Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Deutsche Zustände Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Was „links” ist:

weder ein Recht auf Arbeit, noch eines auf soziale Versorgung, sondern ein Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft

Heinz Steinert

Die „Linkspartei”, die durch Ost-West-Kooperation und zwei Profis der kulturindustriellen Politik als Leithammel und Unterhalter vor allem SPD wie Grüne in Wahl-Bedrängnis bringt,1 hat das „links”, das sie beansprucht, erst einmal als Verteidigung des Sozialstaats bestimmt. Das ergibt sich pragmatisch daraus, dass sie die „Verlierer” des Neoliberalismus organisiert, die von der bisherigen Regierung erst mitproduziert und dann ruhigzustellen versucht wurden. Wenn für diese große Gruppe der Bevölkerung eine wirksame parlamentarische Vertretung entsteht, wäre viel erreicht. Aber ist das schon „links”?

Beiläufig, auf nicht einmal einer ganzen Seite im Feuilleton der Zeit (14. Juli 2005, S. 39), hat Mathias Greffrath, ein Sozialwissenschaftler als Journalist, dessen nachdenkliche Interventionen, nicht zuletzt auch sein früher (1984) Hinweis auf Montaigne, in der traurigen Leier der kulturindustriellen Politik- und Gesellschafts-Kommentare als lesenswert auffallen, kurz zusammengefasst, was „links” bedeutet:

1/ Solidarität wird das „Grundgesetz der Gesellschaft”, daher kann es keine „Überflüssigen” geben und keine Almosen für „Schwache”. Solidarität ist vielmehr „das reale Band der Arbeitsteilung, das die Gesellschaftsgenossen einander verpflichtet”.

2/ Es gibt einen Sozialstaat, der einheitliche Lebensverhältnisse garantiert – durch allgemeines Anheben der schlechtesten Lebensverhältnisse und durch Kappen exzessiver Einkommen, besonders solcher, die nicht auf Erwerbseinkommen beruhen.

3/ Fortschritt dient dazu, unnötige Arbeit abzuschaffen und uns damit für die notwendige Arbeit frei zu machen: „Kindererziehung, Altenpflege, kulturelle Eigentätigkeit.”

Greffrath leitet daraus konkretere Aufgaben für eine („linke”) Sozialdemokratie heute, mitten in der „globalisierten” Wirtschaft, ab2 – aber zunächst sind es diese drei Grundsätze, das reicht schon.

Diese schlichte Erinnerung an fast banale Grundsätze, in einfachen Worten vorgetragen, macht auf die Unverschämtheit aufmerksam, mit der die wirtschaftlich Starken und Tonangebenden seit zwanzig Jahren Solidarität, Sozialstaat und Fortschritt aufgekündigt haben und uns eine Gesellschaft aufdrängen, in der Konkurrenz, Ungleichheit und Arbeitshetze für die einen, Arbeitslosigkeit für die anderen herrschen. Sie macht uns auch aufmerksam, wie sehr die real existierende „Linke”, also die Sozialdemokratie samt ihrem ursprünglich intellektuellen Gewissen, den Grünen, in Deutschland diesen Kompass verloren hat. Aus Ideenmangel, Unfähigkeit oder Ausverkauf hat diese Regierung, die nur zufällig das Mandat für eine zweite Regierungsperiode bekam3 und konsequenterweise jetzt vorzeitig aufgibt, sich den wirtschaftlich Starken und Tonangebenden unterworfen und deren Politik gemacht. Der Transmissionsriemen dafür ist die Annahme, das Kapital könne durch Steuergeschenke, Subventionen sowie das Erzwingen von billigen und allseits verschiebbaren Arbeitskräften dazu gebracht werden, „Arbeitsplätze zu schaffen”, die wiederum als Erfolg der Regierung verkauft werden können. Dass sie diesen Unsinn selbst glauben, kann man sich kaum vorstellen, aber jedenfalls handeln sie so und erklären uns ihr Handeln so. Im Wahlkampf wären sie gerne als die Opposition zu ihrer eigenen Politik aufgetreten, um die von dieser Enttäuschten und Benachteiligten zur Stimmabgabe für sie zu veranlassen, aber dieses Spiel ist schon in NRW nicht aufgegangen und wird ihnen jetzt zusätzlich durch die neue „Linkspartei” vermasselt.

Die drei Prinzipien machen darauf aufmerksam, wie sehr sich alles um das Verständnis von „Arbeit” dreht: So lange wir nur Lohnarbeit als „Arbeit” sehen, liefern wir die Politik, die Gesellschaft, vor allem aber unser gegenwärtiges Leben und unsere Zukunft dem aus, was sich profitabel für einen Markt produzieren lässt und was auch tatsächlich einen Unternehmer findet, der das tut. Am profitabelsten produzieren aber lassen sich Waffen, Drogen, öffentliche Wettkämpfe und Spielzeug. Am schlechtesten profitabel herstellen lassen sich die Arbeitsergebnisse und -leistungen, die wir zum Betreiben unseres Lebens am nötigsten brauchen: Vor allem die dafür notwendigen Dienste müssen wir und die uns nahe sind gewöhnlich selbst erbringen (und so soll es auch sein).

„Arbeit” heißt zugleich Beteiligung an der Gesellschaft und ihrer Zukunft. Deshalb ist sie uns so wichtig, deshalb ist Arbeitslosigkeit eine Qual: Ohne Arbeit sind wir ausgeschlossen. Damit das nicht geschieht, muss jemand unsere Arbeit nachfragen, muss sie gebraucht werden. Wenn sich jemand findet, der dafür zahlt, ist das nach gängigen Standards der beste Beweis dafür. Aber Kinder, Partnerinnen, Freunde, Eltern, Nachbarn und Mitarbeiterinnen „brauchen” unsere Arbeit viel unmittelbarer und unersetzbarer. Die Mitgestaltung der Gesellschaft und ihrer Zukunft geschieht viel notwendiger als in marktgängiger Lohnarbeit in Projekten des gemeinsamen Ausbaus von Infrastruktur aller Art und der Erfindung von neuen Möglichkeiten, die sie bieten könnte, der Begrüßung und Aufnahme von Neuen (Kindern oder Zugereisten) und ihrer Einführung in die hiesigen Sitten und Gebräuche sowie (bei der Gelegenheit und überhaupt) der Erforschung von Alternativen zu dem, was hier üblich und selbstverständlich ist. Schon die schlichte alltägliche Reproduktion des Lebens, selbst in ihren repetitiven Formen, ist Gestaltung von Gesellschaft und kann so, aber auch anders vor sich gehen. Die Ermöglichung des „guten Lebens” ist erstens hohe Kunst und zweitens die Grundlage für alles, das weiter reicht. Das alles ist Arbeit – und notwendige Arbeit, viel notwendiger als etwa die Erzeugung von Plastikspielzeug, das beim zweiten Gebrauch zerbricht (und profitabel ist, weil es so oft nachgekauft werden muss), von Fußfesseln und Landminen gar nicht zu reden. Die Arbeitsplätze, die es für die Herstellung von Produkten wie die zuletzt genannten gibt, sollte es offensichtlich besser nicht geben. Durch Mitarbeit an solchen Produkten an der Gestaltung von Gesellschaft beteiligt zu sein, bedeutet, auch wenn sich dafür eine „Nachfrage” herstellen lässt, an der Zerstörung von Gesellschaft mitzutun oder zumindest daran, sich und anderen das Leben schwer zu machen.

Man muss das nicht so hart gegeneinander setzen: Auch in der Organisation über Lohnarbeit können nützliche Produkte und Dienste entstehen. Es ist nur nicht sicher und es muss immer wieder – von denen, die die Arbeit tun, und von denen, die ihr Produkt kaufen (sollen) – gefragt werden, ob das wirklich nützlich ist. Die „Nachfrage” allein, die sich dazu (häufig genug und besonders folgenreich über Staat) organisieren lässt, beweist das noch lange nicht. Das „reale Band der Arbeitsteilung” entsteht nicht in irgendwelcher Arbeit, die irgendwer organisiert, um irgendwelche Produkte hervorzubringen. Es entsteht vielmehr durch Zusammenarbeit an einem gemeinsamen „guten Leben” für alle, und dafür genügt der Arbeitslohn nicht. Von dem kann man bekanntlich nicht abbeißen. Und was man von ihm kaufen kann, muss erst durch weitere Arbeit zum „Lebensmittel” gemacht werden (abgesehen davon, dass das Kaufen selbst harte Arbeit ist). Was man von ihm alles nicht kaufen kann, weil es zu teuer ist oder weil es gar nicht angeboten wird, schränkt den Nutzen weiter ein: Geldeinkommen ist unerlässlich, aber es reicht nicht.

Deshalb geht es nicht in erster Linie um eine „Schaffung von Arbeitsplätzen” (oder um ihre Rettung, indem man Billig-Konkurrenz verhindert4), sondern um die Ermöglichung und Hochschätzung aller Arbeiten, die für das Betreiben des eigenen Lebens in der Gesellschaft notwendig sind – unabhängig davon, ob sie sich als Lohnarbeit organisieren lassen oder nur oder besser nach anderen Prinzipien. „Arbeitsplätze” haben nur dann gesellschaftlichen Sinn, wenn das Ergebnis als erstes die Not in der Welt lindert, danach nützlich ist und jedenfalls die Qualitäten hat, die mit „Nachhaltigkeit” beschrieben werden.

Die Arbeiterbewegung hat im 19. Jahrhundert die gesellschaftliche Bewertung von Lohnarbeit verändert. Sie musste gesellschaftlich durchsetzen, dass Arbeit die Grundlage des Reichtums der Nationen ist, zumindest gleichwertig mit Kapital. Aber daraus ein „Recht auf Arbeit” abzuleiten, war von Beginn an ein Fehler. Er führte schon in den französischen National-Werkstätten zu sinnloser und daher entwürdigender Zwangsarbeit. Faschismus wie Stalinismus haben Arbeit als Strafe bis Arbeit zur Vernichtung im großen Stil in die Weltgeschichte der Arbeit eingeführt und damit deren Würde endgültig zerstört. „Verordnete ‘Beschäftigung’ in einem öffentlichen Dienst zweiter Klasse” (Greffrath) war und ist in der DDR wie in der BRD entwürdigend.5 Die Position des „Arbeitskraft-Beamten”,6 der einen garantierten Lohnarbeitsplatz zugewiesen bekam, auch wenn es dann dort garnichts Sinnvolles zu tun gab, war ebensosehr Privilegienritterei wie Demütigung.7 Garantierte Lohnarbeit ist das Gegenteil der Arbeit, die Würde und gesellschaftliche Bedeutung gibt – und sie entwertet völlig ungerechtfertigt alle anderen Formen von Arbeit, besonders das, was wir uns entsprechend falsch angewöhnt haben, als (bloße) „Hausarbeit” zusammenzufassen.

Das Gegenstück zum „Recht auf Arbeit” ist die Maxime: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen”. Tatsächlich sollen alle essen (und Wohnung und Kleidung haben und die gesellschaftliche Infrastruktur benützen), völlig unabhängig davon, ob sie aktuell ihre Arbeitskraft als Lohnarbeit verkaufen. Diese Grundausstattung des gesellschaftlichen Lebens kann und muss man sich nicht „verdienen”, nicht durch Lohnarbeit und nicht durch Einzahlungen in eine Versicherung. Wenn Greffrath überraschend und mit der Orthodoxie der produktivistischen Arbeiterbewegung behauptet, auch „ein Grundeinkommen für Arbeitslose” schließe „Menschen aus der Gesellschaft selbstverantwortlicher Bürger aus”, so ist das ein Kurzschluss, der allenfalls gilt, wenn man das Grundeinkommen doch als Auszahlung aus einer Versicherung versteht oder aber als ein Almosen. Beides ist schon jetzt nicht der Fall8 und wird erst recht falsch, wenn es steuerfinanziert ist und Steuern nicht primär die Arbeits-Einkommen, sondern den Verbrauch von Ressourcen belasten und ansonsten anteilige9 Beiträge zur Schaffung und Erhaltung der Infrastruktur sind – wie es nötig ist, wenn Beteiligung an Gesellschaft nicht auf Beteiligung durch Lohnarbeit reduziert werden soll.

Eine Politik, die sich als „links” versteht, muss also die alt-ehrwürdigen Prinzipien der Arbeiterbewegung, an die Greffrath erinnert, endlich so erweitern, dass Teilhabe an der Gesellschaft nicht (nur) über Lohnarbeit vermittelt wird, und damit den Begriff von „Arbeit” so erweitern, dass er alle Arbeitsformen umfasst, die zum Betreiben des Lebens eingesetzt werden (müssen). Sie muss sich von der Verstrickung in ein rein kapitalistisches Verständnis von „Arbeit” und damit von „Wert” befreien – von der seltsamen Idee, es gehe um die „Schaffung von Arbeitsplätzen”, gar nicht zu reden. Gesellschaftlicher Fortschritt besteht „links” darin, Lohnarbeit auf das Notwendigste zu reduzieren und dieses Minimum möglichst gleich zu verteilen, damit wir alle für die anderen Arbeiten frei werden, aus denen das Leben und das gesellschaftliche Zusammenleben besteht.10 Sozialstaat als Verteilungs-Sozialismus genügt nicht. Demokratie als allgemeines Wahlrecht und sonst Beteiligung an der Berufspolitik genügt nicht.

Mit der Orientierung an gesellschaftlicher Demokratie ist „links” heute ein wenig anspruchsvoller: Das Zentrum ist ein angemessen erweitertes Verständnis von „Arbeit”. Sie geht weder in der zähen Anstrengung der muskelbepackt-schwitzenden Industrie-Helden der Arbeit, noch gar im schnellen Glücksspiel-Gewinn der Internet-Helden der leeren Versprechungen auf. Sie hat ihre Notwendigkeit und Würde als die kluge und pflegliche Zusammenarbeit (warum nicht „gegenseitige Hilfe”?) im Betreiben des jeweils eigenen und des gesellschaftlichen Lebens.

Anmerkungen

  1. Und man sollte nicht ausschließen, dass auch Christlich-Soziale, die gewerkschaftlich und sozialpolitisch engagiert sind, mit den Interessen, die da organisiert werden, etwas anfangen können. Zurück zur Textstelle
  2. Er nennt die „Re-Regulierung der Weltmärkte”, eine europäische Sozialpolitik, europäische Großprojekte der Infrastruktur für ökologisches Wirtschaften mit keynesianischen Auswirkungen, allgemeine Arbeitszeitverkürzung, Bildung für die Arbeiten, die nicht Lohnarbeit sein sollen.Zurück zur Textstelle
  3. Die Zufälle waren die Elbe-Überschwemmung und die französisch-deutsche Irak-Kriegs-Verweigerung. Vgl. Kathy Laster und Heinz Steinert „Höhere Gewalt und anderes Unglück. Über den politischen Nutzen von Naturkatastrophen“, in: links-netz.de, März 2003.Zurück zur Textstelle
  4. Selbst wenn das nicht nationalistisch gegen die Arbeiter-Konkurrenz im Osten und Süden gerichtet ist, so ist es doch zu kurz gegriffen, wenn man nicht gleichzeitig nach der Qualität der Arbeit und des damit Hervorgebrachten fragt. Zurück zur Textstelle
  5. Immerhin kannte die DDR aber die Kategorie der (freiwilligen) „gesellschaftlichen Arbeit”, der notwendigen Arbeit im Stadtviertel und sonst für das Große & Ganze, auch wenn das weitgehend mit Partei-Arbeit gleichgesetzt wurde.Zurück zur Textstelle
  6. Zum Begriff des „Arbeitskraft-Beamten“ vgl. Heinz Steinert „Über die hilflose Verteidigung des Sozialstaats, wie er war und die Notwendigkeit einer sozialen Infrastruktur, die von Lohnarbeit unabhängig ist“, in: links-netz.de, März 2004. Zurück zur Textstelle
  7. Neuerdings ist der hauptamtliche, von „Arbeit” freigestellte Betriebsrat bei VW und anderswo ähnlich wieder ins Gespräch gekommen.Zurück zur Textstelle
  8. Die meisten Transfers finden zwischen aktiven und anderen Phasen der Lohnarbeits-Karriere statt. Niemand schenkt uns hier etwas, schon gar nicht „der Staat”. Wir finanzieren unsere Sozialleistungen selbst über Abgaben und Steuern – und durch einen höheren Steuer-Anteil kann die Sache nur sozial gerechter werden. Zurück zur Textstelle
  9. Anteilig nach dem Prinzip: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Zurück zur Textstelle
  10. Das „Reich der Freiheit” hat sich noch niemand ernsthaft als ein Schlaraffenland (bekanntlich eine Hungerphantasie, die ab einem gewissen Sättigungsgrad ziemlich eklig wirkt) von ewigem Fernsehen und Biertrinken vorgestellt – das Stichwort ist vielmehr „freie Assoziation”: der Produzenten, der Liebenden, der Haushaltsmitglieder, der Lehrenden und Lernenden, der Umsorgten und der Versorger und was es sonst an gesellschaftlichen Verhältnissen von mehr oder weniger Dauer geben mag. Die „freie” Assoziation schließt ein, dass man weggehen und dass man alleinbleiben kann, wenn und wann man will, das versteht sich. Zurück zur Textstelle
© links-netz August 2005