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Das neoliberale Automobil: Straßenverkehr als Erfahrung von Gesellschaft

Heinz Steinert

Fordismus, die Phase von Kapitalismus, die das „kurze 20. Jahrhundert“ ausmacht, heißt nicht zufällig so: Einerseits ist Fordismus die Ära von rationalisierter Massenproduktion, wie in den Fabriken des Henry Ford zuerst eingeführt, andererseits ist Fordismus schlicht das Zeitalter des Automobils in Amerika und Europa. Kapitalismus ist bekanntlich von der „Erfindung“ immer neuer Waren abhängig, die sich profitabel herstellen und vermarkten lassen. Im Fordismus war diese „Leit-Ware“ das Automobil. Im Neoliberalismus ist es die Elektronik in ihren diversen Anwendungen. Das „neoliberale Automobil“ ist entsprechend längst kein metallenes Gehäuse mit Verbrennungsmotor auf Gummirädern mehr, sondern ein Komplex von Design und Software, der diese Grundbestandteile überwuchert. Das „klassische“ Automobil wird noch nachholend in China und Russland verbreitet, aber eigentlich ist seine Zeit vorbei.

Die Veränderung der Welt, die diese Ware Automobil angerichtet hat, ist beachtlich: von den Verkehrsbauwerken, die die Kontinente durchziehen, über die Zersiedelung der Stadtränder und die Auflösung der Dörfer bis zur Umgestaltung der Städte (viele davon „autogerecht“), vom Massentourismus mit allem, was sich dranhängt, bis zur Verdichtung des Tagesablaufs unter der Voraussetzung (häufig Fiktion) kurzer Transportzeiten für einen selbst und besonders für die Kinder, die chauffiert werden müssen. Man muss sich nur einmal zu Fuß oder per Rad einer Autobahn nähern (oder neben dem streikenden Vehikel an ihrem Rand stehen), um die lautstarke Aggressivität des Autoverkehrs physisch überwältigend zu erleben. Dabei reden wir noch gar nicht von den Verkehrstoten (in Summe mehr als die Kriegstoten) und -krüppeln; wir reden nicht von den Kriegen, den kolonialen Ausplünderungen und Verwüstungen durch die Erdölwirtschaft, sowie vom Staub und den Abgasen in den unteren und oberen Schichten der Erdatmosphäre mit ihren Folgen. Wir reden auch nicht, banaler, von den vielen Stunden von Lohnarbeit mit Überstunden, die besonders von jungen Männern in Ankauf und Betrieb einer Abfolge von schnittigen Automobilen investiert wurden, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten.

An die Romantik des Straßenkreuzers mit Haifischgrill und Heckflossen, breit genug für Liebe auf der hinteren Bank und bequem genug für einsame Fahrten in eine unendliche Landschaft, oder aber an die des offenen Coupés, in dem man allen davonfuhr, geschickt und lautstark, können wir uns nur mehr mühsam erinnern. Wer unter fünfzig ist, kennt das alles nur aus dem Kino. Wie es Marketing und Werbung gelingen konnte, das Automobil in den Köpfen mit „Freiheit“ zu koppeln, kann man sich aus heutiger Sicht kaum denken. (BMW wirbt auch heute noch mit „Freude am Fahren“.) In der zeitgenössischen Wirklichkeit ist man nie weniger frei, als wenn man im Stau steckt, einen Parkplatz sucht und das Vehikel partout nicht loswerden kann, von den vielen Verkehrsschildern mit Anweisungen überschüttet wird, im Rückspiegel den Blitz sieht, der einen mit allem registriert, was man gerade „falsch“ gemacht hat, den Packen Strafmandate durchgeht, die man gezahlt hat. Das steigert sich noch bei Besichtigung der Bank-, Versicherungs-, Benzin- und Reparaturzahlungen, die selbst ohne Unfall und andere Katastrophen auf das Konto „Automobil“ gehen.

Die Romantik hat einer defensiven Grantigkeit Platz gemacht, die sich bis in das Aussehen der Automobile durchsetzt: Die panzerartigen SUVs teilen nur Abwehr und Bedrohung mit, wo die „Déesse“ Eleganz vermittelte und die „Ente“ lustig war. Wer sich heute in einem alten Fiat 500 (der neue Cinquecento ist deutlich größer und stärker) auf die Autobahn wagte, müsste zu allen anderen Fahrern aufblicken und fürchten, von den Lastern übersehen und überrollt zu werden. Selbst und gerade die Kleinautos (man denke an den Mini Cooper) lassen sich ab Werk als GTI, RS oder sonstwie zum rasenden Boliden aufrüsten. Auch im Film wird das Automobil heute in erster Linie rücksichtslos zuschanden gefahren. Stilbildend ist die Verfolgungsjagd, in deren Verlauf eine ganze Flotte von Polizeiautos sich zu Schrott ineinander verkeilt, aber auch das Automobil der Flüchtenden auf ein verbeultes Skelett reduziert wird und zuletzt in den Abgrund stürzt (der Fahrer hat sich in letzter Sekunde daraus befreit). Freude haben wir an der krachenden Zerstörung möglichst vieler Automobile, selbst oder gerade an der von Wunderautos wie James Bonds ferngesteuertem BMW in „Tomorrow Never Dies“. Dass sich diese Aktion in einem tristen Parkhaus abspielt, passt nur dazu. Am schönsten ist der abschließende selbstmörderische Sprung vom Dach – endlich ins Freie.

Von der Soziologie seltsam unbeachtet bleiben die sozialen Erfahrungen, die man auf der Straße macht. Der Straßenverkehr ist als Modellsituation organisierte Konkurrenz mit allen Statusmerkmalen, über die eine Gesellschaft verfügt. Wer das größere und stärkere Automobil fährt, ist gewöhnlich auch reicher und älter und verlangt entsprechende Vorrechte. Die Audi und Mercedes der höheren Baureihen haben ohnehin „eingebaute Vorfahrt“. Dagegen können sich proletarisch nur Trucks dank purer Masse und junge Frauen dank Frechheit durchsetzen. Als vor vielen Jahren auf den Straßen Überholen und Überholtwerden noch eine häufige Aktivität war, hat sich die gesellschaftliche Rangreihe anschaulich und unausweichlich durch Motorkraft hergestellt: In einem R4 konnte man nur im Ausnahmefall überholen, in einem R16 immer. Von dem Porsche gar nicht zu reden, dessen Lichthupe auf der Autobahn schon aus großer Entfernung alle anherrschte, die linke Spur frei zu machen.

Mit der Zunahme der Ampeln freilich vermittelt die Straße auch die tröstliche Erfahrung der Sinnlosigkeit aller Konkurrenz: Der Laster, den man gerade unter Schweißausbruch und Herzklopfen überholt hat, schiebt sich an der nächsten Kreuzung wieder neben einen. Noch desillusionierender: Es kann auch ein Radfahrer sein, der einem das antut. Ohnehin weiß man, dass man ziemlich lang ziemlich viel schneller fahren muss, um auch nur zehn Minuten auf einen Langsameren zu gewinnen. Außer auf der Langstrecke auf der leeren, nächtlichen Autobahn (und der Bereitschaft, selbst unter diesen Umständen einige saftige Strafen zu riskieren) ist der Zeitgewinn den Aufwand nicht wert. Darum geht es nicht: Wir üben unsere Konkurrenz-Reflexe, auch wenn das Ergebnis, wie üblich, nur allgemeine Erschöpfung ist.

Bei der heutigen Verkehrs- und Regelungsdichte auf den Straßen ist Autofahren auf weite Strecken zum geduldigen Convoy-Fahren banalisiert worden. Man klemmt sich hinter das Vorderfahrzeug und bleibt dort auf Gedeih und Verderb. Man fragt sich, warum man eigentlich noch selbst lenken, Gas geben und bremsen muss, warum die Automobile nicht gleich durch eine Automatik fix verkoppelt sind. Die Situation ist die einer Warteschlange: Wenn einer überholt, ist das eine Frechheit wie das Vordrängen in einer Reihe. Wenn möglich wird schnell nach vorne aufgeschlossen, so dass der nicht wieder hereinkann und auf der Überholspur „verhungert“. Die Selbstbeherrschung, die von der Situation verlangt wird, kann man von allen Beteiligten verlangen. Wer sie verliert, muss und kann dafür bestraft werden.

Dazu ist der Stau als wichtige „Fahr“situation entstanden: die bestenfalls langsame und ruckweise Fortbewegung der Schlange, wenn sie nicht gleich bis zu stundenlang völlig festgeklemmt steht. 1963, als Fellini in „8½“ den Stau ins Bild brachte, war das eine groteske Paniksituation mit Fluchtimpulsen. Seither ist er normal geworden und hat schon die Automobile verändert, die heute von innen nach außen gebaut werden: Sie müssen vor allem einen bequemen Aufenthalt ermöglichen und die wichtigste Ausstattung enthalten, die wir zum Wohnen brauchen: weiche Polster, Klimatisierung, Telefon, Musikmaschinen, Radio und Fernseher, Anschluss für den Rasierer, Vorratskörbe für andere Utensilien der Körperpflege und natürlich für Basisnahrung und Getränke, Abfallbehälter (das Klo wurde bisher ausgespart) – das alles auch und besonders für die Kinder auf dem Hintersitz, die in dieser Situation bei Laune gehalten werden müssen. Wir praktizieren hier, im scheinbar geschützten und privaten Gehäuse, das aber tatsächlich gut einsehbar ist, Gleichgültigkeit gegenüber den Nachbarn, die uns bei der Zahnpflege, dem Schminken und Augenbrauenzupfen, beim Nasenbohren und beim Familienleben wie beim Beziehungskrach zusehen können – dieselbe Gleichgültigkeit, die Fußgänger und Benützer der öffentlichen Verkehrsmittel mit Hilfe des Mobiltelefons akustisch üben. Der Dienstleistungsberuf der Staubetreuung hat sich angelagert, erstaunlich wenig an kommerziellen Angeboten. (Der Verkauf von überteuerten Nahrungsmitteln und Getränken würde sich anbieten.)

Ivan Illich hat schon vor Jahrzehnten ausgerechnet, dass das Automobil, wenn man die gesamte Zeit, die man für Anschaffung, Betrieb und Fahrt aufwendet, auf die damit überwundene Strecke bezieht, das bei weitem langsamste Fortbewegungsmittel ist. (Das schnellste ist, so gerechnet, das Fahrrad.) Das klang damals paradox und witzig. Wer heute viel in der Stadt und sonst auf den bekannten Staustrecken zu den ebenso bekannten Stauzeiten fährt, erlebt diese Langsamkeit unmittelbar. Der Stau wirkt insofern demokratisierend: Auch der schnellste Ferrari steckt fest und die technische Perfektion von Fahrgestell und Motor ist überflüssig. Der Statusgewinn verlegt sich in die Ausstattung: Mit abgedunkelten Scheiben, reichlich Beinfreiheit und kompletter Büro- und Unterhaltungselektronik wird Distinktion zurückgewonnen.

Das Automobil als immer perfekter nach außen abgeschlossenes Gehäuse eignet sich besonders dazu, rücksichtslos und rechthaberisch zu sein, auch andere unflätig zu beschimpfen, weil jegliche akustische Verständigung verhindert wird und weil die Kontakte ganz punktuell sind: Im nächsten Augeblick ist man schon wieder weg, denkt man. Man muss sich klar machen, was man da eigentlich tut: Man bewegt eine einerseits harte, scheinbar Schutz bietende Kapsel, deren Oberfläche andererseits durch glänzenden Lack besonders empfindlich gemacht wurde – und für die man ziemlich viel Geld ausgegeben (genauer: aufgenommen) hat. Nach Haus/Wohnung und deren Einrichtung ist das Automobil das teuerste Stück Ware, an das die meisten Leute jemals in ihrem Leben kommen – und das schon früh in der Konsumkarriere. Und dieses teure Stück bewegen sie riskant und, wie jeder einzelne denkt, „gekonnt“ (schlechte Fahrer sind immer die anderen), aber doch mit der Ahnung von Unfall und einem teuren Schaden in einer hoch riskanten Situation. Statt sich aber vorsichtig und rücksichtsvoll möglichst dauernd mit den anderen zu verständigen, schließt man sich als Herr oder Dame ohne Unterleib weitgehend schalldicht ein (im Zweifel hat man noch das Radio oder ein Hörbuch auf CD laufen, wenn man nicht telefoniert) und verlässt sich auf technische Signale durch rote, gelbe und weiße Leuchten. Diese Kapsel um sich zu haben, ist natürlich eine der Attraktionen des Automobils: Während man in der U-Bahn bedrängt wird von den Körpern, den Stimmen und den Gerüchen der anderen, Mensch unter Menschen, ist man im Automobil die isolierte Monade, als die sich das auftrumpfende bürgerliche Individuum gern fantasiert hat – und die man andererseits besonders in Momenten der Schwäche am liebsten wäre.

Die Automobile bewegen sich der Idee nach in einem technischen Regelwerk. Wer da etwas „falsch“ macht, setzt sich erstens ins Unrecht und ist zweitens entweder frech oder inkompetent, nicht selten beides. Es macht aber dauernd jemand etwas „falsch“: findet zu spät heraus, dass er abbiegen will, versucht die Spur zu wechseln, bremst abrupt, fährt überhaupt zu langsam, flitzt noch bei Gelb über die Kreuzung usw. Es ist in der Stadt wert mitzuzählen, wie viele Regelübertretungen man etwa in einer halben Stunde Fahrt beobachten kann – auch bei sich selbst. Auf der Landstraße wird die Interaktion noch abstrakter: Was man entgegenkommen oder von hinten aufholen sieht, ist ein potentielles Hindernis, dem man ausweichen, davonfahren oder hinter dem man sich einreihen und das man überholen muss. Dass da auch ein Mensch drinsitzt, ist weitgehend irrelevant, man sieht ihn auch kaum und wenn man nicht das Automobil erkennt, könnte es der beste Freund sein, ohne dass man das bemerkte. Was zählt ist, dass man unbeschadet aneinander vorbeifährt und einander nicht im Fortkommen behindert. Der Straßenverkehr organisiert eine abstrakte Konkurrenz mit hohem Einsatz.

Die Hierarchie im Straßenverkehr ist nicht nur eine nach Status, sondern daneben nach simpler Stärke. Das zeigt sich besonders im Verhältnis zu Fußgängern, die viel verletzlicher sind und daher vorsichtig zu sein und im Zweifel zu warten haben. Rechthaberei steht nur den Starken zu. Die Verteilung der Unfallzahlen belegt genau, dass das so ist. Selbst auf dem Zebrastreifen sollte man zu Fuß lieber nicht versuchen, sein Recht durchzusetzen. Schon gar nicht sollte man, der Umwege und Unterführungen müde, versuchen, einfach irgendwo die Straße zu überqueren: Sie werden dich dazu zwingen, zu laufen und zu hüpfen. Sie sind nämlich nicht nur stärker, sondern dazu noch im Recht. Das Interessante daran ist, dass alle Autofahrer zumindest gelegentlich auch Fußgänger sind, aber das offenbar vergessen, wenn sie das Gaspedal unter dem Fuß spüren. Der Straßenverkehr vermittelt klare Lektionen über den Charakter des bürgerlichen Rechts – und über die Fähigkeit und Bereitschaft, die Rolle des anderen zu übernehmen, die Grundfähigkeit von geselligem Zusammenleben.

Die Ära des Automobils ist ebenso am Ende wie die des Erdöls. Das Elektroauto und die Rückkehr von GM ändern das nicht grundlegend: Sie vermehren die Zahl der Gefährte, die einander im Weg stehen – und die anlaufende Lithiumwirtschaft verspricht nichts Gutes. Irgendwann in nicht so ferner Zeit wird sich die neoliberale Vernunft durchsetzen und die Geschäftsreise durch die Videokonferenz verdrängen. Außer auf dem Lande ist das private Automobil, rational kalkuliert, mehr Ärgernis als Gewinn. Deshalb verschwindet das Automobil weder sofort noch vollständig. Es verliert aber den Status als „Leit-Ware“, von der die Lebensweise geprägt und dargestellt wird. Vorläufig wird es noch, zunehmend künstlich, am Leben erhalten. Statt intelligente Transportsysteme zu entwickeln, in denen (bei verändertem Antrieb) Taxi und Leihwagen ihren Platz haben, müssen zunächst noch Profite und Arbeitsplätze der traditionellen Industrie gerettet werden, und sei es mit etwas so Kurzsichtigem wie einer „Verschrottungsprämie“ und auch wenn das Produkt der subventionierten Arbeit mehr Schaden als Nutzen stiftet. (Die Waffenindustrie ist bekanntlich ein besonders profitables und besonders staatlich gestütztes Geschäft.) Der Export der Technologie in neureiche Länder – die müssen (und wollen) da durch – rettet fürs erste die westlichen Konzerne.

Schon in fünfzig Jahren wird der Teil der Menschheit, der das Automobil-Zeitalter überlebt hat, verwundert und moralisch empört auf den Autowahn zurückblicken. Im Kino wird der Auto fahrende Belmondo den Stellenwert haben wie heute der kettenrauchende Bogart – Gegenstand von Abscheu für die einen, aber von heimlicher Sehnsucht für die anderen.

© links-netz November 2010