass die intensive Dominanz der technischen Kommunikationsmittel sich abschwächen könnte, im Gegenteil: Die Aufmerksamkeitsdefizitkultur steckt erst in ihren Anfängen, „ihre volle Wucht steht uns noch bevor“ (118).

Es wurde erwähnt, dass er bestimmte technische Entwicklungen, wie z.B. die Nutzung von Internetforen oder Handys mit ihren Weiterentwicklungen in seiner Analyse allenfalls streift. Aber gerade dieser Aspekt scheint bedeutsam, weil mangelnde Aufmerksamkeit entscheidend durch die Art unserer Kommunikation bestimmt wird. Wenn in geselligem Kreis ein Anruf in jedem Fall Vorrang hat, dann geht es möglicherweise um mehr als um Aufmerksamkeitsdefizite, nämlich darum, dass die abwesende Person mehr Bedeutung hat. Die stete Bereitschaft, sich unterbrechen zu lassen, die Türcke immer wieder thematisiert, hat möglicherweise Folgen für die zwischenmenschliche Kommunikation, die physischer Präsenz einen anderen Stellenwert beimisst.

Seine Überlegungen sind vor diesem Hintergrund ausgesprochen produktiv. Man sollte seine Thesen weiter treiben, um Realität einigermaßen treffend zu untersuchen.

© links-netz August 2012