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Neue Flexibilität, neue Normierungen:

Der zuverlässige Mensch der Wissensgesellschaft 1

Heinz Steinert

I  Zeitmanagement

In Ecuador, so konnte man kürzlich lesen (The New Yorker, April 5, 2004, 31), läuft eine Kampagne für Pünktlichkeit im Alltag. Die Haltung des „mañana, mañana“ soll endlich von einer des verbindlichen Einhaltens von Zeit-Vereinbarungen abgelöst werden. Die Kampagne richtet sich besonders an die Oberschicht: Mitglieder von Regierung und Militär und Geschäftsleute sind für ihre Unpünktlichkeit bekannt. Der Sprecher von Präsident Gutiérrez erschien zu dem Fernseh-Termin, zu dem er die Teilnahme der Regierung an der Kampagne bekanntgab, einige Minuten zu spät. Begründet wird die Kampagne mit dem wirtschaftlichen Schaden, der dem Land durch Unpünktlichkeit entstehe: Er wird auf zehn Prozent des Bruttosozialprodukts geschätzt. Auf neuere Errungenschaften der Produktionsorganisation wie „just-in-time“-Lieferverträge, die extreme Pünktlichkeit voraussetzen, wird besonders hingewiesen.

Von irgendwelchen Vorteilen, die begründen könnten, warum die Leute sich nicht hetzen möchten, ist nicht die Rede. Der Artikel berichtet im Ton von freundlichem Amüsement über eine altmodische Schrulle, wie man sie von diesen lateinamerikanischen Kulturen so kennt. Die versuchen jetzt erst, und wahrscheinlich vergebens, den Stand an Zivilisation auch zu erreichen, der bei uns im 19. Jahrhundert durchgesetzt wurde. „Eines Tages wird Ecuador vielleicht in die Gemeinschaft der pünktlichen Nationen aufgenommen werden“, heißt es im Text. Zuletzt wird auf den Nahen und Mittleren Osten verwiesen, dem entsprechende Anstrengungen, seine Kultur auf den Stand zu bringen, erst noch bevorstünden.

Die westliche Kultur freilich ist schon einige Schritte weiter. Pünktlichkeit ist hier nicht mehr die Frage. Unser Problem – immerhin so problematisch, dass Ratgeber-Literatur und die zugehörigen, viel profitableren Seminare es uns erst noch beibringen müssen – ist „Zeitmanagement“, und zwar das auf das ganze Leben ausgeweitete.2 Die Stufe des „klassischen Zeitmanagement“, als wir lernten, unsere Arbeitszeit effektiv zu nutzen, genügt längst nicht mehr. „Viele von uns führen ein solches High-Speed-Leben, dass man ihnen heute bereits prophezeien kann: In zehn Jahren hast du entweder einen Herzinfarkt oder du bist ausgebrannt.“ (22) Das heißt aber keineswegs, dass unser seinerzeitiges Coaching die falschen Anweisungen und Ratschläge gegeben hätte, sondern nur, dass wir noch mehr davon brauchen. Die nächste Stufe ist „Selbstmanagement“, in dem wir die Arbeit nicht isolieren, sondern unser ganzes Leben in die rationale Gestaltung einbeziehen. Auf einer dritten Stufe muss man darüber hinaus „ein Life-Leader werden, das heißt, Ihr Leben aktiv und eigenverantwortlich gestalten und in Balance halten“. (25) Dazu gehört zum Beispiel, dass man regelmäßig und richtig tagträumt, nämlich so, dass „in unserem Kopf ein immer konkreteres und klareres Bild von unserem künftigen Leben“ entsteht (121). Es kann sich langfristig lohnen, im Moment scheinbar Ineffizientes zu tun. „Wenn eine uns wichtige Person im Sterben liegt und wir uns nicht die nötige Zeit zur Sterbebegleitung oder nach ihrem Tod keine Zeit zum Trauern nehmen, benötigen wir anschließend umso mehr Zeit, um das Versäumte zu verarbeiten und die Balance in unserem Leben wieder herzustellen.“ (135f) Selbst Trauer ist effizient.

Zwischen der „mañana“-Haltung und der umfassenden Selbst-Funktionalisierung liegen Welten, räumlich und zeitlich. Pünktlichkeit wurde uns bereits mit der Industrialisierung beigebracht, also spätestens im 19. Jahrhundert. Sie war nötig, um in den Fabriken arbeiten zu können, deren Webstühle, Hammerwerke, Drehbänke und Pulvermühlen koordiniert in Gang gehalten werden mussten, unermüdlich und aufeinander abgestimmt. Sie war auch nötig, weil sich das kapitalistische Prinzip durchsetzte, die Arbeitskraft gemessen in Arbeitszeit zu kaufen. Der Zeittakt der Produktion und die Fabrik-Uhr gaben einer Lebensweise einen neuen, gleichmäßigen Rhythmus, die bis dahin unregelmäßige Takte im Wechsel von Verdichtung und Dehnung, je nach Arbeits- und Einkommens-Notwendigkeiten gehabt hatte. Die zukünftigen Proletarier nahmen diesen Rhythmus der Disziplin höchst unwillig an. Unbelehrbare, die mit den Segnungen des Fortschritts nichts anfangen konnten, rotteten sich gelegentlich zusammen, überfielen die Fabriken und zerstörten die Maschinen. Eines der ersten Ziele dieser Maschinenstürmer war immer die Fabrik-Uhr. Sie war als materielle Darstellung des Maschinen-Rhythmus besonders verhasst. Fortschrittliche (Vor-)Arbeiter hingegen waren stolz auf die eigene Taschenuhr, die es ihnen zu ermöglichen schien, die Zeit selbst zu kontrollieren, die sie ihnen aber tatsächlich nur besonders „nahe brachte“.

Die Zeit-Disziplin der industriellen Produktions- und Lebensweise wurde den Arbeitern zuerst aufgezwungen, dann von ihnen als „Zuverlässigkeit“ selbstbewusst zu einem Merkmal ihrer Qualifikation gemacht. Dadurch hoben sie sich von der unqualifizierten Konkurrenz ab, die vielleicht billiger sein mochte, aber durch Mangel an Disziplin andere Kosten verursachte. Aufgeklärte Unternehmer unterstützten diese Arbeiter-Disziplin, indem sie durchorganisierte Fabrik-Siedlungen erbauten, in denen die Männer durch rudimentäre Sozialpolitik zu Betriebstreue, ihre Frauen zu geordneter Haushaltsführung und ihre Kinder zu wohlerzogener Nachfolge an der Werkbank angehalten wurden.3

Auf ganz andere Weise, aber mit einem analogen Ergebnis entstand die zugehörige Disziplin der Betriebsführung und des Unternehmertums als auf Dauer gestellte Produktion mit ordentlichem Rechnungswesen, kalkulierter und laufender Investition und zurückhaltender Gewinn-Entnahme. Max Weber hat die „innerweltliche Askese“ der „protestantischen Ethik“ für diesen „Geist des Kapitalismus“ verantwortlich gemacht, in dem Zeit Geld ist – und mit beiden muss kalkuliert und methodisch umgegangen werden. Ohne Zweifel ist diese religiös motivierte Haltung einer Lebensweise zuträglich, in der die besitzenden Bürger die Einkünfte aus ihren Unternehmen nicht verjubelten und sich selbst zu ebenso kontinuierlicher und zuverlässiger Arbeit im Dienst des Unternehmens anhielten wie ihre Arbeiter. Aber schon die Größe der Investition in eine Fabrik legt das auch nahe. Dazu wirkt Religion nicht nur durch die Tugenden, die sie inhaltlich vorschreibt, sondern vor allem durch die Funktion der Gemeinschaftsbildung: Der „ehrbare Kaufmann“ wollte vor Ort, in seiner nicht zuletzt religiös organisierten Kleinstadt ehrbar sein und musste sich dazu disziplinieren.

Freilich entsteht aus Disziplin allein noch kein Unternehmertum und schon gar kein Kapital: Die großen produktiven Vermögen entstanden regelmäßig aus eher gewaltsamen (die „Einhegungen“ der ursprünglichen Akkumulation) und abenteuerlichen Anfängen, auf die nicht zuletzt die Bezeichnung „robber barons“ verweist, und wurden erst in der Folge „ehrbar“ gemacht. Verschiedene Spekulations-Wellen zwischendurch zeigen ebenfalls, dass der Konflikt zwischen Abenteurertum und Kasino-Kapitalismus auf der einen Seite, produktiver Solidität, Gemeindeverpflichtung und Disziplin auf der anderen nicht nur der „ursprünglichen Akkumulation“ zugehört, sondern eine Dauer-Herausforderung für die kapitalistische Wirtschafts-Moral bleibt. Die „methodische Lebensführung“ der Bürger ist auch eine defensive und magische Anstrengung, um mit der gleichzeitigen Unsicherheit des Unternehmertums zurechtzukommen. Daher hat die bürgerliche Selbstdisziplin oft auch etwas Ritualistisches und Zwanghaftes.

Die Entstehung von „Disziplin“ hat freilich schon einige frühere Stadien.

II  „Fundamentaldisziplinierung“ und „Große Einsperrung“

Im europäischen Absolutismus des 18. Jahrhunderts setzte ein Vorgang des Kategorisierens, Sortierens und Ordnens der Bevölkerung ein, den Michel Foucault am Beispiel von Klinik, besonders Psychiatrie, und Gefängnis beschrieben und als „große Einsperrung“ benannt hat. Es handelt sich um einen entscheidenden Aspekt der Entstehung von Flächenstaaten mit Zentralherrschaft und besonders Zentralverwaltung: Jetzt wird Steuereintreiben, Rekrutierung zum Militär, Arbeitszwang, Sanktionieren von „Störungen“ und „Störern“ und was man sonst so von seinen Untertanen verlangt, nicht mehr an lokale Herren delegiert. Von anderen Autoren (Oestreich) wird dieser Vorgang auch als „Fundamentaldisziplinierung“ beschrieben.

Dieser Schub an Disziplinierung erfolgt vor-industriell, allenfalls mögen Manufakturen ein erstes Modell für die Notwendigkeit von disziplinierter Kooperation abgegeben haben. Eher hat die Kriegsführung der Infanterie mit Handfeuerwaffen und allgemeiner das stehende Heer mit Drill und Exerzierreglements Disziplin erzwingen lassen. Von dort hat sie sich leicht in die Schulen übertragen, in denen ohnehin nicht selten ehemalige Unteroffiziere als Lehrer tätig waren. Das Wegsperren der Störer aller Art – Waisen, Arme, Kranke, Verrückte, Gefährliche – ist eine Erfindung der effizienten Verwaltung der in Kategorien geteilten Untertanen im Zentralstaat.

Auch für die herrschende Klasse gab es einen Schub von Disziplinierung, insofern Absolutismus auch ein Höhepunkt an „höfischer Gesellschaft“ war. Die früher relativ unabhängigen Patrimonialherren wurden von ihren dezentralen Sitzen an den Hof gezwungen und dort in die Rituale der Unterwerfung und der intriganten Selbstbeherrschung gezwungen, aus denen höfische „Etikette“ in erster Linie besteht. Die rauhen, halb-bäuerlichen Sitten des Landadels wurden zwangs-verfeinert. Die Geschichte des „Don Juan“ von Tirso de Molina bis da Ponte/Mozart kann als Moral-Traktat gelesen werden, in dem die Bestrafung von Disziplin-Mängeln vorgeführt wird. Der unabhängige Adelige, der vergewaltigt, mordet, seinen Bäuerinnen nachstellt und seine Bauern verprügelt, säuft und Feste feiert und es an Respekt der Kirche, ihren Orten (wie dem Friedhof) und ihren Sakramenten (wie der Ehe) gegenüber fehlen lässt, fährt in die Hölle. An seine Stelle tritt der disziplinierte Don Ottavio, der entsprechend farblos gerät und uns wenig imponiert. Aber ihm gehört die Zukunft.

Am Beispiel des Don Giovanni wird vielleicht besonders deutlich, wie sehr der „zuverlässige Mensch“ in Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit festgeschrieben und wirksam gemacht wird – damals wie heute.

III  Die ursprüngliche Erfindung der Disziplin

Erfunden wurde die Disziplin und die „methodische Lebensführung“ freilich viel früher – wenn man es auf eine Person und ein Dokument zuspitzen will, durch den Heiligen Benedikt und seine Kloster-Regel für Monte Cassino im sechsten Jahrhundert. Diese Regel mit dem bekannten Grundprinzip „ora et labora“ unterscheidet das westliche vom östlichen, das disziplinierte vom virtuosen Klosterwesen, die Verehrung des Herrn durch methodische Arbeit von der Suche nach der religiösen Ekstase. Damit aber entsteht in der geschlossenen Anstalt des Klosters der streng geregelte Tagesablauf von Arbeit und Gebet, Mahl und Messe. Säulenheilige, Asketen und Mystiker sind ab jetzt weniger gefragt als demütige Brüder, die pünktlich und zuverlässig eine strenge Routine gemeinsam abspulen. Die Legende des Heiligen Benedikt, die wir besonders schön als frühe Comic-Strips in Bildserien in den Kreuzgängen von Benediktiner-Klöstern vermittelt bekommen, ist dementsprechend geprägt von Disziplin-Wundern.4 Wenn Benedikt eine Vision hat, erscheint ihm darin der Bauplan eines Klosters, wenn er auf wunderbare Weise Gegenstände bewegt, dient das der Weiterarbeit am Klosterbau, wenn er von Ereignissen weiß, die er eigentlich nicht wissen kann, dann sind es die Verfehlungen seiner Mitbrüder, die unterwegs den Verlockungen des Lebens folgend vom geraden Weg abgewichen sind oder gar ihn zu vergiften versuchen, weil sie die Strenge seiner Regel nicht mehr aushalten. Mit Gottes Hilfe konnte Benedikt trotz gelegentlicher Rückschläge seine Klosterregel durchsetzen und verbreiten. Sie wurde zur Grundlage oder zum Ausgangspunkt aller weiteren Ordens- und Klostergründungen.

Die methodische Lebensführung wurde erfunden als die kommunale Lebensweise in der geschlossenen Anstalt des Klosters. Alle Ordensgründer waren Fundamentalisten, die besonders das christliche Armutsgebot gegen die in ihrer Sicht zu weltlich gewordene Kirche neu durchsetzen wollten. Und alle waren sie der Ironie dieses religiösen Fundamentalismus unterworfen: Diese Form der Rückkehr zur ursprünglichen Armut erwies sich als wirtschaftlich höchst erfolgreich.

Die Zisterzienser, die Gründung des Heiligen Bernhard von Clairvaux, machten eine besonders folgenreiche Erfindung: die der Laienbrüder. Ab diesem Punkt gab es eine gewisse und der Gesamt-Effizienz höchst zuträgliche Arbeitsteilung im Prinzip des „ora et labora“: Die einen beteten, während die anderen arbeiteten. Die Gebetspflichten standen auf diese Weise der Arbeitsleistung weniger im Wege. Die Klöster der Zisterzienser, immer an einem Fluss nach dem immer gleichen Grundriss angelegt, waren mittelalterliche Fabriken.5 Die Disziplin, lange vor dem Kapitalismus im Kloster erfunden, erwies schon damals ihre wirtschaftliche Überlegenheit.

Diszipliniertes Arbeiten und Leben wurde ursprünglich als Selbstdisziplin einer Elite erfunden, die sich freiwillig in die Situation der geschlossenen Anstalt begab. Als später verallgemeinert Bedarf nach einer disziplinierten Verwaltung oder einer disziplinierten Produktion auftrat, konnte auf das geistliche Vorbild zurückgegriffen werden. Das Grundmodell war immer die geschlossene Anstalt, in der sich die Mechanismen der Disziplin „wie von selbst“ einstellen.6 Dieses Vorbild wurde auch immer wieder bewusst nachgeahmt, es wurden sogar geistliche Brüder und Schwestern engagiert, um Armenhäuser, Irrenanstalten, Waisenhäuser oder Schulen so zu organisieren, zu leiten und zu betreiben. Die geschlossene Anstalt war seit dem Absolutismus das Ideal von Staatswesen und Gesellschaft,7 das Arbeitslager das Ideal von Produktion.

IV  Wandlungen der kapitalistischen Disziplin

Kapitalismus erwies sich in und nach der Industrialisierung als eine flexible und anpassungsfähige Produktionsweise. Die Krisen, in die diese Produktionsweise der dauernden Ausweitung immer wieder und notwendig gerät, waren immer wieder auch Anlass, sie mehr oder weniger grundlegend umzubauen. Nach dem industriellen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts mit seiner scharfen Ausbeutung und Verelendung der Arbeiter war der wichtigste Umbau der „Fordismus“ des 20. Jahrhunderts mit Massenproduktion und Massenkonsum. Den Arbeitern wurde, vereinfacht gesagt, der Lohn nicht mehr bis an die Grenze des Elends gedrückt, sondern er wurde ihnen über Konsum wieder abgenommen. Zugleich wurde mit Keynesianischer Wirtschaftspolitik auch ein erweiterter Wohlfahrtsstaat möglich, weil die Transfereinkommen, über den Konsum ausgegeben, als „Motor der Wirtschaft“ angesehen werden konnten.

Auf der Unternehmer-Seite ist Fordismus durch die Ausdifferenzierung von Managern und Angestellten gekennzeichnet: Im Gegensatz zum patriarchalen industriellen Eigentümer-Kapitalismus ist Fordismus ein Manager-Kapitalismus. Die Ausdifferenzierung von Wirtschafts- wie Staats-Verwaltung, die das bedeutet, brachte freilich einen Schub von Bürokratisierung, den Max Weber trotz seiner Einsichten über das „stahlharte Gehäuse der Hörigkeit“ sich nicht vorgestellt hatte. Er war am schärfsten dort, wo sich dieses Regime explizit als Planwirtschaft konstituierte (und das Element des Massenkonsums zugunsten von staatlichem „Konsum“ kassierte).

Die „Disziplin“, die jetzt gefordert ist, besteht in Bürokratie-Angepasstheit – von den Managern der Wirtschaft und den höchsten Beamten des Staates bis zum Sozialamts-Virtuosen, die alle in gleich gekonnter Weise, wenn auch aus unterschiedlichen Macht-Positionen mit Verwaltungs-Abläufen umgehen können müssen. Diese „verwaltete Welt“ findet ihre Höhepunkte überall dort, wo sie sich mit Militarismus und Kriegswirtschaft verbindet. Wir wissen aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts auch, wie leicht sich das mit Planungs-Euphorie und dem entsprechenden „Ämter-Übermut“ verbindet, wie leicht auch mit dem Bewusstsein von Herrenmenschentum oder der Bereitschaft zum Opfer der Gegenwart für eine große Zukunft und der daraus ableitbaren Notwendigkeit, ganze Kategorien von „Feinden“ oder „Störern“ auszuschließen – durch Diskriminieren, Isolieren, Deportieren, zuletzt den Massenmord.

Im glücklichen Fall kann in der Disziplin des Fordismus freilich auch der Massenkonsum im Vordergrund stehen. Das ergibt immer noch ein hohes Maß an Normierung, aber eine, die selbstgewählt erscheint. Die Disziplin des Konsums ist eine der klugen Haushaltsführung mit Sicherung von Geldeinkünften und Kredit, Marktübersicht und günstigem Kauf, sowie gekonntem Gebrauch der erworbenen Waren. Insgesamt gehört dazu aber auch eine hohe Bereitschaft zum Konsum. Auf der Seite des Verkaufs wird alles getan, um die puritanischen Seiten der Disziplin aufzubrechen: Moden, Sonderangebote, Organisation von „Impuls-Käufen“, das Kaufen selbst als Erlebnis oder als besonders bequem aus dem Katalog, leichte Kredite (als „Ratenzahlung“ verharmlost), all die Tricks der Werbung, die Einkaufen zu „Shopping“ und zu einer zentralen gesellschaftlichen Aktivität gemacht haben. Wenn das mit Vollbeschäftigung zusammentrifft, so dass wir als Arbeitskräfte wie als Konsumenten umworben werden müssen, ergibt das eine Moral der angedrehten Lebensfreude, der verordneten Ansprüche und des Selbstbewusstseins als „König Kunde“, die in die Suche nach dem guten zwischenmenschlichen Leben umschlagen kann. In dem von den Soziologen konstatierten „Wertewandel“ der 60er und 70er Jahre (Inglehart), dessen auffälligste Manifestationen die Hippie-Kultur, der Pazifismus und die Ökologie- und Alternativbewegung waren, ist genau dieser Umschlag geschehen.

Freilich war es damit in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts auch schon wieder zu Ende. Diese neueste Wendung der Produktionsweise, die mit Thatcherismus und Reaganomics eingeläutet wurde, ist als „Post-Fordismus“, zuletzt als „Neoliberalismus“ und „Wissensgesellschaft“ beschrieben worden. Diese neue Produktionsweise ist globalisiert und nutzt alle Vorteile, die sich aus den Kosten-Differenzen zwischen den Teilen des Welt-Systems schlagen lassen. Sie löst sich damit aus Standort-Fixierungen und -Verpflichtungen, nicht zuletzt aus denen, die seinerzeit den „ehrbaren Kaufmann“ normierten. Am entscheidendsten ist aber eine neue Ausdifferenzierung der Wirtschafts- und Staats-Verwaltung: die Berater. Während die interne Verwaltung reduziert und rationalisiert wird, entstand als Beratung, gern Consulting genannt, als unabhängige Experten-Dienstleistung ein Außenposten der Bürokratie, der vor allem dem Management gegenübersteht und die interne Verwaltungs-Rationalisierung erst einmal betreibt. Nach dem Eigentümer-Kapitalismus der Industrialisierung im 19. und dem Manager-Kapitalismus der „Fordistischen“ Formation des 20. Jahrhunderts haben wir heute einen Berater-Kapitalismus.

Auf der Unternehmer-Seite ist damit der „zuverlässige Mensch“ abgeschafft: Die Bindungen, die den „ehrbaren Kaufmann“ ausmachten, wurden schon im Manager-Kapitalismus weitgehend gelöst. Aber der Manager hatte ursprünglich wenigstens eine Bindung an das Unternehmen, das er groß und erfolgreich sehen wollte, weil das seine Macht und seine Möglichkeiten vermehrte. Die Berater hingegen haben einen begrenzten Auftrag und übernehmen keine Garantie für den Erfolg ihrer Ratschläge. Sie müssen als Verkäufer ihres Angebots und als Gurus ihrer Rezepte überzeugen, aber niemand erwartet von ihnen Zuverlässigkeit oder auch nur Seriosität. Die Manager werden in denselben Sog gezogen: Durch ihre Verpflichtung auf „shareholder value“, also den Börsenwert ihres Unternehmens und nicht seinen Gewinn, sind auch sie zu Öffentlichkeitsarbeitern und Verkäufern geworden. Die Top-Manager ziehen als Söldner von einem Unternehmen zum nächsten. Wenn sie eines völlig in den Sand gesetzt und damit die Chancen für weitere Engagements versiebt haben, werden sie – siehe Ron Sommer – Berater.

Auf der Arbeitskraft-Seite wird das Arrangement der Zuverlässigkeit auf eine Stammbelegschaft eingeschränkt: Gesicherte Arbeitsplätze mit Sozialleistungen und der Erwartung einer Gegenleistung von Disziplin und Engagement werden auf das unerlässliche Minimum zurückgefahren. Stattdessen soll der Großteil der Arbeiter durch flexible Verträge ohne Sozialleistungen und andere Stabilitäts-Verpflichtungen zu „Arbeitskraft-Unternehmern“ verselbständigt werden.8 Freilich ist das, was da entsteht, in den meisten Fällen nur Schein-Selbständigkeit: Der (neudeutsch) „out-gesourcete“ Neu-Unternehmer ist von seinem alten Betrieb als Auftraggeber und Abnehmer abhängig und muss sich von ihm die Bedingungen diktieren lassen.

V  Der Widerspruch der Wissensgesellschaft

Man muss diesem Bild vom „zuverlässigen Selbst-Manager“ ein Gegenbild hinzufügen: Trotz ihres Namens und trotz ihrer Beschwörung von Markt ist die „Wissensgesellschaft“ einerseits besonders dumm und andererseits besonders bürokratisch.

Ad Dummheit:

Das Wissen der „Wissensgesellschaft“ besteht in der Beherrschung von Gebrauchsanweisungen. Die wichtigsten Instrumente der Wissensgesellschaft, der private Computer (PC) und das Internet, sind „Elektronifizierungen“ von intellektuellen Leistungen. Sie haben die Rationalisierung von relativ einfachen, nämlich Organisations-Leistungen ermöglicht und damit vor allem Verwaltungstätigkeiten enteignet. Was dadurch als menschliche Arbeitskraft nicht wegrationalisiert wurde, ist – wie üblich – entqualifiziert übriggeblieben: reduziert auf die Bedienung der neuen Maschinen. Das wichtigste neue Wissen, das verlangt wird, besteht in der Fähigkeit, diese Bedienung sachgerecht hinzukriegen.

Natürlich gibt es dabei, wie in früheren Rationalisierungs-Schüben, eine Polarisierung: Es ist eine kleine Elite notwendig, die diese Maschinen einrichten und warten (im konkreten Fall programmieren und „up-daten“) kann und also die Rationalisierung im einzelnen durchführt, und auf der anderen Seite eine Menge von ent-qualifizierten Maschinen-Operateuren. Der Großteil derer, die früher diese Vorgänge „per Kopf“ und mit viel dort gespeichertem Wissen und Können erledigten, wird überflüssig. Was als neue Qualifikation vor allem benötigt wird, ist die Beherrschung der Gebrauchsanweisungen für die Maschinen, die jetzt die früher lebendige Arbeit ersetzt haben. Und kein Wissen ist autoritärer als das Wissen der Gebrauchsanweisung: Der vorgeschriebene Ablauf muss ritualistisch genau befolgt werden, sonst funktioniert es nicht.

Was einmal Psychologie war, ist in Analogie dazu in der Literaturgattung der Alltags-Beratung (die einzige Gattung von Buch, von der einem Verleger und Buchhändler erzählen, dass sie dieser Tage „gut geht“) zu Gebrauchsanweisungen für Menschen (darunter uns selbst) mutiert: Rezepte der (Selbst-)Instrumentalisierung in betriebswirtschaftlicher Rationalität. Ein besonders beeindruckendes „Wissen“ ist das nicht, was die „Wissensgesellschaft“ ausmacht.

Ad Bürokratie:

Die Durchsetzung von Neoliberalismus ist nach einem Schub von Personaleinsparungen (als Wegrationalisieren, Outsourcing oder Verlagerung in Billiglohnländer) der größte Schub von Bürokratisierung seit der Einführung der sowjetischen Planwirtschaft. Die „Wissensgesellschaft“ mit ihren technischen Möglichkeiten der Rationalisierung von Kopfarbeit und also in erster Linie Verwaltung tritt zwar mit einem anti-bürokratischen Gestus an und tut so, als sei Markt der Feind von Bürokratie. Tatsächlich ist seit Max Weber bekannt, dass Markt und Bürokratie zusammengehören. Alle vorhandenen Beispiele für den Umbau zu „lean state“ in Sozial- und Kommunalverwaltungen oder in der Bildung deuten darauf hin, dass Reduktionen der Personalstände, wenn überhaupt, dann im Bereich der Kundenkontakte und der Dienstleistungen, nicht aber in der Verwaltung geschehen. Zugleich ist eine externe Bürokratie von Akkreditierern und Evaluateuren9 entstanden, die jede mögliche Rationalisierung gemeinsam mit den Beratern leicht kompensiert – sowohl als schlichte Zahl der mit Verwaltung befassten Personen, noch mehr aber durch die neue bürokratische Arbeit der Selbst-Dokumentation und -Rechtfertigung, die denen aufgezwungen wird, die in den staatlichen und kommunalen Diensten die tatsächlich für die Abnehmer relevante Arbeit tun. Der Kostendruck hat überall den „Kundendienst“ reduziert und den Kontrolldruck erhöht. Zur Planung, Kontrolle und Evaluation dieser Reduktion haben sich Beratungs-, Zulassungs- und Evaluations-Firmen etabliert, die nicht mehr zur Bürokratie gerechnet werden, sondern als „Dienstleistung“ gelten,10 tatsächlich aber eine Kleinlichkeit der Aktenführung erzwingen, die ihresgleichen sucht.

Rationalisierung und neue Kontroll-Bürokratien haben ein ungeahntes Maß an sozialer Ausschließung, Drohung mit Ausschließung, damit Konkurrenz und Bereitschaft zur Ausschließung anderer zur Folge. Die instrumentelle Haltung zu anderen und zu sich selbst befördert ein Denken erstens in großen Kategorien, also in Vorurteilen, und zweitens in Opportunismus. Verschärfte Konkurrenz um knapp gehaltene Mittel hat die Menschen noch nie besser gemacht, nur schäbiger.

Was uns als Flexibilisierung angetragen wird, ist tatsächlich ein enormer Schub an Normierung und Standardisierung unter dem verschärften Druck von Konkurrenz und den zugehörigen Ängsten, die bewältigt werden, indem wir andere in der Hoffnung ausschließen (lassen), dass wir dadurch selbst diesem Schicksal entgehen. Wir müssen uns zusätzlich die Normierung selbst antun und unsere Standardisierung selbst managen – nicht ohne Beratung, versteht sich, von der wir umstellt sind und von der wir gewöhnlich die Normen erst vermittelt bekommen, denen wir mit ihrer Hilfe gerecht werden sollen.

Der „zuverlässige Mensch der Wissensgesellschaft“ hat sich weit von der Unternehmer- und der Arbeiter-Disziplin der industriellen Produktion, von dem entfernt, was ursprünglich „Disziplin“ hieß. Er ist zuverlässig höchstens sich selbst gegenüber in seiner Bereitschaft, sich mit allen Wechselfällen des Lebens zu arrangieren (und die jeweils passende Beratung zu nutzen), in seinem unverdrossenen Willen, alle verlangten Rollen zu spielen und hohe Virtuosität dafür aufzubringen, die Widersprüche auszuhalten und seine eigene „Balance“ zwischen ihnen geschickt zu managen. Seine Zuverlässigkeit ist eine Selbstdisziplin zweiter oder dritter Ordnung.

Anmerkungen

  1. Manuskript eines Vortrags im Rahmen der „Wiener Vorlesungen“ am 6.5.2004 im Alten Rathaus, Wien.Zurück zur Textstelle
  2. Ich zitiere im folgenden aus dem Buch eines der deutschen Gurus von Coaching und Consulting: Lothar J. Seiwert (2001) Life-Leadership: Sinnvolles Selbstmanagement für ein Leben in Balance. Frankfurt: Campus.Zurück zur Textstelle
  3. In der Werk-Siedlung des Fabrikanten Staub in Kuchen bei Stuttgart, die (also: deren Beschreibung) auf der Pariser Weltausstellung 1867 als vorbildlich ausgezeichnet wurde, waren das die Kranken- und Pensionskasse, eine „Kinderbewahranstalt“ und eine Fabrik-Schule, ein Badhaus, Prämien für ein „vorbildliches Hauswesen“ und die Förderung von „Assoziationen“ wie Konsum- und Sparverein oder Freizeitvereine. Anderswo gab es auch noch eine „Soldatenkasse“ zur Vorsorge für die Zeit des Militärdienstes. Selbstverständlich wurde das alles (zwangsweise) von den Arbeitern selbst finanziert. Dazu kam ein verzweigtes System von Geldbußen für alle Arten von Verstößen gegen die Disziplin, festgelegt in einer Fabrik-Ordnung, deren § 1 hieß: „Jeder Arbeiter soll sich zur bestimmten Stunde, welche je nach dem Wechsel der Jahreszeit und den Verhältnissen festgesetzt wird, bei der ihm angewiesenen Arbeit in der Fabrik einfinden.“ (Hubert Treiber und Heinz Steinert (1980) Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen: Über die Wahlverwandtschaft von Kloster- und Fabrik-Disziplin. München: Moos; Neuausgabe Münster: Westfälisches Dampfboot, 2004. Vgl. besonders Kapitel I.6 und I.7.)Zurück zur Textstelle
  4. Besonders eindrucksvoll ist der Benedikt-Zyklus von Sodoma und Signorelli im Kloster Monte Oliveto Maggiore bei Siena. Aber auch im Kloster Stams in Tirol findet sich ein bemerkenswerter Benedikt-Zyklus von 24 Gemälden, die sich weniger durch Renaissance-Eleganz als durch alpine Barock-Naivität auszeichnen. Dafür sind sie in jeweils vierzeiligen Verslein erläutert und also stärker der Volksbildung verpflichtet: „Ein Bruder fiel durch Teufelslist / Zerquetscht zur Erde vom Gerüst. / Vom Tod erweckt ihn Benedikt – / Er wird zur Arbeit hingeschickt.“ Zurück zur Textstelle
  5. Jean Gimpel (1976) La révolution industrielle du Moyen Age. Paris: Seuil. Deutsch Zürich: Artemis, 1980.Zurück zur Textstelle
  6. Das „Panoptikon“ des Jeremy Bentham, den Marx ein „Genie der bürgerlichen Dummheit“ nannte, die utilitaristisch-utopische Konstruktion eines Bauwerks, in dem ein zentraler Kontrolleur alles sehen kann, ohne selbst gesehen zu werden, ist nur die Zuspitzung und Säkularisierung von Prinzipien, die im Klosterleben längst und durch die Jahrhunderte verwirklicht wurden.Zurück zur Textstelle
  7. Besonders ausgeprägt war das in Preußen, wo zeitweise alle Männer Soldaten und als Zivilisten nur Soldaten auf vorübergehend gewährtem Urlaub waren.Zurück zur Textstelle
  8. Dieses Verständnis des Arbeiters als Unternehmer seiner selbst ist nur in den europäischen Sozialstaaten neu: In den USA war schon seit dem 19. Jahrhundert der kleine Selbständige die Leitfigur auch für Arbeiter – eine strenge Betriebsbindung wurde als „Lohnsklaverei“ gefürchtet und verabscheut.Zurück zur Textstelle
  9. Die Universität des Saarlandes hat bereits einen Studiengang „Evaluation“ erfunden und diesem neuen Verwaltungsberuf damit die akademischen Weihen gegeben. Zurück zur Textstelle
  10. Sie werden auch in der Statistik so verrechnet – das ist ein Teil der statistischen Vergrößerung des Dienstleistungs-Sektors. Es gibt keinen zwingenden Grund zu der Annahme, dass das in der Wirtschaft nicht ganz genauso läuft, dass sich nicht auch dort „Beraterkapitalismus“ vor allem als Kontrolldruck und (wenn man die sich als Dienstleistung deklarierenden „Außenstellen“ und die Arbeit, die sie anderen verursachen, mitrechnet) Bürokratie-Ausweitung darstellt. Die umfassende Untersuchung dazu steht noch aus.  Zurück zur Textstelle
© links-netz Juni 2004