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Schwerpunktthema: Sozialpolitik als Infrastruktur

 

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Über die hilflose Verteidigung des Sozialstaats, wie er war

und die Notwendigkeit einer sozialen Infrastruktur, die von Lohnarbeit unabhängig ist

Heinz Steinert

Gute Politik, und erst recht gute linke Politik, hat immer schon darin bestanden, das historisch Notwendige mit dem persönlich Erstrebten möglichst Vieler in (halbwegs) Einklang zu bringen. Sozialdemokratische Politik hat sich historisch genau dadurch ausgezeichnet, dass sie nicht bereit war, eine Generation (oder mehrere) für eine großartige Zukunft zu opfern. Die großartige Zukunft muss sich so herbeiführen lassen, dass es auch bis dahin ein (halbwegs) gutes Leben gibt, jedenfalls ein besseres als gestern. Die historischen „Sündenfälle“ der Sozialdemokratie waren immer Entscheidungen, in denen es nicht gelang, eine kluge Politik zu finden, in der jene Übereinstimmung zwischen allgemeinem und persönlichem Interesse gelingt, in denen stattdessen doch ein „Opfer“ für die Zukunft des Großen & Ganzen verlangt wird. Die Zustimmung zum ersten Weltkrieg ist nur das stärkste Beispiel dafür, in dem es noch nicht einmal um irgendein allgemeines Interesse ging, in dem sie vielmehr auf populistische und nationalistische Stimmungen hereingefallen ist.

Derzeit und schon seit etwa zwei Jahrzehnten besteht Politik in Deutschland und in Europa darin, im Abbau des Sozialstaats von der Bevölkerung „Opfer für die Zukunft“ zu verlangen, und das besonders von den schwächsten Teilen der Bevölkerung. Bei konservativen Regierungen wundert uns das nicht. Bei sozialdemokratischen wundert es uns erstens grundsätzlich, zweitens besonders, wenn dabei die eigene Klientel und Wählerschaft geschädigt und verärgert wird – was jenseits aller weiterreichenden Erwägungen einfach schlechte Politik ist, und zwar schon ziemlich kurzfristig und ganz borniert schlecht: Sie endet rasch in Abwahl.

Die Politikstruktur dieses Problems ist auf der Linken durch die Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaft vorgegeben: Die Partei ist für das historisch Notwendige, die Gewerkschaft für die aktuellen Interessen zuständig. Gute Politik im Sinn beider Ziele müsste als Kompromiss zwischen diesen beiden Organisationen zustande kommen. Wenn die Partei die gewerkschaftliche Vertretung von Arbeiter-Interessen nur mehr als ärgerliches Hindernis für ihre Reformpläne sieht und nicht als Anlass, sich bessere politische Manöver einfallen zu lassen, ist die schwierige Balance der „linken Gesamt-Vernunft“ gefährdet. Wenn die Gewerkschaft zur Vertretung der Interessen eines sichtbar immer kleiner werdenden (und ohnehin relativ privilegierten) Teils der Arbeiterschaft wird, verliert sie ihre Position in dem Kompromiss-Mechanismus der Partei gegenüber. Das wird umso unangenehmer, wenn beide Organisationen in der Diagnose des Problems Schwächen haben. Wenn das alles zusammenkommt, muss man sich über eine Situation nicht wundern, wie wir sie derzeit an der deutschen Sozialdemokratie beobachten können.

Das Verkennen der Situation besteht darin, dass zwar abstrakt von einer ganz neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der globalisierten, neo-liberalen Wissensökonomie geredet, in der praktischen Politik aber so getan wird, als habe man es mit einem Konjunktureinbruch zu tun. Sozialdemokratische Politik tut so, als müsse man in den Systemen der sozialen Sicherung nur quantitativ die Beiträge und Leistungen ein wenig verschieben und könne ansonsten auf den nächsten Wirtschaftsaufschwung warten, der wieder Vollbeschäftigung herstellen wird. Und dann ist alles wieder gut. Die derzeitigen Probleme mit der Menge an nachgefragter Lohnarbeit werden als solche des Übergangs verstanden, den man daher möglichst schnell hinter sich bringen sollte. Staatliche Politik muss das Kapital in die Lage versetzen, demnächst wieder „Arbeitsplätze zu schaffen“. Gefordert wird daher ein neuer Schub an Keynesianischer Beschaffung von Arbeitsplätzen und Kaufkraft; gefordert wird Steuersenkung, natürlich vor allem für die Kleinverdiener; gefordert wird staatlicher Druck auf die Unternehmer, „Arbeitsplätze zu schaffen“.

Damit wird die Bedeutung von Lohnarbeit im Kapitalismus über- und die Radikalität des gerade geschehenden Umbaus der Produktionsweise unterschätzt. Vollbeschäftigung in Lohnarbeitsverhältnissen hat Kapitalismus noch nie hervorgebracht: Die für das Betreiben des Lebens (und gar erst eines angenehmen Lebens) wichtigsten Arbeitsleistungen, übrigens auch die Herstellung von Lohnarbeitsfähigkeit, erfolgten immer in anderen Arbeitsformen. Und selbst eine „Vollbeschäftigung“ mit Arbeitslosenquoten unter zwei Prozent, wie wir sie zuletzt in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hatten, wird es in Europa in absehbarer Zeit schon deshalb nicht geben können, weil sich, gegen alle Bestrebungen der Ausgrenzungs-Politiker, die lokal viel höheren Raten nicht mehr so externalisieren und abschotten lassen wie damals. Ansonsten haben wir es nicht mit einem Konjunktur-Abschwung zu tun, sondern mit einem Umbau der Produktionsweise. Und bei diesem neoliberalen Umbau geht es genau darum, Verhältnisse der Lohnarbeits-Vollbeschäftigung nicht mehr entstehen zu lassen, die „gesicherte“ Lohnarbeit vielmehr durch flexibles und preisgünstiges Lohnarbeits-Unternehmertum zu ersetzen.

Vom Arbeitskraft-Beamten zum Arbeitskraft-Unternehmer

Was seit dem Ende des Fordismus an Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft geschieht, kann man in der Formel zusammenfassen: Es wird als neuer „impliziter Arbeitsvertrag“ der „Arbeitskraft-Unternehmer“ durchgesetzt. Als „impliziten Arbeitsvertrag“ kann man die in einer Gesellschaft selbstverständlichen Annahmen darüber beschreiben, wie und warum ein Mensch arbeiten soll und was ihm dafür an Gegenleistung zusteht. In den verschiedenen Formationen von Kapitalismus geht es damit zunächst um die unterschiedlichen Konditionen von Lohnarbeit: arbeiten, um nicht zu verhungern; leben, um zu arbeiten; arbeiten, um (in der Freizeit) zu leben, etc.

Seit dem 19. Jahrhundert ist bei uns als Selbstverständlichkeit durchgesetzt (also hegemonial) die Vorstellung von disziplinierter und lebenslanger Lohnarbeit in einem erlernten Beruf. Dafür steht einem ein sicherer Lohn zu, der dem eingebrachten Können und der zuverlässig abgeleisteten Arbeitszeit entspricht. Er sollte den Erhalt einer Familie ermöglichen. Seit dem 20. Jahrhundert gehört dazu auch noch eine gewisse Absicherung im Fall von Krankheit und Unfall, eine gewisse Altersversorgung, schließlich sogar eine Überbrückungshilfe bei Arbeitslosigkeit. Die hegemoniale Selbstverständlichkeit war am männlichen Facharbeiter orientiert und von der Facharbeiterbewegung durchgesetzt worden. Ein Element von „Betriebs-Treue“ – von beiden Seiten – spielte in diesem Verständnis von Lohnarbeit eine beachtliche Rolle: Nicht nur der Facharbeiter blieb zunächst in seinem Beruf, aber nach Möglichkeit auch in einem Betrieb, wo er Karriere machte, auch der Betrieb blieb an seinem Ort und bot möglichst sichere Beschäftigung für möglichst viele lokale Arbeitskräfte. Idealerweise lief das auf beiden Seiten durch die Generationen: Dem Familien-Unternehmen entsprachen die Lohnarbeiter-Dynastien, die vom Großvater bis zum Enkel „bei Borsig“ arbeiteten oder in dieselbe lokale Zeche einfuhren. Die paternalistische Verpflichtung auf Gegenseitigkeit stellte sich im Fabriksdorf am greifbarsten dar.

Dieses Bild ist heute völlig nostalgisch geworden, Realität war es aber ohnehin nie. Wenn der Betrieb in wirtschaftliche Turbulenzen geriet, musste er leider doch als erstes „seine“ Arbeiter entlassen; wenn sich eine günstige Gelegenheit auftat, verlegte er Teile der Produktion an einen Standort mit geringeren Produktions- und Lohnkosten; wenn der junge Facharbeiter ein besseres Angebot bekam, wechselte er natürlich zur Konkurrenz. Der „Familienlohn“ reichte nicht für den Erhalt einer Familie, zumindest die Frau musste ebenfalls zum Lohn-Einkommen beitragen, wenn nicht auch die Kinder. Die soziale Sicherung musste man ohnehin selbst zahlen und oft genug gab es bei der Auszahlung Unregelmäßigkeiten. Und selbstverständlich galt dieses Bild nicht für wenig oder gar nicht ausgebildete Arbeitskräfte, die entsprechend nur „Hilfsarbeiter“ waren, es galt nicht für unregelmäßig Beschäftigte (darunter die Ehefrau des Facharbeiters), es galt nicht für Migranten, bevor sie gut „integriert“ waren. Die Facharbeiterbewegung konnte sie nur schlecht vertreten und hatte auch nur ein geringes Interesse, das zu tun. (Im 19. Jahrhundert standen diese Schichten daher dem Anarchismus näher als der beginnenden Sozialdemokratie.)

Die mit dem 20. Jahrhundert einsetzende Neu-Formation von Kapitalismus als „Fordismus“ hat diese Selbstverständlichkeiten grundlegend geändert: Die damit verbundene „Taylorisierung“ als Organisationsform von Lohnarbeit zielt auf entqualifizierte Arbeitskräfte, die repetitive und hoch entfremdete Arbeit gern in Kauf nehmen, wenn und weil der Lohn „stimmt“. Fordismus braucht und erzeugt die instrumentelle Arbeitshaltung des relativ „wohlhabenden Arbeiters“, der nicht mehr „lebt, um zu arbeiten“, sondern „arbeitet, um (in der Freizeit) zu leben“. Die Verlagerung der Qualifikation in die Maschinen polarisierte die Arbeitskraft: Auf der einen Seite machte sie die fordistischen Arbeitskräfte tendenziell zu Hilfsarbeitern, schnell anlern- und leicht austauschbar. Auf der anderen Seite erzeugte und verstärkte sie die Schicht von Planern, Managern, Verwaltern, Ingenieuren einerseits, von Verkäufern und sonst im Vertrieb Tätigen andererseits – die breite und uneinheitliche Schicht der Angestellten. Die austauschbaren Arbeitskräfte können und sollen mobil sein und jeweils dorthin wandern, wo sie gerade gebraucht werden und den besten Preis für den Verkauf ihrer Arbeitskraft bekommen können. „Treue“ reduziert sich jedenfalls auf der Seite des Betriebs auf eine „Kernbelegschaft“, die zu halten vorteilhaft bleiben mag. Facharbeiter träumen nach wie vor von ihr und leben sie wohl gelegentlich noch, aber in allen Positionen darunter und darüber bringt man sich weiter (oder auch nur durch), indem man oft und vorteilhaft genug den Betrieb wechselt, nicht indem man sich in einem „unabkömmlich macht“ oder „hochdient“.

Fordismus, also Massenproduktion in taylorisierter Fließband-Produktion und zugehöriger Massenkonsum, wurde zuerst in den USA entwickelt. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war das fortschrittliche Europa (inklusive der jungen Sowjetunion und eines gewissen Gramsci, dem wir den Begriff verdanken) fasziniert von der Umwälzung der Produktionsweise, die dort geschah. Wer konnte, pilgerte nach Amerika, um diese Techniken kennenzulernen und zu übernehmen.

Dazu passt die Denkfigur des „Arbeitskraft-Unternehmers“ nicht schlecht, die in den USA daher schon lange geläufig bis vorherrschend ist. Sie kontrastiert dort scharf zu der Horror-Figur des „Lohnsklaven“, der von seinem Arbeitgeber abhängig ist. Was im europäisch-paternalistischen Verständnis als „Sicherheit“ eines stabilen und gut geregelten Arbeitsverhältnisses auftrat, erschien in den USA immer (zumindest auch) als „Unfreiheit“. Die zentrale Figur ist dort der „kleine Selbständige“, der Klein-Patriarch im Familienunternehmen, die kleinbürgerliche Produktionsform – jeder Western führt uns das vor (und propagiert es). Lohnarbeit anzunehmen kann daher nur als eine Sonderform solchen unternehmerischen Handelns gesehen werden, möglichst nur vorübergehend und zum Gewinnen des Startkapitals für Selbständigkeit. Die besonderen Formen und Schwierigkeiten von Arbeiterbewegung in den USA sind nicht zuletzt auf diese ganz anderen Selbstverständlichkeiten im Verständnis von Erwerb und Lohnarbeit zurückzuführen. Und auch die europäische Form von Sozialstaatlichkeit hat in diesem Denken keinen Platz. Für ihre und seine Ab- und Versicherungen hat jede/r selbst zu sorgen. Der Rest ist patriarchale Familie und private Wohltätigkeit.

Die europäische Form von Fordismus wurde im Gegensatz dazu benützt, um Sozialstaat auszubauen, um sich in Richtung auf eine Figur zu bewegen, die man am besten als „Arbeitskraft-Beamten“ benennt: Der Staat garantiert gesicherte Arbeit und zumindest solide Absicherung, wenn das nicht gelingt. Dafür kann er die Treue-Pflicht des Beamten verlangen. Man könnte sagen, der Staat ist in das Absicherungs- und Treue-Verhältnis eingetreten, das vom einzelnen Betrieb nicht zu haben ist, in der fordistischen Variante von Kapitalismus schon gar nicht. Im Faschismus wurde mit Betriebsgemeinschaften, Arbeitsdienst und „Kraft durch Freude“ für kurze Zeit für die akzeptierten Volksgenossen etwas von der Art (samt Treue-Forderung) bereitgestellt und zugleich erzwungen. Im real existierenden Sozialismus wurde die Form des „Arbeitskraft-Beamten“ ziemlich weitgehend realisiert, freilich auf niedrigem Niveau. Die westliche Form von demokratischem Konsum-Sozialismus konnte die Sicherung nicht ganz so weit treiben, konnte dafür aber auch die Wohlstands- und Konsum-Vorteile von Fordismus bieten und sich mit der instrumentellen Arbeitshaltung zufrieden geben, die real alles ist, was „der Arbeitgeber“ ohne diktatorische Maßnahmen samt populistischem Begeisterungs-Aufputschen bekommt. Dieser Kompromiss zwischen dem Arbeitskraft-Beamten und dem freien Verkäufer von instrumenteller Arbeitshaltung ist in der fordistischen Konsum-Gesellschaft die bei weitem angenehmste Form von Arbeitsverhältnis.

Der Kompromiss wurde in der Krise des Fordismus in den 80er Jahren aufgekündigt und er wird weiter aktiv erodiert. Der Hebel dafür ist die Arbeitsmarkt-Lage: Dank hoher Produktivität und leichter Zugänglichkeit von billiger Arbeitskraft ist die seinerzeitige „Vollbeschäftigung“ nicht mehr nötig und auch durch Wirtschaftspolitik nicht wiederherzustellen. Es wird seit nunmehr über zwanzig Jahren daran gearbeitet, stattdessen den „Arbeitskraft-Unternehmer“ durchzusetzen. In Großbritannien geschah das durch Thatcher in einer ziemlich brachialen Initiative, die nun sozialdemokratisch gemildert weitergeführt wird. In Deutschland begann es umgekehrt in den gemilderten Formen, in denen Kohl vom „rheinischen Kapitalismus“ Adenauer/Erhardscher Prägung abzurücken versuchte und wird erst jetzt sozialdemokratisch (mit grünem Anhängsel) und de facto in einer großen Koalition eher radikalisiert. Die CDU/CSU bereitet sich zur Übernahme vor, indem sie sich von jenem „rheinischen Kapitalismus“ endgültig verabschiedet.

Ein irreversibler Umbau

In diesen etwa zwanzig Jahren wurde uns zugleich mit zunehmender Dringlichkeit eine Krise des Sozialstaats plausibel gemacht. Zuerst, in den 80er Jahren, war das noch eine Krise des Beschäftigungssystems, das Versagen bestand in der wachsenden Arbeitslosigkeit. Inzwischen hat sich die Definition verschoben: Jetzt, nach zwanzig Jahren der Gewöhnung an offizielle Arbeitslosenraten in der Gegend von zehn Prozent, ist es in erster Linie eine Krise des Sozialsystems, die nur mit Opfern von allen bewältigt werden könne. Neben den Arbeitslosen sind inzwischen auch die zu vielen und zu jungen Alten an dieser Krise schuld.

Tatsächlich gibt es ein paar Verwerfungen der Finanzierung: Es liegt im System der Arbeitslosen- wie der Renten-Versicherung, dass sie teuer wird, wenn sie wirklich gebraucht wird. Indem die Beiträge an die Lohnarbeit gekoppelt sind, wird im Umlageverfahren notwendig das Verhältnis zwischen den Zahlen von beteiligten Personen (nicht unbedingt aber das zwischen Beiträgen und Auszahlungen) ungünstig, wenn der Anteil der Lohnarbeit zurückgeht. Aber keine private Versicherung könnte es sich leisten, darauf mit einer Senkung der vertraglich vereinbarten Leistung zu reagieren. Und es wäre bei einer staatlich organisierten und garantierten Versicherung schon gar nicht nötig: Es muss sich selbstverständlich in solchen Zeiten der Anteil erhöhen, der aus allgemeinen Steuern gedeckt wird – wie es ja im übrigen zugleich mit den Bestrebungen, das Niveau der Auszahlungen zu senken, auch tatsächlich geschieht. Das ist auch kein besonderes Drama, denn Sozialversicherungs-Beiträge werden ohnehin als etwas wie Steuern mit Zweckbindung verstanden. Insofern würde uns eine Verschiebung von Ausgaben zwischen diesen beiden Finanzierungen wenig bekümmern. Ähnliches gilt für die Renten, noch ganz abgesehen davon, dass es nicht auf die Zahlenverhältnisse zwischen Alten und Jüngeren ankommt, sondern auf die erarbeiteten und benötigten Summen. Es ist also keineswegs zwingend, dass auf diese Finanzierungsprobleme mit Kürzung der Sozialleistungen reagiert wird. Sozialstaats-Abbau geschieht offenbar mit einer weitergehenden Funktion: Umbau der Arbeitsmoral, des „impliziten Arbeitsvertrags“, zum Arbeitskraft-Unternehmer.

Dieser Umbau ist auch ziemlich weit fortgeschritten und irreversibel: Er wird einfach hergestellt, indem der Anteil der „gesicherten“ Arbeitsplätze verringert wird. Die neue, erzwungene Selbständigkeit, die seinerzeit als „Schein-Selbständigkeit“ skandalisiert (und – vergeblich – in das Sozialversicherungs-System rückzuführen versucht) wurde, breitet sich besonders in der Dienstleistung aus. Offensichtlich ist sie auch nicht allen so schrecklich: Die Gebildeten etwa können mit dieser Zumutung durchaus etwas anfangen und erleben sie oft genug als die Möglichkeit der Autonomie. Vor dem Zusammenbruch der New Economy war die Phantasie sogar besonders attraktiv, als Selbständiger im Internet aufzutreten und über den Börsengang oder anderes Risiko-Kapital eine satte Finanzierung zu erreichen. Aber auch außerhalb solcher Ausnahme-Blasen können sie in der prekären Form des Projekte-Machens zumindest leben. Wer nur „dazuverdienen“ muss oder sonst andere Lebensäußerungen für wichtiger hält als Lohnarbeit, findet ebenfalls nicht so viel daran, zumindest in jungen Jahren unterhalb oder außerhalb der Sozialversicherungs-Grenzen ein Einkommen zu machen. Und vielen bleibt schließlich nichts anderes übrig, als ein Auskommen aus den verschiedenen Quellen zusammenzustoppeln. Der (womöglich noch langfristig) „gesicherte“ Arbeitsplatz und die damit verbundene soziale Absicherung ist einfach nicht erreichbar in einer Situation, die wendiges Sich-Durchbringen zwischen allen Formen von Einkommen von familiärer Unterstützung über selbständige Geschäfte bis zu gelegentlicher Lohnarbeit erzwingt.

Hilflose Verteidigung des Sozialstaats

In der Gegenwehr will ein „linker Traditionalismus“ die gute, alte, allseitig abgesicherte Lohnarbeit für alle wieder herstellen – und damit wäre auch die gute, alte Sozialpolitik, die sich aus dieser lebenslangen, regelmäßigen und ununterbrochenen Lohnarbeit ergibt, wieder in Ordnung. Wir vernachlässigen damit alles, was jemals über die Disziplinarfunktion des traditionellen Sozialstaats, über Frauendiskriminierung oder Verursachung von sozialer Ausschließung in ihm herausgefunden und diskutiert wurde. Dazu wissen wir zwar auch nicht, wie jene „Vollbeschäftigung“ wieder entstehen soll (außer Leistungskürzungen und Zwangsmaßnahmen ist da in der Regierungszeit von Sozialdemokratie+Grüne wenig sichtbar geworden, während die Arbeitslosigkeit um mehr als ein Drittel zunahm), aber dafür ist ja auch „die Wirtschaft“ zuständig, die muss dazu gebracht werden, „Arbeitsplätze zu schaffen“. Das würde sie tun, wenn sie genügend Profite gemacht habe, also senken wir die Steuern und fahren die gute, alte Sozialpolitik (von der, wie die Wirtschaft klagt, die Lohnarbeit verteuert wird) herunter und machen auch sonst den Leuten das Leben schwer, besonders den Arbeitslosen und den Armen, die so viele geworden sind und daher so viel kosten. Das ist ein verrückter Zirkel, der genau das herbeiführt, was wir eigentlich verhindern wollen: Selbstmord aus Angst vor dem Sterben.

Dazu gehört, sehr selbstverständlich und kaum zu erschüttern, die Vorstellung, nur Lohnarbeit sei Arbeit, alles andere ist Freizeit, nicht eine andere Form von Arbeit. Die tun so, als könnte man von dem Geld, das man verdient, unmittelbar abbeißen oder als wären selbst die Waren und Dienste, die man davon (vielleicht) kaufen kann, schon die fertigen gebratenen Tauben, die einem in den Mund fliegen. Dass ganz viel von dem, was in Lohnarbeit hergestellt wird, mehr schadet als nützt und zumindest Schund ist, kann, ungebremst produktivistisch, nicht weiter beachtet werden, solange dabei nur „Arbeitsplätze geschaffen“ werden. Alle feministischen Einsichten in den Stellenwert von Hausarbeit scheinen in diesem Verständnis von Wirtschaften und Reichtum der Nationen ebenso verlorengegangen zu sein wie die Öko-Einsichten in den Zerstörungs-Effekt von Waren-Produktion wie die Internationalismus-Einsichten in die ruinösen Wirkungen dieser Art von Arbeit wie Freizeit für den Rest der Welt.

Auf Lohnarbeit und möglichst gut gesicherte Lohnarbeits-Verhältnisse fixiert, wird der neo-liberale Umbau einfach als Lohndrücken und Herstellen eines Niedriglohn-Sektors verstanden. Tatsächlich lässt sich gut beobachten, wie viel umfassender und auf allen Ebenen der Qualifikation Mobilität erzwungen, „Out-sourcing“ betrieben und die stabilen Arbeitsverhältnisse durch prekäre ersetzt werden. Das war in den unteren Anteilen der Unterschicht schon immer so, dass das Auskommen durch vielfältige Unternehmungen zusammengestoppelt werden musste. Jetzt wird es dort verschärft, indem die Sozialstaats-Komponente dieses „Zusammenstoppelns“ knapper und mühsamer zugänglich gemacht, besonders aber weiter oben als Selbständigkeit (die Soziologen thematisieren das als „Individualisierung“) propagiert und erzwungen wird. Letzteres gilt besonders für die Leute mit einem universitären Ausbildungs-Zertifikat, die in der „Wissens-Gesellschaft“ an einem besonderen Schub von Rationalisierung nicht zuletzt ihrer eigenen Arbeitsbedingungen arbeiten, der ihnen schmackhaft gemacht wird, indem er als Einsatz des (mit neuer Wichtigkeit ausgestatteten) „Produktionsfaktors Wissen“ gilt. Was die vergrößerte Schicht der Berater und Rationalisierungs-Experten nährt, macht die mit weniger Ausbildungs-Zertifikaten Ausgestatteten, vor allem aber stabile Arbeitsverhältnisse entbehrlicher. In einem Satz: Der „Arbeitskraft-Unternehmer“ wird durchgehend zur herrschenden Arbeitsform gemacht.

In der traditionalistischen Gegenwehr, die auf die wunderbare Wiederkehr der Vollbeschäftigung hofft und bis dahin versucht, das gesicherte Lohnarbeits-Verhältnis mit möglichst wenig Abstrichen über die Runden zu retten, schlägt im Zweifel einfach die politische Sehnsucht nach den Kampf-Verhältnissen der guten, alten Arbeiterbewegung durch. Die absurdeste Ausprägung davon ist der Versuch, das Kapital zu verpflichten oder gar über Straf-Abgaben (z.B. für Betriebe, die keine Lehrlinge ausbilden) zu zwingen, „Arbeitsplätze zu schaffen“. Zumindest in der politischen Rhetorik wird inzwischen selbstverständlich so getan, als könne es ein Ziel von kapitalistischem Wirtschaften sein, „Arbeitsplätze zu schaffen“. Das war noch nie dessen Ziel und kann für den einzelnen Betrieb „bei Strafe des Untergangs“ auch keines sein, schon gar nicht bei den gegebenen Möglichkeiten von Rationalisierung über verbesserte Organisations-, Automatisierungs- und Auslagerungs-Möglichkeiten. Das realitätsblinde Festhalten an einer solchen Hoffnung, verbunden mit der auf einen „Aufschwung“, der aus Gründen, die niemand nennen kann, vielleicht demnächst doch eintreten wird oder doch eintreten sollte, ist die letzte Absurdität dieses linken Traditionalismus.

Diese Haltung mit ihrer Fixierung auf Vollbeschäftigung macht Gewerkschaften wie Sozialdemokratie politikunfähig: Die Gewerkschaft wird zum Verein zur Arbeitsplatz-Verteidigung für die immer kleiner werdende Zahl der „gesicherten“ Arbeiter. Daher kann sie keine Ökologie-Politik machen, keine vernünftige Einwanderungs-Politik, auch keine Sozialpolitik. Und die Sozialdemokratie ist allseitig durch die Wirtschaft erpressbar, weil sie ihre Wähler nur zusammenbringt, wenn sie als Vollbeschäftigungs-Partei glaubhaft ist. Daher macht sie Politik für das Kapital unter dem Stichwort „Standort-Sicherung“ und versucht sie als Arbeitsmarkt-Politik zu verkaufen.

Die traditionelle Analyse der Situation unter dem Blickwinkel der Klassenkämpfe läuft derzeit eklatant leer: Die Widersprüche sind auf dieser Ebene durch lange Jahre von populistischer Politik erfolgreich eingeebnet. Als „Subjekt“ erscheint (übrigens fast allen Beteiligten) am ehesten das Kapital selbst. So neu und unerhört ist diese Situation auch wieder nicht. Schon Adorno hat 1946/47 in Minima Moralia 124 „Vexierbild“ die Frage „Wo ist das Proletariat?“ als eine „grimmige Scherzfrage“ für Soziologen bezeichnet. Dem sind eine ganze Reihe von weiteren „Abschieden vom Proletariat“ gefolgt. Das Festhalten am orthodoxen oder auch modifizierten Modell von Krise und Umwälzung der Produktionsweise, inzwischen häufig abgemildert zu Offensive (der Kapitalseite) und Widerstand, in dem die jeweils „Neuesten Sozialen Bewegungen“ den Platz des weiland Proletariats einnehmen sollen, überzeugt nicht mehr.

Übrigens findet sich schon bei Marx die Analyse der Klassenkämpfe bevorzugt dann, wenn es eine Niederlage zu erklären gibt. Das lässt sich auch für die heutige Situation machen:

Der Umbau zum „Arbeitskraft-Unternehmer“ war den Angehörigen der neuen qualifiziert ausgebildeten Schicht von Informatikern, Betriebswirten und anderen Projektemachern durchaus überzeugend, so lange die „New Economy“ schnelle Erfolge in Arrangements dieser Art versprach: Die „start-up“ Gründungen der „Unternehmer ohne Kapital“ mit ihrer Nähe zu einem Casino-Kapitalismus gaben dem Modell eine Plausibilität, die ohne dieses Zusammentreffen mit der Aufwärts-Phase einer Spekulations-Blase nicht entstanden wäre. Das Modell des „Arbeitskraft-Unternehmers“ verspricht die Autonomie der Arbeit, die von Leuten mit einem hohen (und späten) Ausbildungsabschluss in ihren Tätigkeiten angestrebt wird. Auch die unternehmerischen Qualitäten bringen diese Personen, die eine professionelle Tätigkeit anstreben, mit. Die Lebensweise passt ihnen zumindest in der Jugend.

Einen Ansehens- und Privilegienverlust bedeutet das Modell des „Arbeitskraft-Unternehmers“ für Beamte und gesicherte Arbeiter, deren machtvolle Organisationen ihn daher bekämpfen. Die sind aber bereit, momentane finanzielle Einbußen hinzunehmen, wenn nur das Gesamt-System der gesicherten Arbeit erhalten bleibt. (Das tut es allerdings bestenfalls formal, es wird real durch Verringerung der Menge solcher Arbeitsverhältnisse ausgehebelt.) Angesichts dieser Gegenmacht werden die Kürzungen dort zu machen versucht, wo die Betroffenen sich weniger wehren können: am unteren Ende, bei den Ungesicherten. Daher werden Sozialhilfe und die Leistungen der Arbeitslosen-Versicherung gekürzt. Der gleichzeitige Abbau der sozialen Dienste reduziert Staatsausgaben zusätzlich und zwar bei der Klientel der „Linken“ (z.B. Sozialarbeitern oder Lehrern). Wer einmal in dieser Situation der Halb-Ausgrenzung ist, hat andere Sorgen als sich großartig politisch zu empören und zu betätigen. Außerdem tut man das nur, wenn man eine gute Aussicht auf Erfolg hat, nicht wenn man alternativenlos eingemacht wird.

In der Situation des Umbaus zu Neo-liberalem Kapitalismus und damit zum Arbeitskraft-Unternehmer ist eine qualitativ veränderte Organisation von sozialer Sicherung nötig. Wenn es das gesicherte Lohnarbeitsverhältnis nur für wenige überhaupt und schon gar nicht stabil und lebenslang geben wird, kann man soziale Sicherung nicht mehr auf den Anrechten aufbauen, die man in ihm erwirbt. Schon die Gegenwehr gegen diesen Abbau der gesicherten Lohnarbeitsplätze wird dadurch verhindert, dass alle gezwungen werden, sich auch aus Gründen der sozialen Sicherung in die Konkurrenz um diese weniger werdenden Positionen zu begeben und sich als „Versager“ zu verstehen, wenn sie keine erreichen.

Wenn die Ökonomie so umgebaut wird, dass die überkommenen Arrangements des Sozialstaats ausgehebelt werden, ist es Aufgabe des Staates, die Infrastruktur für das gesellschaftliche Leben in anderen Formen zu finanzieren und zur Verfügung zu halten. Es ist in erster Linie eine Aufwertung aller Arten der informellen Arbeit und eine Relativierung des Stellenwerts von Lohnarbeit nötig ist. Das aber setzt, damit es in sozialer Praxis erfahren werden kann, eine Sozialpolitik losgelöst von Lohnarbeit voraus. Erst auf der Grundlage einer solchen Erfahrung von sozialer Infrastruktur (und der Kämpfe darum) wird sich der Arbeitsbegriff realitätsangemessen erweitern und der Lohnarbeits-Fetisch aufgegeben werden können. Unter der Voraussetzung könnte auch die (noch) gesicherte Lohnarbeit neue, nicht nur defensive Interessen bekommen und sich in einer neuen Weise darum kümmern, was das eigentlich ist, das man produziert, und welche Kosten diese Produktion (z.B. für die Umwelt, aber auch für das soziale Zusammenleben) hat.

Die soziale Sicherung einer Gesellschaft von „Arbeitskraft-Unternehmern“ funktioniert eben nicht lohnarbeitsabhängig und nach dem Versicherungsprinzip. Sie kann vernünftigerweise nur eine steuerfinanzierte Infrastruktur für das Betreiben des Lebens in seinen vielfältigen Formen sein, die allen zur Verfügung steht.

© links-netz März 2004