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Kulturindustrie Übersicht

 

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Gespräch über Kulturindustrie

Felix Klopotek (Kölner StadtRevue) befragt Heinz Steinert (Frankfurt/Wien)

FK: Vor 30 Jahren wurde Adorno rezipiert als großer Ideologiekritiker: Adorno als Gegenspieler Martin Heideggers und Kritiker des Wissenschaftsbetriebes, als genialer Interpret Samuel Becketts, als Erneuerer der Pädagogik, als jemand, der so beliebte Schlagwörter wie „Kritik“, „Praxis“, „Fortschritt“ oder „Freizeit“ auseinander nimmt. Das ist vorbei. Heute wird Adorno vor allem als Theoretiker der Kulturindustrie wahrgenommen. Wie ist es dazu gekommen?

HSt: Ich bin nicht ganz sicher, in welcher Öffentlichkeit das so ist, wie Sie es wahrnehmen. Wahr ist aber, dass Gesellschaftstheorie und Gesellschaftskritik heute öffentlich nicht mehr besonders interessieren. Statt Gesellschaftstheorie genügen uns ein paar griffige Formeln wie Risiko-, Erlebnis-, Multi-Optionen-, post-industrielle, Dienstleistungs-, Informations- oder Wissens-Gesellschaft, und ähnlich Beliebiges mehr. Und Gesellschaftskritik wird von den Politikern und Wirtschaftsfunktionären selbst betrieben, die das Volk in Trab und Hinnahme-Bereitschaft halten, indem sie immer wieder eine „Krise“ ausrufen, besonders gern Krisen des Systems der sozialen Sicherung, damit es abgebaut werden kann. (Dass man stattdessen angesichts der Arbeitsmarktlage in ganz Europa die soziale Sicherung radikal von der Lohnarbeit, schon gar von der lebenslangen, die es nicht gibt, lösen muss, fällt ihnen mangels Gesellschaftstheorie und -kritik gar nicht ein.)

Dazu haben wir es aufgegeben, uns Gedanken über „Befreiung“ zu machen. Die Befreiung vom Real-Kommunismus (den die Kritische Theorie früher kritisiert hat als die meisten, die es hinterher schon immer gewusst hatten) hat uns auch davon befreit, Alternativen zum Kapitalismus und seinen populistischen Verwaltungen überhaupt nur denken zu sollen und zu können. Stattdessen setzen wir darauf, dass ein global durchgesetzter Radikal-Kapitalismus irgendwann mit „unsichtbarer Hand“ allgemeinen Wohlstand, blauen Himmel und unerschöpfliche Ölquellen hervorbringen wird. Bis dahin tun uns die leid, die sich in dem etwas rauen Übergang nicht zu bereichern verstehen, und hoffen, dass seine Härten nicht zu lange anhalten.

Wer braucht in einer solchen Situation eine „Kritische Theorie“ und „nonkonformistische Intellektuelle“?

Was verstand Adorno überhaupt unter Kulturindustrie? Inwiefern sollte sich die heutige Kritik noch auf Adorno stützen?

„Kulturindustrie“ bedeutet, auf die knappste theoretische Formel gebracht, intellektuelle Produktion unter den Imperativen von Warenförmigkeit. Und das meint intellektuelle Produktion im weitesten Sinn: Architektur und Design, Wissenschaft und Technik, Städte- und Verkehrsplanung, die Form von Politik, Verwaltungs-Organisation, Management-Doktrinen, zuletzt auch Kunst und Unterhaltung. Wie andere Waren, so werden auch Ideen, Pläne, Programme, Abläufe und Artefakte so hervorgebracht, dass sie sich gut verkaufen lassen, und nicht, wie es Aufgabe der Intellektuellen wäre, mit dem Ziel, zum Fortschritt der Menschheit beizutragen – was ganz bescheiden hieße: den Hunger und die Angst, die Konkurrenz und die „bürgerliche Kälte“, die Möglichkeiten der sozialen Ausschließung verringern zu helfen.

Dieser kritische Begriff von „Kulturindustrie“ wurde im öffentlichen Gebrauch zweifach verdorben: Er wurde erstens eingeschränkt auf Fernsehen, Pop-Musik und Journalismus. Schon wenn man ihn auf Hochkultur wie z.B. das Kunstmuseum anwendet (wie Christine Resch und ich das kürzlich in „Die Widerständigkeit der Kunst“ getan haben), finden die Leute das verwunderlich. Damit wurde Adornos Kritik verharmlost zum Nörgeln eines Kultur-Snob, der halt mit der Populär-Kultur nichts anfangen kann und angeblich „die Massen verachtet“ (oder gängeln will, oder beides), die sich in billigen und verdummenden Vergnügungen suhlen, statt Schönbergs II. Streichquartett zu hören, Becketts „Endspiel“ zu sehen und die „Negative Dialektik“ zu lesen. Zweitens wurde der Begriff noch positiv gewendet: In der Wissens-Gesellschaft ist nichts erstrebenswerter als ein Job in einer der „Kulturindustrien“, also in der Werbung, im Kulturmanagement, in der politischen PR, in den Beratungen aller Art, vom make-up zum merger, von den Falten am Bauch bis zu den Finanzen der Aktienbesitzer, von der Einrichtung der Wohnung bis zum Entlassen überflüssig gewordener Mitarbeiter. In der Wissens-Gesellschaft sollen möglichst alle Produkte von Denken zu Waren werden, je teurer und/oder je massenhafter auf den Markt zu bringen, umso besser für uns Verkäufer.

Wenn der Begriff also kritisch verwendet werden soll, dann muss man schon Adorno wieder im Original lesen und den Begriffs-Müll wegschaufeln, von dem „Kulturindustrie“ im öffentlichen Gebrauch verschüttet und ins Absurde verfälscht wurde und wird.

Adornos 100. Geburtstag steht bevor, und die Flut der Sekundärliteratur, der Beiträge, Würdigungen, Ausstellungen zu Leben und Werk ist schon lange nicht mehr zu übersehen. Adorno ist selbst Bestandteil der Kulturindustrie geworden, ein Markenartikel. Was bedeutet es für die Kritik der Kulturindustrie, wenn sie selber Teil der Kulturindustrie ist? Bleibt am Ende nur die Resignation: No one gets out of here alive?

Das ist Adorno schon zu Lebzeiten passiert. Seine Bücher, seine Vorträge, seine Diskussionsbeiträge in Radio und Fernsehen waren nicht zuletzt gefragt als Buß-Predigten – ein Genre, auf das kein gut ausgebauter Unterhaltungs-Apparat verzichten kann. Es gibt in der Tat keinen Ort außerhalb der Kulturindustrie. Deshalb kann kritisches Denken nur reflexives Denken sein: Erforschung der Herrschaft (also zum Beispiel der Aspekte von Waren- oder Verwaltungsförmigkeit) in unseren Selbstverständlichkeiten, in unseren Begriffen, schon in unseren Fragestellungen. Dazu braucht man keinen moralischen oder ästhetischen Standpunkt außerhalb, wie ihn Habermas und die ihm folgende Revision der Kritischen Theorie suchen, sondern das ist das ganz normale Verfahren der Reflexivität, wie es seit Kant, Hegel und Marx in der europäischen Philosophie entwickelt wurde.

Wie drückt sich dieses reflexive Denken praktisch aus?

Nehmen Sie etwa, um das kurz zu illustrieren, den Begriff „Publikum“, harmlos und selbstverständlich. Er setzt aber voraus, dass es beim Ereignis „Kunst“ oder auch „Unterhaltung“ einen (großen) passiven Teil gibt, der unterhalten, belehrt, erhoben und sonst betan wird, und zwar von Profis, die davon leben wollen, die daher jenes „Publikum“ zu einer Nachfrage und im Zweifel zum Zahlen veranlassen müssen – es soll sich amüsieren, soll staunen, soll ergriffen sein oder außer Rand und Band geraten, das alles aber in erster Linie zu dem Zweck, andere davon erfahren zu lassen, damit sie ihrerseits nachfragen und zahlen. Das „Publikum“ ist nur wichtig, weil es zahlreich sein, selbst zahlen und an andere weiterempfehlen soll. Dort wo es, wie beim Fernsehen, nur mehr abstrakt, als Einschalt-Ziffer auftritt, wird das eigenartige Verhältnis zwischen Produzenten und Konsumenten, das im Begriff „Publikum“ eingefroren ist, besonders gut sichtbar. (Um dem abzuhelfen, werden neuerdings Leute ins Studio geholt, um dort ein „Publikum“ darzustellen, so dass wir als „Publikum“ vor der einsamen Glotze auch sehen können, dass wir gar nicht so allein sind. Natürlich wird uns auch vorgeführt, wie wir uns als „Publikum“ zu benehmen haben, welche Gefühle wir haben und zeigen können bis sollen. Wir können uns da mit hineinsteigern. Wir haben damit aber auch die zusätzliche Möglichkeit, dieses “Publikum“, das oft als albern und gierig vorgeführt wird, zu verachten und uns besser vorzukommen, so als gehörten wir nicht selbst auch dazu.)

Sie sehen, die Spirale der Reflexion dreht sich immer weiter. Die verschiedenen Kulturproduzenten sind ja ihrerseits auch nicht dümmer, auch nicht unbedingt gescheiter als wir, das „Publikum“, und verhalten sich selbst schon reflexiv zu ihrem Medium und ihren Produkten. Sie liefern oft genug die Ideologiekritik schon mit – als eigenes Genre der Unterhaltung. Indem wir als „Publikum“ verstanden werden, das nur relevant ist als große Zahl und Träger von möglichst guter Nachrede, werden wir instrumentalisiert und verachtet. Im Fernsehen, wo es in der Hauptsache darum geht, uns überhaupt wach zu halten, ist das vergleichsweise harmlos, ärgerlicher ist es in der Politik und in der Wirtschaft, wo dieses Verständnis von „Publikum“ reale Folgen hat.

Gegenfrage: Ist die Kulturindustrie nicht vielmehr grotesk überschätzt? „It's the economy, stupid!“, lautete einst der Wahlkampfspruch Bill Clintons. Muss sich das nicht auch die Linke viel größer auf die Fahnen schreiben? Vergesst mal Kunst und Fernsehen und schaut euch die realen Krisen des Kapitalismus und die realen Klassenkämpfe (von Frankreich bis Argentinien) an!

Wenn man „Kulturindustrie“ auf Kunst und Fernsehen reduziert, wird sie in der Tat grotesk überschätzt. Wenn man vernünftig (und nicht per Fragebogen) mit ihnen redet, glauben die meisten Leute kein Wort von dem, was Politiker im Fernsehen verkünden, oft nicht einmal den Alltags-Tratsch der Boulevard-Presse oder neuerdings des Internet. Das Fernsehen wird zum Abschlaffen, oft genug zum Einschlafen verwendet. Kunst ist nach wie vor das Metier einer kleinen Subkultur der gebildeten Klasse und ansonsten eine Ware mit besonders irrationalen Preisen, die ein wenig der besonders obszön hohen Einkünfte abzuschöpfen imstande ist. Am interessantesten an ihr ist die Auseinandersetzung mit Kulturindustrie, die Subversion und die Widerständigkeit in immer neuen Volten und Wendungen. Das rettet die Welt nicht, aber es hält im glücklichen Fall doch fest, dass die herrschende Wirklichkeit, also die Wirklichkeit der Herrschenden, nicht die einzig denkbare ist.

Anders ist es, wenn man „Kulturindustrie“ richtig, in Adornos Sinn versteht. Dann bestimmt Kulturindustrie unser Leben ganz materiell, zum Beispiel durch die gebaute, oft verbaute Welt, an der wir uns stoßen oder gar den Kopf einrennen. Dann bestimmt sie die „realen Klassenkämpfe“ durch Rechte, Ansprüche, Ressourcen und Möglichkeiten, die uns von Wirtschaft, Verwaltung und Politik eröffnet oder versperrt werden. Wenn die „gebildete Klasse“ sich weiter vergrößert und „Wissens-Ökonomie“ einen zunehmend relevanten Sektor der Wirtschaft ausmacht, gewinnt „Kulturindustrie“ weiter an materiellem Gewicht. Wenn man Kulturindustrie als die Form, als die Produktionsweise versteht, in der die Welt intellektuell bearbeitet wird, dann hat sie materielle Bedeutung. Als Horizont des Selbstverständlichen legt sie Hegemonie fest, als „gebaute“ und sonst verwirklichte bestimmt sie unsere Lebensmöglichkeiten ganz direkt.

Die Gegenüberstellung, die Sie in Ihrer Frage aufbauen, beruht auf einem falschen populär gebräuchlichen Begriff.

Marxistische Kritiker haben Adorno und seinen Kollegen vom Institut für Sozialforschung vorgeworfen: „Ihre ganze Theorie besteht ja in der Suche nach unausweichlichen Gründen für Unterwerfung.“ Gemeint war, dass Adorno und sein Kollege Max Horkheimer überall bloß noch Verfall und Verblendung ausmachen würden. Das einzige was ihnen geblieben sei, war der Kritizismus der Privilegierten. »Grand Hotel Abgrund«, hat das der Kommunist Georg Lukács genannt. Ist die Radikalität Adornos in Wirklichkeit eine Scheinradikalität?

Die weiland „Marxistischen Kritiker“, K-Gruppen mit ihrer verspäteten Nachstellung einer militanten Arbeiterbewegung ebenso wie Marxologische Diskutierer, die nur die Universität aufmischen wollten, haben seinerzeit genügend Unfug und Leid, nicht zuletzt bei ihren eigenen Mitgliedern, angerichtet. Der Wettlauf um möglichst „radikale“ Aussagen (leider manchmal auch Taten) gehörte zu diesem Unfug. Der Mythos von Revolution und Kaderpartei hat sich schon in der französischen und in der russischen Revolution, beides bürgerliche Revolutionen, in denen ein Proto-Proletariat als Rammbock eingesetzt wurde, und in den blutigen Tugend-Diktaturen und Bonapartismen, die ihnen jeweils folgten, eigentlich zur Genüge desavouiert. Davon ist nichts geblieben, das uns heute weiterhelfen könnte. Es ist heute klar, wie es übrigens schon zu Zeiten der K-Gruppen dem anti-autoritären Flügel der Studentenbewegung klar war, dass nur die unorthodoxen Varianten von „westlichem Marxismus“, also die anarchistischen, genossenschaftlichen und sonst anti-autoritären, „alternativen“ Bewegungen und die Theorien, die sich der ML-Orthodoxie entzogen, darunter an vorderster Stelle die Kritische Theorie, noch von Belang sind.

Adorno hat eine Theorie der Befreiung vertreten, die seiner Position als Intellektueller entsprach: Befreiung entsteht als Arbeit am „Fortschritt der Produktivkraft“, daher als Kritik der Herrschaft, die ihn verhindert oder in „Fortschritt der Herrschaftsmittel“ und „Fortschritt der Destruktivkraft“ umlenkt. Diese Arbeit als Kritik der Selbstverständlichkeiten von Herrschaft erfordert höchste Anstrengung unter Einsatz aller Errungenschaften von Wissen und Können, die unter dieser Herrschaft entstanden sind. Es gibt, siehe „Kulturindustrie“, kein Wissen und Können außerhalb. Befreiung geschieht innerhalb des Herrschaftssystems und mit seinen avanciertesten Mitteln. Es gibt keine „andere“ Erfahrung und keine Ursprünglichkeit, die sich dem bürgerlichen Wissen und Können entgegensetzen ließe. Und es gibt, als „Dialektik der Aufklärung“, auch keinen stabilen Zustand der Freiheit, denn mit der Stabilisierung schlägt Freiheit in neue Herrschaft um. Es gibt nur Momente der Befreiung, die immer wieder neu erarbeitet werden müssen. Marx hatte dafür das Wort „Revolutionierung“, „Umwälzung“, ein langwieriger Vorgang, kein Putsch oder Staatsstreich, in ein paar Wochen zu erledigen. Man kann es auch „radikaler Reformismus“ nennen.

Adorno war pessimistisch, insofern er in seiner historischen Erfahrung die Kräfte der „Reaktion“ siegen sah, insofern er die Frage „Sozialismus oder Barbarei“ historisch geklärt sah: Es war zur Barbarei gekommen. In dem Stadium nach der (bürgerlichen) Barbarei war von denen, die sie (zufällig und ohne guten Grund) überlebt hatten, die Theorie der Gesellschaft und der Befreiung neu zu denken. Der frühe „Abschied vom Proletariat“ und dieses klare Bewusstsein von Barbarei war und ist der Fortschritt, den die Kritische Theorie brachte und bewirkte.

Der Kritiker Wolfgang Pohrt hat einmal polemisch verkündet: »Verbessern, vertiefen, erweitern lässt sich Adornos Werk nicht, aber man kann es in der öffentlichen politischen Diskussion benutzen, wozu man aus Gründen der intellektuellen Selbsterhaltung sogar gezwungen ist.« Gerichtet war das an die Adresse linker Akademiker, die zu Adorno unendlich viel Sekundärliteratur produzieren, dabei aber die Intention seines Werkes, nämlich radikale Kritik zu üben, verfehlen und Adorno in den öden Wissenschaftsbetrieb eingliedern. Ganz konkret: Sie sind Professor, Sie haben Sekundärliteratur verfasst ... Wie gehen Sie mit dem Widerspruch um, an der Universität Wissenschaft zu betreiben, deren Gegenstand eine radikale Wissenschafts- und Gesellschaftskritik ist?

Erstens sage ich mit Peter Rühmkopf: „In meinen Kopf passen viele Widersprüche.” Das gehört zur Grundausstattung für reflexives Denken. Zweitens stammt die Aussage von Pohrt aus einer Situation, die nicht mehr gegeben ist: Wer sich heute in den Gesellschaftswissenschaften wie in der Philosophie mit der älteren Kritischen Theorie, also mit Adorno und Horkheimer beschäftigt (statt mit der moralphilosophischen Revision von Kritischer Theorie – und noch viel besser natürlich mit Systemtheorie), gefährdet seine Chancen und seine Beachtlichkeit in der jeweiligen „Profession”. Drittens ist der „öde Wissenschaftsbetrieb” ein kulturindustrielles Cliché im Dienst der Unbekümmertheit des Denkens: Wenn diese Theorie leben soll, muss sie auch tradiert und aktualisiert und dazu kritisiert und historisiert werden. Daran muss nichts „öde” sein. Ich habe sie in meinen Büchern mit Achtung und Verständnis, aber ohne Respekt eher zum Tanzen gebracht.

Ich war nie ein „Schüler” und bin daher persönlich unbefangen. Mich hat in „Adorno in Wien” seine Theorie der Befreiung auf dem Hintergrund seiner Erfahrung des Wien der 20er Jahre interessiert: Erstens war der musikalische Erfahrungs-Hintergrund dieser Theorie der Befreiung herauszuarbeiten. Zweitens wollte ich, weil in meiner Familiengeschichte das „Rote Wien” ziemlich wichtig ist, wissen, warum es von Adorno gar nicht wahrgenommen wurde. Und die Frage „Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte” hat mich als ehemaligen Jazz-Musiker beschäftigt, also mit Erfahrung, aber ohne den Zwang zum Eifern, den Jazz-Apologeten bei dieser Gelegenheit gern zeigen. Ich wollte verstehen, wie ein weltoffener, hochtrainierter Komponist und Philosoph dazu kommt, Jazz als „faschistische” Musik zu klassifizieren. Wenn man sorgfältig historisiert (die Jazz-Theorie hat Adorno 1936 unmittelbar nach der Exilierung durch die Nazis auf der Grundlage von „Weimarer” Erfahrungen konzipiert), ist ein solches Verstehen auch möglich und ein weiterer Beitrag zur Klärung von Adornos Theorie der Befreiung. Aus dem „Wissenschaftsbetrieb”, nämlich aus der Erfahrung der universitären Lehre geschrieben ist meine „Kulturindustrie”, eine Anleitung zum Lesen des Kulturindustrie-Kapitels und zum Analysieren von heutigen Kulturindustrie-Erfahrungen. Das Wort „öde” ist in keiner Rezension vorgekommen, eher das Gegenteil.

Wahr ist freilich, dass zur Zeit gerade in Deutschland und Europa eine Universitätsreform läuft, die dem Anspruch von Wissenschaft als Aufklärung ein Ende setzt und Wissenschaft stattdessen auf „instrumentelle Vernunft”, wie von Adorno und Horkheimer analysiert und kritisiert, herunterbringt. Die Wissens-Gesellschaft braucht das. Insofern kann man gerade beobachten, wie Kritische Theorie aus dieser neuen Universität ausgetrieben wird, auch personell. Die Universität hat aufgehört, der Ort von kritischem, reflexivem Denken zu sein: Dieses Experiment, das mit der letzten Bildungsreform in den 70er Jahren begann, wird gerade abgebrochen. Dann wird die Kritische Theorie in ihren Texten eben anderswo weiterleben. Diese Texte hat Adorno bekanntlich als „Flaschenpost” verstanden. Sie sind weder politische Programme noch utopische Entwürfe. Irgendwelche direkte „Umsetzung” in Gesellschaftsveränderung war ihm nicht plausibel. Die Idee wäre ihm höchst zuwider gewesen. Darum geht es nicht.

Vernunft setzt sich, wie schon Freud wusste, in der Geschichte der Menschen, wenn überhaupt, dann sehr langfristig durch. Gute Theorie kann durch Interpretation und Kritik dessen, was als selbstverständlich und notwendig ausgegeben wird, den Gang der Unvernunft und die Kämpfe gegen sie sichtbar machen. Die Welt wird von machtvollen Interessen dauernd in ihrem Sinn verändert. Es kömmt darauf an, das auch als gemacht zu verstehen und so den Möglichkeitssinn zu schärfen.

© links-netz September 2003